Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit


Empfänger
Sächsisches Staatsministerium der Justiz
Bundesministerium der Justiz
25.06.2025
Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit (OVErpG)

Sehr geehrte Damen und Herren,
die Sächsischen Industrie- und Handelskammern bedanken sich für die Möglichkeit, zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit (OVErpG) Stellung nehmen zu können.

Das vom Bundesministerium der Justiz beauftragte Forschungskuratorium zur Untersuchung des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten[1] hat in seinem am 21. April 2023 veröffentlichten Abschlussbericht festgehalten, dass die Eingangszahlen bei den Amtsgerichten im Untersuchungszeitraum zwischen 2005 und 2019 anteilig rund 36,1 Prozent zurückgingen[2] und sich dieser Trend weiter fortsetzt.[3] Dabei kam die Untersuchung zu dem Schluss, dass dieser Rückgang nicht mit einem verringerten Bedarf an Streitbeilegung begründet werden kann, sondern vielmehr in einer differenzierten Gemengelage anderer Gründe und Ursachen begründet liegt.[4] Positiv hervorzuheben ist dabei u.a. ein zunehmend professionalisiertes sowie kulantes Schadens- und Konfliktmanagement der Unternehmerschaft, das zumindest gerichtliche Auseinandersetzungen vermeidet.[5] Dem gegenüber konstatiert der Bericht aber auch einen Handlungsbedarf für eine „…bundeseinheitliche Gestaltung justizieller Abläufe und Strukturen auf der Höhe der Zeit.“[6] Dieser Bedarf besteht insbesondere bei Individualstreitigkeiten von geringem Wert.[7]
Vor diesem Hintergrund ist die Zielsetzung des Referentenentwurfs zum OVErpG zunächst ausdrücklich zu begrüßen. Um den geschilderten Bedarf an effektiverer Rechtsverfolgung auch im Angesicht einer sich stetig weiterentwickelnden Digitalgesellschaft zu gewährleisten, muss ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden, in dem es der Justiz gestattet wird, zukunftsfähige Modelle der Verfahrensabwicklung zu entwickeln. Gerade bei kleineren Geldforderungen erscheint eine digital fokussierte Abwicklung des Verfahrens geboten, da die Frage nach der Effektivität des Rechtsschutzes insbesondere bei geringen Streitwerten essenziell ist.[8] Dabei ist außerdem zu erwähnen, dass es grundsätzlich im Interesse der Unternehmerschaft liegt, wenn rechtliche Streitigkeiten von geringem Wert schnell, günstig und komfortabel einem Rechtsfrieden zugeführt werden können.

Die Entwicklung und Erprobung des Onlineverfahrens ist dabei eng mit dem Gesetzesvorhaben zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik verknüpft, für das der Vermittlungsausschuss am 12.06.2024 einen Einigungsvorschlag[9] verabschiedet hat, welcher durch den Bundesrat am 14.06.2024 bereits gebilligt wurde. Im Zusammenspiel der beiden Gesetzesvorhaben ist in damit eine „Ende-zu-Ende-Digitalisierung“ der Verfahren möglich, selbst wenn eine Verhandlung veranlasst ist.[10] Durch den erneuerten Entwurf werden weitere Möglichkeiten zur Nutzung des online-Verfahren geschaffen. Mit dem neuen Abschnitt zur digitalen Rechtsantragstelle (§§ 1135, 1136 ZPO-E) wird ein zusätzlicher Zugang geschaffen, um Anträge auch außerhalb des Klageverfahrens digital zu stellen. Auch das streitige Verfahren nach der Einlegung des Widerspruches im Mahnverfahren gem. § 1124 Abs. 5 ZPO-E wurde mit aufgenommen, sodass der Anwendungsbereich der Nutzung des Online-Verfahrens auf eine besonders praxisrelevante Fallgruppe ausgeweitet wurde. Zu kritisieren ist in dieser Hinsicht aber weiterhin, dass es bei einer Vielzahl von Fällen – auch wenn diese schon im Rahmen der Erprobung gem. § 1122 Abs. 2 ZPO-E für rein digitale Verfahren in Betracht kommen – bei einer bloßen Möglichkeit bleiben dürfte, da die bisherige konkrete Ausgestaltung der digitalen Verfahren noch zu zaghaft ist. Der Gesetzgeber sollte sich im Hinblick auf die Digitalisierung der Zivilverfahren von Anfang an dazu bekennen, dass das Verfahren für geringe Streitwerte im Grundsatz digitalisiert und nur auf ausdrücklichen Wunsch der Parteien oder beim Vorliegen anderer triftiger Gründe teil-analog stattfindet. Bisher ist das – und auch nur im Ansatz – nur für die Forderungen aus Fluggastrechten (§ 1124 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 ZPO-E) und für solche Forderungen, für die dies durch Rechtsverordnung bestimmt wird (§ 1124 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 iVm. § 1131 Abs. 5 ZPO-E) der Fall. Das entspricht im Ergebnis schlicht nicht mehr dem Bedarf: Schon heute greifen Kanzleien und Gerichte auf Legal-Tech-Anwendungen zurück, um Massenverfahren strukturiert und zügig abzuarbeiten – dass jedoch stark eingeschränkt durch die derzeitigen Regelungen der ZPO.[11]
Der Entwurf sieht eine differenzierte Nutzungspflicht für die Kommunikationsplattform, insbesondere für anwaltlich vertretene Parteien, vor (§ 1133 ZPO-E). Diese Nutzungspflichten können im Hinblick auf die geforderten technischen Standards für Unternehmen ohne spezialisierte IT- oder Rechtsabteilungen eine Herausforderung darstellen. Die Einhaltung neuer Formate und Identifizierungsverfahren erfordert Schulung und Umstellung in den Arbeitsprozessen. Im Hinblick auf die unklare Langzeitstrategie, sollte frühzeitig im Rahmen der Evaluierungen über die dauerhafte Integration erfolgreicher Elemente in die ZPO diskutiert und diese umgesetzt werden, um die langfristige Planung und Investitionen für Unternehmen und auch die Justiz sicherzustellen.
Die erweiterten Möglichkeiten zur Durchführung des Verfahrens ohne mündliche Verhandlung (§ 1128 ZPO-E), zur digitalen Strukturierung des Streitstoffs (§ 1126 ZPO-E) und zur vereinfachten Beweisaufnahme (§ 1129 ZPO-E) tragen zu Entlastung der Gerichte bei. Gleichwohl bleibt der Entwurf auch hinter seinen Möglichkeiten zurück. Insbesondere der § 1128 ZPO-E sollte klarer formuliert sein (vgl. Anlage Ziff. 1 und 3). Hinsichtlich § 1129 ZPO-E ist es wichtig klarzustellen, dass das Gericht auch bei Beweismitteln wie beispielsweise nach § 411 Abs. 1 ZPO von einer gesetzlich vorgesehenen Form abweichen kann, um etwa Begutachtungen in Textform zuzulassen.
Durch die vorgesehene Absenkung der Verfahrensgebühren im Online-Verfahren (§ 1216, 1217 KV GKG-E) wird ein finanzieller Anreiz geschaffen, das digitale Verfahren zu nutzen. Dies fördert nicht nur die Akzeptanz, sondern auch die Effizienz der Justiz.
Die Evaluierungsvorgaben (§§ 1134, 1136 ZPO-E) sind im neuen Entwurf differenzierter und ermöglichen eine fundierte Bewertung der Wirksamkeit und Akzeptanz der digitalen Verfahren. Gleichwohl ist der gewählte Testzeitraum (10 Jahre) im Hinblick auf die Pflicht zur Führung einer gerichtlichen E-Akte ab 2026 zu lang und wirkt dem Ziel der Modernisierung und Digitalisierung der Justiz entgegen. Es sollte eine Straffung der Erprobungsphase und schnellere Evaluation (kürzere Intervalle) mit kurzfristigen Anpassungen/Erweiterungen des Nutzerkreises bzw. Verfahrensgegenstandes erfolgen. Konkret sollte darauf hingewirkt werden, dass ein Zivilprozess streitwertunabhängig vollständig digital für sämtliche mögliche Verfahrensbeteiligte durchgeführt werden kann. Gleichzeitig sollten die für sichere Übermittlungswege nach § 130a Absatz 4 Nr. 4 und 5 ZPO geschaffenen Bürger- und Organisationskonten zur Nutzung für sämtliche gerichts- und behördliche Kommunikation einheitlich nutzbar sein.
Weitere Erläuterungen im Einzelnen entnehmen Sie bitte der Anlage.
Anlage: Erläuterungen im Einzelnen
  1. Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung gem. § 1128 Abs. 1 S. 1 ZPO-E
Nach § 1128 Abs. 1 S. 1 ZPO-E kann in geeigneten Fällen das Gericht abweichend von § 128 Abs. 1 ZPO eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen. Satz 1 sollte jedoch besser lauten: „Das Gericht trifft in Verfahren dieses Abschnitts abweichend von § 128 Absatz 1 Entscheidungen grundsätzlich ohne mündliche Verhandlung.“
Begründung:
Das Online-Verfahren muss zur Vereinfachung und Beschleunigung im Grundsatz stringent digital und regelmäßig ohne mündliche Verhandlung durchgeführt werden, da sonst gerade der Vorteil der digitalen Verfahrensweise verloren geht, wenn wieder auf eine Verhandlung oder gar analoge Kommunikation zurückgefallen wird. Daher muss durch das Gesetz klargestellt werden, dass außerhalb der besonderen Fälle des § 1128 Abs. 1 S. 2 ZPO‑E[12] grundsätzlich eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht. Durch die Formulierung „grundsätzlich“ wird dabei klargestellt, dass eine digitale Abwicklung des Verfahrens erklärtes Ziel des Gesetzgebers ist und nur im bedarfsgerechten Einzelfall auf eine Verhandlung oder gar analoge Kommunikation zurückgegriffen wird.
2. Identifizierungspflicht gem. § 1132 Abs. 1 S. 1 ZPO-E
Die in § 1132 Abs. 1 S. 1 ZPO-E geregelte Identifizierungspflicht der Verfahrensbeteiligten bei Nutzung der digitalen Kommunikationsplattform ist zu streichen, sofern die vorzunehmende Eingabe oder die Einreichung eines Schriftsatzes nicht ohnehin mittels beA über einen Anwalt erfolgt. Es ist anzuraten, die Kommunikationsplattform mit einem einfachen Registrier- und Login-Verfahren auszustatten.
Begründung:
Auch heute findet keine Identitätsprüfung der Parteien statt, selbst nicht bei Verfahren nach § 495a ZPO. Es gibt also keinen Bedarf. Für die Förderung der Akzeptanz der Gerichte und eine Steigerung der Verfahrenszahlen muss zwingend ein niedrigschwelliges Angebot ohne formale Hindernisse erfolgen. Die Befürchtung, dass nicht verifizierbar ist, wer die Eingaben auf der Kommunikationsplattform vorgenommen hat, ist unbegründet. Soweit es das Regelverfahren betrifft, erfolgen die „Eingaben“ der Parteien durch (vorbereitenden) Schriftsatz. Die „nasse“ Unterschrift wird für die vorbereitenden Schriftsätze aber nicht zwingend gefordert, vgl. § 130 Nr. 6 ZPO.[13] Darüber hinaus sollte für die Eingaben auf er Kommunikationsplattform wie auch schon für vorbereitende Schriftsätze gelten, dass Zweifel über den Verfasser der Eingabe aufzuklären sind.[14]
3. Durchführung einer mündlichen Verhandlung gem. § 1128 Abs. 1 S. 2 ZPO-E
a.) Der § 1128 Abs. 1 S. 2 ZPO-E regelt Fälle, in denen das Gericht insbesondere einen Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen hat. Der Satz sollte aber besser lauten: „Abweichend von Satz 1 kann eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden, wenn die Beweisaufnahme dies erfordert oder beide Parteien einen Antrag hierauf stellen.“ Satz 3 ist zu streichen.
Begründung:
Die in § 1128 Abs. 1 S. 2 ZPO-E geregelten Nr. 1 – 3 liefern dem Gericht schlichtweg viel zu viel Spielraum, um von einem rein digitalen Verfahren wieder auf ein analoges Verfahren zurückzufallen – vor allem, weil die Formulierung „insbesondere“ es den Gerichten ermöglicht, Gründe außerhalb des Normkatalogs zu suchen. Auch wenn die formelle Prozessleitung letztlich beim Gericht liegt (§ 136 ZPO) sollte der Gesetzgeber hier von der Möglichkeit Gebrauch machen, von Anfang an klare Parameter für die Art und Weise des Verfahrens festzulegen. Freilich muss der Gesetzgeber den Parteien im Rahmen der Dispositionsmaxime die Möglichkeit einräumen das Verfahren nach ihrem Willen weiterhin mündlich und schließlich analog zu führen – nicht zuletzt, um eine Ungleichbehandlung weniger internetaffiner Rechtssuchender zu gewährleisten.[15] Diese Überlegungen des Einzelfalles sollten ihn aber nicht davon abhalten das Zivilverfahren im Grundsatz schon niederschwelliger, komfortabler und digitaler auszugestalten.
b.) Zudem regelt § 1128 Abs. 3 S. 1 ZPO-E, dass die vom Gericht bestimmten Termine zur Güteverhandlung und zur mündlichen Verhandlung als Videoverhandlung durchgeführt werden sollen. Der Satz sollte jedoch besser lauten: „Bestimmt das Gericht einen Termin zur Güteverhandlung oder zur mündlichen Verhandlung, so ist dieser als Videoverhandlung gem. § 128a ZPO durchzuführen.
Begründung:
Sofern das Verfahren als digitales Verfahren begonnen hat, ist es nur folgerichtig auch im weiteren Verlauf der Verhandlungen den Grundsatz gelten zu lassen, dass das Verfahren zunächst möglichst fernmündlich durchzuführen ist. Die Grenzen der Durchführung einer Videoverhandlung folgen schon aus der jüngeren Formulierung des § 128a ZPO,[16] sodass es insoweit einer aufgeweichten Regelung im § 1128 Abs. 3 Satz 1 ZPO-E nicht bedarf.
Im Namen der Landesarbeitsgemeinschaft
der sächsischen Industrie- und Handelskammern

Christoph Neuberg
Hauptgeschäftsführer

[1] Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Abschlussbericht_Eingangszahlen_Zivilgerichte.html?nn=110490 (zuletzt aufgerufen: 01.07.2024).
[2] Abschlussbericht (Fn. 1), S. 309.
[3] Abschlussbericht (Fn. 1), S. 331.
[4] Abschlussbericht (Fn. 1), S. 309, 312.
[5] Abschlussbericht (Fn. 1), S. 246.
[6] Abschlussbericht (Fn. 1), S. 344; vgl. auch Greger, NJW 2019, 3429 (3430); Specht, MMR 2019, 153 (157).
[7] Meller-Hannich, NZM 2022, 353 (359f.).
[8] Meller-Hannich (Fn. 7) (354).
[9] BT-Drs. 20/11770.
[10] vgl. Ref-E, S. 22.
[11] vgl. Hundertmark / Meller-Hannich, RDi 2023, 317 (319 ff.).
[12] Vgl. hierzu die Erläuterungen unter Nr. 3.
[13] Siehe auch Fritsche, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Auflage 2020, § 130, Rn. 13.
[14] Vgl. BGH, NJW 2001, 2888 (2888, II. 1.).
[15] vgl. Hoffmann, RDi 2022, 76 (85f.).
[16] BT-Drs. 20/11770.