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"Höhere Gewalt" und Auswirkungen auf die internationale Geschäftsabwicklung

Die Auswirkungen von unvorhersehbaren schadensverursachenden Ereignissen, wie die Corona-Pandemie, das Hochwasser in West- und Mitteleuropa und der militärische Konflikt in der Ukraine zeigen mit besonderer Deutlichkeit: Unternehmen müssen sich mit den Störungen der Geschäftsbeziehung (Spät- oder Nichtlieferung, Zahlungsausfälle oder -verzögerungen) und den Rechtsfolgen im Rahmen internationaler Verträge auseinandersetzen.

1. Begriff der „Höheren Gewalt“ und Rechtsfolgen

In den letzten Jahren hat der Begriff „höhere Gewalt“ (auch: „Force Majeure“) und deren Konsequenzen enorm an Bedeutung gewonnen.
Doch was ist eigentlich unter dem vielfach benutzen Begriff zu verstehen?
International gibt es keinen einheitlichen Begriff der „höheren Gewalt“ und deren Rechtsfolgen. Der Begriff „höhere Gewalt“ wird im deutschen Recht nicht definiert. Der Bundesgerichtshof versteht darunter ein „von außen kommendes, keinen betrieblichen Zusammenhang aufweisendes und auch durch die äußerste vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht abwendbares Ereignis“ (BGH, Urt. v. 16.05.2017, Az. X ZR 142/15).
Kurzum: „Höhere Gewalt“ erfordert ein von außen kommendes, unabwendbares und von den Parteien nicht zu vertretendes Ereignis. Unter dem Begriff können als unvorhersehbare Ereignisse – vorbehaltlich einer Prüfung im Einzelfall - zum Beispiel Krieg, Naturkatastrophen oder Pandemien fallen. 
Sinnvoll ist es zunächst einmal in den Vertrag beziehungsweise in Allgemeine Geschäftsbedingungen zu schauen, ob diese ausdrückliche Regelungen enthalten. Gerade in Lieferverträgen finden sich regelmäßig Klauseln mit Auflistungen von Ereignissen, die als „höhere Gewalt“ anzusehen sind.
Eine Rolle spielt bei der Beurteilung von „höherer Gewalt“ auch, ob der Vertrag vor oder erst bei Vorhandensein des Ereignisses geschlossen wurde. Schwieriger wird die Beurteilung nämlich für Vertragsbeziehungen, die während einer Pandemie oder eines militärischen Konflikts geschlossen werden. Hier kann es an der erforderlichen „Unvorhersehbarkeit“ des Ereignisses fehlen und somit eine Qualifikation als Akt „höherer Gewalt“ ausscheiden.
Ist keine vertragliche Abrede zum Begriff „höhere Gewalt“ vorhanden, können auf die Vertragsmaterie internationale Abkommen mit eigenen (ergänzend) anwendbaren Regelungen gelten. So findet sich zum Beispiel im Bereich des internationalen Warenkaufs (UN-Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf; auch „CISG“) eine einheitsrechtliche Regelung, die auch Ereignisse der „höheren Gewalt“ umfassen kann. Besteht auch kein anwendbares internationales Abkommen, ist das anwendbare Recht zu ermitteln.

2. Lieferbeziehungen im internationalen Warenverkehr nach UN-Kaufrecht

Die Lieferbeziehungen im internationalen Warenverkehr sind durch die aktuellen Ereignisse besonders betroffen. Ist das UN-Kaufrecht auf den Vertrag anwendbar, sind die Regeln des CISG (ergänzend) zu beachten
Erfüllt der Lieferant seine Vertragspflicht nicht, kann insbesondere der Käufer Erfüllung verlangen (Art. 46 Abs. 1 CISG), nach angemessener Fristsetzung vom Vertrag zurücktreten (Art. 47 in Verbindung mit Art. 49 CISG) und daneben Schadensersatz nach Art. 74 ff. CISG geltend machen (Art. 45 Abs. 2 CISG).
Befreiung von der Schadensersatzpflicht
Der Verkäufer trägt im UN-Kaufrecht grundsätzlich das Beschaffungsrisiko auch in Bezug auf die Lieferfähigkeit seiner Zulieferbetriebe. Dennoch muss der Schuldner nach Art. 79 Abs. 1 CISG für eine Nichterfüllung eine seiner Vertragspflichten (zum Beispiel Nichtlieferung) dann nicht einstehen, wenn er beweist, dass
  • die Nichterfüllung auf einem außerhalb seines Einflussbereichs liegenden Hinderungsgrundes beruht, 
  • er mit diesem bei Vertragsschluss nicht rechnen musste und 
  • er keine Verpflichtung zur Vermeidung oder Überwindung hat.
Als Hinderungsgründe werden danach auch Fälle höherer Gewalt angesehen.
Der Verkäufer kann zum Beispiel dann nach Art. 79 CISG entlastet sein, wenn etwa die geschuldete Ware aufgrund unvorhergesehener Ereignisse gar nicht mehr oder nur noch zu ganz unverhältnismäßigen Kosten zu erhalten ist (siehe zur deutschen Rechtsprechung zum Beispiel OLG Düsseldorf, Urteil v. 04.07.2019 – 6 U 2/19).
Insbesondere Pandemien, Naturereignisse sowie staatliche Maßnahmen können höhere Gewalt im Sinne der Vorschrift darstellen.
Die Entlastungsmöglichkeit des Käufers nach Art. 79 CISG dürfte jedoch nur hinsichtlich der Abnahmepflicht und etwaigen weiteren Mitwirkungspflichten des Käufers gelten. So könnte es dem Käufer zum Beispiel vorübergehend aufgrund von Grenzschließungen, Einstellung von Flügen oder Betriebsschließungen im Rahmen der Pandemie unmöglich sein, die Ware abzuholen, falls dies vertraglich vereinbart sein sollte.  
Die vorgenannte Befreiung von Schadensersatzansprüchen gilt jeweils für die Zeit, während der der Hinderungsgrund besteht (Art. 79 Abs. 3 CISG) und nur für die konkrete Pflicht, die der Schuldner nicht erfüllen kann.
Erforderlich ist immer eine Prüfung im Einzelfall, ob das konkrete Ereignis höhere Gewalt im Sinne der Norm darstellt.
Mitteilungspflicht
Zu berücksichtigen ist weiter, 
  • dass der Schuldner seinen Vertragspartner innerhalb einer angemessenen Frist über den Hinderungsgrund und seine Auswirkungen auf die Vertragserfüllung informieren muss, 
  • dass die Mitteilung inhaltlich präzise ist, unter anderem in Bezug auf Art, Umfang und voraussichtliche Dauer des Hindernisses, um der anderen Partei die Möglichkeit zu geben, selbst Abhilfemaßnahmen zu treffen, 
  • auch wenn die Mitteilung grundsätzlich formfrei möglich ist, dass der Schuldner in jedem Fall eine Form wählen sollte, bei der er den Zugang nachweisen kann. Unterlässt er nämlich die Anzeige oder kann den Zugang nicht beweisen, verliert er zwar nicht sein Recht, sich auf Befreiung zu berufen, macht sich aber unter Umständen schadensersatzpflichtig. Anders kann es sich aber verhalten, wenn der Vertragspartner den Hinderungsgrund ohnehin kannte. Jedoch empfiehlt es sich dennoch eine entsprechende Mitteilung zu versenden.
Praxistipp
Für den Fall, dass die Anwendbarkeit deutschen Rechts vereinbart wurde, wird das CISG häufig in Verträgen ausgeschlossen. In diesem Fall scheidet die Anwendung des Art.79 CISG aus. 
In der Praxis empfiehlt es sich bereits im Rahmen der Vertragsanbahnung die Vor- und Nachteile der Anwendung des CISG abzuwägen, bevor dieses in einem Vertrag ausgeschlossen wird. Mit dem CISG einhergehende Nachteile können im Rahmen des gesetzlich Zulässigen durchaus durch vertragliche Regelungen abgemildert oder sogar ausgeschlossen werden. Eine vertragliche Force-Majeure-Klausel könnte zum Beispiel die Anforderungen des Art. 79 CISG präzisieren.
In einem gesonderten Artikel hat die IHK Düsseldorf ausführliche Informationen zum UN-Kaufrecht zusammengestellt. 

Ebenfalls enthält die Webseite der Vereinten Nationen Informationen zum UN-Kaufrecht und die “Rechtsprechungsdatenbank” ermöglicht eine praxisnahe Suche. 

3. Länderspezifische Informationen zur „höheren Gewalt“

Ist kein Abkommen anwendbar und wurde keine Rechtswahl im Vertrag getroffen, ist das anwendbare Recht zu ermitteln. Sowohl der Begriff „höhere Gewalt“, als auch die denkbaren Rechtsfolgen können in den nationalen Rechtsordnungen sehr unterschiedlich sein und führen nicht automatisch zur Befreiung von Leistungspflichten, Vertragsbeendigung oder Zahlungsaufschub.
Es bedarf daher stets einer Prüfung anhand des konkreten Einzelfalls.
Länderspezifische Informationen zu “Corona und Verträge” hat die Germany Trade and Invest GmbH („GTAI“) auf ihrer Webseite zusammengestellt. Stichwort: Themenspecial. 

4. Rechtslage in Deutschland

Richtet sich der internationale Vertrag nach deutschem Recht, ist zu berücksichtigen, dass es im deutschen Recht keinen definierten Begriff der „höheren Gewalt“ gibt und dieser vielmehr durch die Rechtsprechung definiert wurde. 
In Bezug auf die Rechtsfolgen bleibt es bei den gesetzlichen Bestimmungen wie zur “Unmöglichkeit der Leistung” sowie der nachrangigen Geltung der Störung beziehungsweise des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, wenn vertraglich nichts anderes geregelt ist.
Unter dem Begriff „Unmöglichkeit“ sieht das deutsche Recht eine Leistungsbefreiung nach § 275 Abs. 1 BGB vor, wenn die Erbringung der geschuldeten Leistung für den Schuldner oder jedermann absolut nicht möglich ist und der Schuldner die Leistungspflicht nicht erfüllen könnte, selbst wenn er dies wollte.
Die Pflicht zur Gegenleistung (Kaufpreiszahlung) entfällt dann für den Gläubiger (§ 326 BGB). Die Fälle der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit entsprechen hier im Wesentlichen solchen für „höhere Gewalt“. Hierunter können im Einzelfall zum Beispiel die Unmöglichkeit in Folge gesetzlicher Verbote, Zerstörung von Betriebsstätten oder rechtlicher Embargos fallen.
Im Rahmen der Vertragsfreiheit können sich die Parteien auch auf Vertragsklauseln oder Regeln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen („AGB“), wie etwa in Liefer- und Einkaufsbedingungen einigen, die den Begriff der „höheren Gewalt“ sowie der rechtlichen Konsequenzen im Falle deren Eintritts definieren.
Einzelvertraglich können derartige Konsequenzen in der Regel bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit und des Gesetzesverstoßes vereinbart werden. In AGB sind derartige Regelungen indes nur wirksam, wenn sie einer Inhaltskontrolle nach dem Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen standhalten. 

5. ICC Force Majeure and Hardship Clauses 2020

Die International Chamber of Commerce („ICC“) hat Mitte 2020 die Muster- ICC Force Majeure Klausel aktualisiert. Die ICC weist darauf hin, dass Vertragspartner mit der Aufnahme der Klausel vereinbaren können, dass in Fällen „höherer Gewalt“ die Inanspruchnahmen aus Verpflichtungen entfallen.
Eine kürzere, vereinfachte Fassung richtet sich insbesondere an kleinere und mittelständische Unternehmen. 
Ausführliche Informationen stehen hier bereit: 

6. „Force Majeure“ – Zertifikate in China

Die chinesischen Außenhandelskammern (CCPIT, China Council for the Promotion of International Trade) und chinesische Industrieverbände sind ermächtigt, sogenannte „Force Majeure-Zertifikate“ auszustellen.
Der CCPIT bietet hier eine Online-Plattform in chinesischer Sprache an, auf der Unternehmen unter Vorlage von Dokumenten (zum Beispiel Mitteilungen von lokalen Regierungen, Bescheinigungen über Verzögerungen oder Ausfall von See-, Land- oder Luftverkehr, sowie relevante Verträge) eine solche Bestätigung beantragen können.
Diese Möglichkeit besteht grundsätzlich nur für Firmen mit Sitz in China, also auch für Lieferanten und Niederlassungen deutscher Unternehmen in China, nicht aber für Unternehmen, die ihren Firmensitz außerhalb Chinas haben. Die chinesischen Force Majeure-Zertifikate bilden in erster Linie eine Grundlage für Verhandlungen mit dem Kunden. Sie haben Indiz-Wirkung, begründen aber nicht von sich aus einen Fall „höherer Gewalt“.
Chinesische Gerichte haben in der Vergangenheit den Begriff „höhere Gewalt“ sehr großzügig interpretiert und mitunter sogar (teilweise selbstverschuldete) Zahlungsprobleme als „höhere Gewalt“ gesehen.

7. Praxistipps für die Vertragsgestaltung

Ob die Berufung auf „höhere Gewalt“ durch einen Vertragspartner zu Recht erfolgt ist, ist jeweils im Einzelfall zu prüfen und kann mithin nicht pauschal beantwortet werden.
Bei drohenden oder eingetretenen Störungen des Vertragsverhältnisses, wie zum Beispiel Lieferausfällen infolge der Coronavirus-Maßnahmen oder eines militärischen Konflikts ist es für die Vertragsparteien ratsam – unter Berücksichtigung der jeweils vereinbarten Vertragsklauseln und anwendbaren gesetzlichen Regelungen - zunächst zu einer einvernehmlichen – für beide Vertragsparteien tragbaren – Lösung zu kommen, die einen Gang vor ein Gericht ersparen könnte. Dabei kann es sich zum Beispiel um eine Verlängerung von Fristen für die Erfüllung vertraglicher Pflichten, Zahlungsaufschub, Ratenzahlungen und Nichtanwendung von Vertragsstrafen oder Vertragsauflösung handeln.
Für künftige Verträge ist bereits bei der Vertragsanbahnung wichtig, dass die Vertragsparteien ihre rechtliche Situation sorgfältig prüfen sowie durch entsprechende klare Vertragsklauseln Vorsorge treffen. Es kann ratsam sein, in einem internationalen Vertrag – unter Beachtung des jeweils rechtlich Zulässigen – insbesondere eine Definition zur „höheren Gewalt“ mit einem abschließenden Katalog von Ereignissen zu regeln, wie zum Beispiel Pandemien, Kriege oder Naturkatastrophen sowie anderer unvorhersehbarer und unverschuldeter Situationen, damit es später nicht zu Auslegungsschwierigkeiten kommen kann.
Es sollten dann auch die konkreten (rechtlichen) Konsequenzen im Falle des Eintritts der „höheren Gewalt“ geregelt werden, wie zum Beispiel: 
  • Mitteilungspflichten, deren Form und Fristen, 
  • vorübergehende oder dauerhafte Leistungsverweigerung,
  • Vertragsauflösung oder -anpassung,
  • Einschränkung der Haftung, Schadensersatz sowie
  • Kündigungs- oder Rücktrittsrechte. 
Eine Rechtswahl- und Gerichtsstandklausel sollten die Parteien ebenfalls vereinbaren. 
In die Überlegungen können die Vertragsparteien auch mit einfließen lassen, ob es für sie gute Gründe geben könnte, auf bestehende Musterklauseln, wie zum Beispiel der ICC zurückzugreifen.
Aufgrund der komplexen Rechtslage bei internationalen Verträgen ist die Hinzuziehung eines Rechtsbeistands empfehlenswert, insbesondere auch, damit es nicht zu für die Vertragsparteien nachteiligen Versäumnissen, wie zum Beispiel dem Verstreichen von Fristen kommen kann.
Letzte Aktualisierung/Ergänzung: 2. Mai 2022