20. Juni 2023

Diskussionspapier „Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten”

Der Fachkräftebedarf in Hessen ist groß. Allein die Zahl der den hessischen Agenturen für Arbeit gemeldeten offenen Arbeitsstellen liegt aktuell bei knapp 50.000. Regionen- und branchenübergreifend werden ausgebildete Arbeitskräfte gesucht, die Vakanzzeiten von zu besetzenden Stellen steigen signifikant. Es besteht kein Zweifel, dass die Verfügbarkeit von Fachkräften längst die wirtschaftliche Entwicklung bremst und nachhaltige Wohlstandsverluste drohen. Um an dieser Stelle gegenzusteuern, ist es aus unserer Sicht wichtig, auf alle wirksamen Stellhebel zu schauen und alle Potenziale zu heben – inländische, aber auch ausländische.
Der Sachverständigenrat der Bundesregierung erklärt in seinem Jahresgutachten 2022/23, dass neben einer Erhöhung des inländischen Erwerbspersonenpotenzials durch steigende Erwerbsquoten eine jährliche Nettozuwanderung von circa 400.000 Personen nötig sei, um den demografischen Effekt auf den Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren einigermaßen auszugleichen.
Gleichzeitig suchen jährlich über 100.000 Menschen Asyl in Deutschland und nehmen dafür teils lebensgefährliche Zugangsrouten auf sich. Die Ablehnungsquoten für Asylanträge von Personen, die Deutschland erfolgreich erreicht haben, lagen dabei bis 2022 regelmäßig bei über 50 Prozent (eine Vollanerkennung als Flüchtling, die im Allgemeinen mit einer besseren Bleibeperspektive einhergeht, erhalten im Schnitt nur circa 20 Prozent der Antragsstellenden). Für einen Anteil der Geflüchteten wäre auch der Zugang nach Deutschland als potenzielle Arbeitskraft denkbar, sodass auf unsichere Zugangswege verzichtet werden könnte. Ein optimierter Prozess der Fachkräfteeinwanderung könnte daher auch für potenziell Flüchtende realistische Alternativen zur Flucht aufzeigen.
Um Deutschlands Attraktivität als Zielland für Arbeitskräfte aus Drittstaaten zu erhöhen und die Einwanderung als Arbeitskraft als Alternative zur Asylsuche zu platzieren, ist ein vereinfachter Arbeitsmarktzugang in Verbindung mit erleichterten Verfahren für die Erteilung von Visa und die Anerkennung der Qualifikationen zentral. Aus unserer Sicht sind dafür folgende Aspekte besonders relevant:

1) Vereinfachte und transparente Prozesse

Aktuell bestehen vielfältige Möglichkeiten für die Fachkräfteeinwanderung, für die verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Alte Regelungen werden oftmals um neue ergänzt, welche noch mehr Bürokratie und Komplexität nach sich ziehen. Dies hat zur Folge, dass selbst Mitarbeitende in Behörden zunehmend Probleme bei der Umsetzung bekommen. Es ist daher dringend geboten, die Zugangsmöglichkeiten und -voraussetzungen zu verschlanken, um den Verwaltungsprozess dadurch besser administrierbar zu gestalten. Diese Komplexitätsreduktion würde maßgeblich dazu beitragen, dass sowohl Mitarbeiterende in Behörden als auch potenzielle Arbeitskräfte die Prozesse und Zugangswege besser nachvollziehen können. Ferner sollten ausländerrechtliche Aufgaben für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in zentralen Ausländerbehörden gebündelt werden, um ausreichend Personalressource für die komplexe Rechtsmaterie vorzuhalten. Ergänzt werden sollte dies um stärker digitalisierte Prozesse.

2) Einheitliche Sprachkenntnisse als zentrale Basis

Sprache ist der Schlüssel für den erfolgreichen Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sowie zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration. Aus diesem Grund sollten im Heimatland ausreichend deutsche Sprachkurse angeboten werden, um interessierten Fachkräften möglichst schon vor Start in Deutschland ein notwendiges Sprachniveau zu vermitteln. Für alle Zugangswege, die ein Sprachniveau voraussetzen, sollte dies einheitlich gestaltet sein (beispielsweise B1), um Komplexität zu reduzieren. Zudem ist es unabdingbar, dass ausreichende Kurse im Inland zur Verfügung stehen, dass Sprachkenntnisse bei Arbeitskräften vor Ort nachgeholt werden können.

3) Mehr Verantwortung für Betriebe bei Einschätzung notwendiger Fähigkeiten

Die Beurteilung von notwendigen Kompetenzen für den Arbeitseinsatz sollte stärker in der Entscheidungsfreiheit von Betrieben liegen, die Fachkräfte einstellen. Partielle Anerkennungen bzw. eine vollständige Abschaffung des Gleichwertigkeitsnachweises könnte ein zentraler Hebel sein, um die Erwerbsmigration zu erleichtern. Die Entscheidung, ob ein Bewerber die benötigten Fähigkeiten für den ausgeschriebenen Beruf mitbringt oder nicht muss bei den Betrieben liegen und nicht bei den Behörden. Die Westbalkanregelung ist in diesem Kontext als positives Beispiel zu sehen.
Diese Zunahme an Freiheit bedeutet im Umkehrschluss aber auch eine stärkere Verantwortung der Unternehmen, wenn es um die Sicherstellung von guten Arbeitsbedingungen und gelungener Integration geht. Konsens ist, dass es keine „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ geben darf. So muss das Unternehmen im Zweifelsfall auch dafür Sorge tragen, dass die Kosten im Fall eines gescheiterten Arbeitsverhältnisses nicht von der Allgemeinheit übernommen werden muss.

Exkurs: „Reallabore“ ermöglichen

Um die tatsächliche Tragfähigkeit von Konzepten zur Arbeitsmarktintegration zu testen, plädieren wir für den Einsatz von „Reallaboren“. Konkret würde das bedeuten, dass beispielsweise in einem Landkreis im Kleinen ausprobiert werden würde, wie erfolgreich die Integration in den Arbeitsmarkt der vor Ort ansässigen Menschen mit Fluchthintergrund funktionieren würde, wenn man ein vereinfachtes Verfahren (beispielsweise intensive Deutsch-Kurse plus Kompetenzfeststellung) zum Einsatz bringen würde. Aus den Ergebnissen ließe sich im Idealfall ableiten, wie viele der aktuell im Land befindlichen Menschen mit Fluchthintergrund grundsätzlich in der Lage wären, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.
Für diese Idee benötigt es jedoch politischer Rückendeckung auf Kreis-, Landes- und Bundesebene, ohne die das Vorhaben aufgrund der aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht gelingen würde. Wir loten deshalb bei politischen Akteuren die Bereitschaft aus, sich auf Landes- und Bundesebene für die Ermöglichung entsprechender Modellversuche einzusetzen.