22.01.2024

Viele Herausforderungen in einer außergewöhnlichen Zeit

Regionen Bodensee-Oberschwaben und Ulm: 
Rund 500 Gäste aus der Region zwischen Alb und Bodensee kamen am vergangenen Donnerstag zum Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammern Bodensee-Oberschwaben und Ulm in das Kultur- und Kongresszentrum Weingarten. Ehrengast und Festredner war Martin Schulz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung e. V. und langjähriger Präsident des Europäischen Parlaments.
Martin Buck, Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Bodensee-Oberschwaben, freute sich, dass so viele Vertreter aus Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Politik der Einladung der beiden IHKs gefolgt waren. „Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Zeit“, sagte er in seiner Begrüßungsrede. Buck verwies auf die Kriege, die derzeit in Europa und in unmittelbarer Nähe stattfinden, auf die Strategien der Großmächte in Ost und West oder auch auf Taiwan, das sich zum Spielball der Politik und Nadelöhr der Lieferketten entwickelt habe. „Alles Dinge, die wir aus unserem beschaulichen Oberschwaben heraus nicht beeinflussen können, mit deren Auswirkungen wir aber umgehen müssen.“ 
Die geopolitische Situation zwinge Unternehmen im exportstarken Oberschwaben, ihre Lieferketten zu diversifizieren. Deutlich höhere Energiekosten erforderten Investitionen in Energieeffizienzmaßnahmen – Kapital und Kapazitäten, die dann nicht mehr für Innovation zur Verfügung stünden. Zudem mache die Regelungswut auf verschiedenen Ebenen den Unternehmen durch ausufernde Bürokratie und Berichtspflichten zu schaffen, kritisierte Buck. Er verwies auf Lieferkettengesetz, A1-Bescheinigung bei Dienstreisen ins europäische Ausland, Compliance-Anforderungen im Einkauf oder EU-Stoffverbote und vieles mehr. Nicht zuletzt stellten die planlose Transformation des Energiesektors und Transportwesens sowie eine marode Infrastruktur der Straßen, Schienen- und Datenwege in Deutschland Unternehmen vor zusätzliche Herausforderungen. Auch für die Politik seien die Zeiten sehr herausfordernd, räumte der IHK-Präsident ein. Viele komplexe Entscheidungen müssten schnell und unter Unsicherheiten getroffen werden, dabei könnten Fehler passieren. Demokratie bedeute aber, um Kompromisse zu ringen und Mehrheiten zu suchen. Die Wirtschaft habe allerdings kein Verständnis dafür, wenn seitens der Politik nicht mehr zugehört werde. Zu leicht werde verkannt, dass jedes Unternehmen, jedes Produkt, jeder Arbeitsplatz im weltweiten Wettbewerb stünden. Nicht ohne Grund sei die Politikberatung ein gesetzlicher Auftrag der IHKs, um auf Zusammenhänge und Missstände hinzuweisen und Lösungsvorschläge zu liefern. 
Mehr denn je sind Eigenverantwortung und Risikobereitschaft gefragt, so Buck, und: „Wir müssen zusammenstehen, als Wirtschaft, als Politik und als Gesellschaft. Wir müssen einander zuhören und vertrauen. Wir brauchen ein gemeinsames Zielbild und müssen bereit sein, uns auch von der einen oder anderen liebgewonnenen Kleinigkeit zu verabschieden. Dann kommen wir in Aufbruchstimmung statt Abbruchstimmung.“
„Mehr Europa wagen“
Für ein starkes Europa warb Festredner Martin Schulz in seiner Rede. Der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung war Abgeordneter im Deutschen Bundestag, Bundesvorsitzender der SPD, Kanzlerkandidat und langjähriges Mitglied im Europäischen Parlament, dem er als Präsident in zwei Amtszeiten von 2012 bis 2017 vorstand. Europa habe alle Chancen, auch im 21. Jahrhundert ein Ort von Wohlstand und Stabilität zu sein, sagte Schulz und erinnerte an die Anfänge der EU. „Wollen wir aber die Zustimmung der Menschen zur EU nicht verlieren, muss sich einiges ändern.“ Dinge, die national nicht geregelt werden könnten, wie etwa die Bekämpfung des Klimawandels, handelspolitische Fragen sowie die Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollten auf europäischer Ebene reguliert werden. Aber auch „die dunklen Seiten, wie beispielsweise der Menschenhandel“, müssen auf europäischer Ebene bekämpft werden. Überbordende Bürokratie sei allerdings falsch, so Schulz weiter. „Wir sollten wieder besser zuhören und wir brauchen effiziente Lösungen.“ Was lokal, regional oder national zu lösen sei, sollte auch lokal, regional oder national gelöst werden, betonte Schulz. Für alles andere erfordere es die Kompetenz der EU. Es sei nicht ganz einfach, Kompromisse zu erzielen, da es Regierungen gebe, die eine Zerstörung der EU riskierten. Dennoch gebe es ein gemeinsames Ziel, das von Toleranz, Respekt, Wertschätzung und Zusammenhalt getragen werde. Europäische Werte und Prinzipien müssten gegen Unterdrückung und Machtstreben verteidigt werden. Das Modell Europa müsse wettbewerbsfähig bleiben gegenüber demokratiefeindlichen und unsozialen Systemen. „Europa ist nicht perfekt, aber ohne Europa ist alles nichts“, so Schulz. 
Es sei notwendig, jemandem wie Martin Schulz zuzuhören, sagte Dr. Jan Stefan Roell, Präsident der IHK Ulm, abschließend und bedankte sich für dessen Vortrag. Zur EU gebe es keine Alternative, aber „Europa macht nicht mehr so viel Spaß“. Die Unternehmen würden unter Regelungen leiden, die sie nicht verstehen, sagte Roell und mahnte eine Reformierung der EU an. Es gelte, die Struktur der EU umzubauen, in der Europa sich auf die Kernaufgaben konzentriert und Regelungen erarbeitet, die dann auch umgesetzt werden müssen. „Die Freude an Europa darf uns nicht verlorengehen.“
Medieninformation Nr. 04/2024