Kündigung wegen Krankheit - ohne betriebliches Eingliederungsmanagement?
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin (LAG Berlin, Urteil vom 27.10.2005, Aktenzeichen 10 Sa 783/05) legt dar, welche kündigungsrechtlichen Auswirkungen ein unterlassenes Eingliederungsmanagement beim Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung hat. Diese Rechtsprechung wurde vom Bundesarbeitsgericht (BAG) bestätigt (Urteil des BAG vom 12.07.2007, Aktenzeichen 2 AZR 716/06).
- Einführung
- Der Fall
- Die Entscheidung
- Leitsätze der Entscheidung des LAG Berlin
- Die Bedeutung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements für den Kündigungsschutz
- Praktische Bedeutung für den Arbeitgeber
- Tipps für den Arbeitgeber bei Einführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements
- Checkliste für die Durchführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM):
Einführung
Krankheit zählt zu den wichtigsten Beschäftigungshindernissen. Daher hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. Mai 2004 den § 84 Absatz 2 Sozialgesetzbuch, 9. Buch (SGB IX) neu gefasst: Ist ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres mehr als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, hat der Arbeitgeber ein Verfahren durchzuführen, welches im Gesetz als „Betriebliches Eingliederungsmanagement” bezeichnet wird. Aus § 84 Absatz 2 SGB IX lässt sich konkretisieren, was Ziel des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) ist. Danach hat der Arbeitgeber zu klären, „wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann”.
Der Fall
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung. Der schwerbehinderte Kläger ist seit 1990 als Registrator/Zuarbeiter beschäftigt. Seit Januar 2001 ist er arbeitsunfähig krank. Die personalärztliche Untersuchung im Januar 2004 kam zu dem Ergebnis, dass weitere körperliche Einschränkungen bei dem Kläger für die bisherige Tätigkeit bestünden, jedoch Arbeitsfähigkeit für einen leidensgerechten ausgestalteten Arbeitsplatz als Pförtner zu attestieren sei. Die Beklagte lehnte den Einsatz des Klägers als Pförtner wegen organisatorischen Schwierigkeiten ab und kündigt das Arbeitsverhältnis nach erfolgter Zustimmung des Integrationsamtes im September 2004 fristgerecht krankheitsbedingt. Ein Eingliederungsmanagement nach § 84 Absatz 2 SGB IX hat die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung nicht durchgeführt.
Die Entscheidung
Die Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers hatte vor dem Landesarbeitsgericht Erfolg. Die Kündigung sei unter Zugrundelegung der bei krankheitsbedingter Kündigung vorzunehmenden dreistufigen Prüfung sozial nicht gerechtfertigt. Eine krankheitsbedingte Kündigung müsse in drei Stufen geprüft werden (so auch die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts).
In der ersten Stufe muss zunächst eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit vorliegen. Auf der zweiten Stufe muss eine diesbezügliche erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen festzustellen sein. In der dritten Stufe müssen die betriebliche Beeinträchtigungen zu einer billigerweise nicht mehr hinzunehmenden Belastung des Arbeitgebers führen.
Das LAG Berlin führt aus, dass eine Kündigung als „ultima ratio” (letztes Mittel) nur dann zulässig sei, wenn der Arbeitgeber alle zumutbaren Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung ausgeschöpft und geprüft habe, ob und in welchem Umfang er Überbrückungsmaßnahmen einleiten könne, um den Ausfall des langzeiterkrankten Arbeitnehmers aufzufangen. Die Nichtdurchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Absatz 2 SGB IX bedeute in diesem Zusammenhang zwar nicht gleich die Unwirksamkeit der Kündigung. D. h. das betriebliche Eingliederungsmanagement sei keine formelle Voraussetzung für die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung. Allerdings ist das LAG Berlin die Ansicht, dass das unterlassene Eingliederungsmanagement im Rahmen der Interessenabwägung bei der Wirksamkeitsprüfung der krankheitsbedingten Kündigung zu berücksichtigen sei.
Das Gericht stellt daher in seiner Urteilsbegründung fest, dass der Arbeitgeber die Möglichkeiten eines Einsatzes des Klägers auf einem leidensgerecht umgestalteten Arbeitsplatz als Pförtner nicht hinreichend vor Ausspruch der Kündigung geprüft habe. Die Kündigung sei nicht letztes Mittel gewesen und daher unwirksam.
Leitsätze der Entscheidung des LAG Berlin
- Das Betriebliche Eingliederungsmanagement ist keine formelle Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Kündigung.
Falls der Arbeitgeber vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung entgegen seiner Verpflichtung aus § 84 Absatz 2 SGB IX kein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt hat, führt dies nicht per se zur Unwirksamkeit der Kündigung. - Das Betriebliche Eingliederungsmanagement konkretisiert und verstärkt das dem Kündigungsschutzrecht innewohnende ultima-ratio-Prinzip. Dieses Prinzip erfordert eine gründliche Prüfung der Einsatzmöglichkeiten des Beschäftigten.
Die Nichtvornahme des betrieblichen Eingliederungsmanagements ist im Rahmen der Interessenabwägung bei der Prüfung der Wirksamkeit der krankheitsbedingten Kündigung zu berücksichtigen. Mit den Maßgaben des § 84 Absatz 2 SBG IX wird für den Fall der krankheitsbedingten Kündigung das dem Kündigungsschutzrecht ohnehin innewohnende ultima-ratio-Prinzip verstärkend konkretisiert.
Die Bedeutung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements für den Kündigungsschutz
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement führt zu einer Stärkung des Kündigungsschutzes im Krankheitsfall. Nach der Rechtsprechung ist das Eingliederungsmanagement zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement konkretisiert und erhöht die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers im Kündigungsschutzverfahren. Dies hat entsprechende Auswirkungen auf die Erfolgsaussichten von Kündigungsschutzklagen.
Kommt der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements nicht nach, darf er nicht pauschal behaupten, es bestünden keine alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten. Der Arbeitgeber muss vielmehr umfassend und konkret vortragen, warum auf dem bisherigen Arbeitsplatz keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr besteht, eine leidensgerechte Anpassung des Arbeitsplatzes ausgeschlossen, ein alternativer Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit nicht verfügbar und Kündigung somit unvermeidbar ist.
Praktische Bedeutung für den Arbeitgeber
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement ist eine Aufgabe des Arbeitgebers. Ziel des Betrieblichen Eingliederungsmanagements ist es, Arbeitsunfähigkeit möglichst zu überwinden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und den Arbeitsplatz des betroffenen Beschäftigten zu erhalten. Es handelt sich hierbei im weiteren Sinne um ein „betriebliches Gesundheitsmanagement” zum Schutz der Gesundheit der Belegschaft.
Nach § 84 Absatz 2 SGB IX ist der Arbeitgeber verpflichtet, für Beschäftigte, die innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen arbeitsunfähig sind, ein Betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen. Ob die Arbeitsunfähigkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz steht, spielt dabei keine Rolle. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement setzt alle Maßnahmen ein, die geeignet sind, die Arbeitsunfähigkeit zu beenden und den Beschäftigten mit gesundheitlichen Problemen oder Behinderung dauerhaft auf einem geeigneten Arbeitsplatz einzusetzen.
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement ist eine Teamaufgabe. Der Arbeitgeber nimmt zunächst Kontakt mit dem betroffenen Arbeitnehmer auf, um mit ihm die Situation zu klären und die Ziele des Betrieblichen Eingliederungsmanagements zu besprechen. Mit Zustimmung des Betroffenen schaltet der Arbeitgeber den Betriebsrat und bei schwerbehinderten Menschen die Schwerbehindertenvertretung sowie bei Bedarf den Betriebsarzt ein und klärt mit ihnen, mit welchen Hilfen eine schnelle Rückkehr in den Betrieb oder die Dienststelle möglich ist. Als externe Partner kann der Arbeitgeber die Rentenversicherungsträger, die Berufsgenossenschaften, die Krankenkassen, den Unfallversicherungsträger, die Agentur für Arbeit und bei schwerbehinderten Menschen das Integrationsamt und den Integrationsfachdienst hinzuziehen.
Tipps für den Arbeitgeber bei Einführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements
Das in § 84 Absatz 2 SGB IX normierte Betriebliche Eingliederungsmanagement ist ein spezielles Verfahren, mit dem die Ziele der Prävention wirksam gefördert werden sollen.
Bei der Einführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements geht es um eine für die Beteiligten verbindliche Vorgehensweise, die sich an den betrieblichen Gegebenheiten orientiert und die dann im Einzelfall Anwendung findet. Das Konzept für ein Betriebliches Eingliederungsmanagement wird in einem Großbetrieb anders aussehen als in einem kleinen Betrieb. Krankenrückkehrgespräche erfüllen die Anforderungen jedoch nicht.
Es bestehen Mindestanforderungen an ein Betriebliches Eingliederungsmanagement. Zur inhaltlichen Orientierung eignet sich das 5-Phasen-System. Danach wird folgendes benötigt:
- ein System zum Erkennen von Problemen (Frühwarnsystem)
- Instrumente der Erfassung und Spezifizierung von Daten
- Schaltstelle im Unternehmen für die Verarbeitung, Entscheidung und Umsetzung
- Umsetzung konkreter Maßnahmen
- Dokumentation und Evaluierung.
Um die Situation zu bestimmen, sollte die Prüfliste für das Integrationsteam, zum Beispiel folgende Fragen beinhalten:
- Seit wann ist der Mitarbeiter erkrankt?
- In welcher Form treten die Fehlzeiten auf? (langandauernd, häufige Kurzerkrankungen)
- Liegt eine Schwerbehinderung oder eine Gleichstellung vor?
- Findet eine kontinuierliche ärztliche Betreuung statt?
- Besteht ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung und dem Arbeitsplatz?
- Sind medizinische Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt worden oder geplant?
- Liegen bezogen auf den Arbeitsplatz ein Anforderungs- und ein Fähigkeitsprofil vor?
- Kann die technische Ausstattung des Arbeitsplatzes optimiert werden?
- Können die Arbeitsbelastungen minimiert werden, zum Beispiel durch organisatorische Veränderungen oder durch technische Verbesserungen?
- Gibt es geeignetere Einsatzmöglichkeiten für den Betroffenen?
- Gibt es Qualifizierungsbedarf?
Es empfiehlt sich, die getroffenen Regelungen in einer Integrationsvereinbarung festzuhalten. Für die Einführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements können Arbeitgeber von den Rehabilitationsträgern oder dem Integrationsamt eine Prämie oder einen Bonus erhalten.
Checkliste für die Durchführung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM):
- Feststellung der Erkrankung eines Mitarbeiters für mehr als sechs Wochen und Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für ein BEM
- Kontaktaufnahme mit dem erkrankten Mitarbeiter. Erstgespräch und Aufklärung über Ziele des BEM sowie über Art und Umfang der hierfür erhobenen und notwendigen Daten.
- Mitarbeiter erklärt schriftlich seine Zustimmung zum BEM oder lehnt dieses ab.
- Bei Zustimmung Fallbesprechung und Situationsanalyse mit internen oder externen Beratern mit dem Ziel der Erstellung eines Maßnahmenplans
- Konkreten Maßnahmenplan schriftlich fixieren (Unterscheidung zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Maßnahmen) sowie Kontrolle der Maßnahmen verabreden und Zustimmung des Betroffenen einholen
- Zeitnahe Umsetzung der Maßnahmen, Begleitung des Betroffenen und notwendige Korrekturen vornehmen.
- Auswertung der Dokumentation und abschließende Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahme.
Stand: August 2021