IHK Berlin

IHK-Präsident Girl zur letzten Sitzung des Senats: „Die Bilanz ist tiefrot.“

Heute trafen sich die Koalitionspartner von R2G zur letzten Senatssitzung dieser Legislaturperiode. Ein Blick auf die Bilanz zeigt: Eine Reihe von selbst gesetzten Aufgaben aus dem Koalitionsvertrag wurden nicht – oder nur unzureichend – realisiert. Die IHK Berlin hat die aus Sicht der Wirtschaft wesentlichen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag einem Umsetzungs-Check unterzogen und die z. T. erheblichen Defizite in den Bereichen Wohnungsbau, Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung, Mobilität, Bildung aber auch bei den Zielen für den Klimaschutz zusammengestellt.

Daniel-Jan Girl, Präsident der IHK Berlin:
„Unternehmen müssen Bilanzen ziehen. Und dass dieser Senat wenig Verständnis für das Unternehmertum hat, beweist die fehlende Bilanzpräsentation heute. Erschreckenderweise müssen wir feststellen, dass viele selbst auferlegte Ziele nicht erreicht wurden. Das ist ein klares Eingeständnis von Fehlleistung. Die Bilanz ist tiefrot. Was hätte nicht alles neu entstehen können! Was hätte nicht alles noch entschieden werden müssen! Der rot-rot-grüne Senat hat Berlin am Ende nicht vorangebracht. Wir brauchen eine starke Wirtschaft und kein Abwirtschaften.“


Umsetzungsstand zentraler Ankündigungen zu Wirtschaftsthemen aus dem Koalitionsvertrag

1. Stadtentwicklung / Wohnungsbau

Das steht im Koalitionsvertrag 
Das wurde (nicht) umgesetzt
Die Koalition will dazu jährlich mindestens 6.000 Wohnungen mit den sechs landeseigenen Gesellschaften in Berlin bauen.
Die im Koalitionsvertrag gesteckten Neubauziele für landeseigene Gesellschaften wurden verfehlt. Im Jahr 2019 wurden nur 4.026 Wohnungen gebaut. Diese Zahl stieg in 2020 zwar leicht an, lag mit 5.669 fertiggestellten Neubauwohnungen jedoch noch immer unter der Zielmarke des Koalitionsvertrages.
Novellierung der Landesbauordnung
U.a. aufgrund mangelnder personeller Ausstattung in den Bezirken konnte die Novellierung der Landesbauordnung nicht verabschiedet werden.
Zusätzliches quantitatives Ziel der Koalition (Außerhalb des Koalitionsvertrages): Im Sozialen Wohnungsbau sollten 8.500 Wohnungen gebaut werden (im Zeitraum von 2018 bis 2020).
Tatsächlich wurden in diesem Zeitraum nur 5.800 Wohnungen gebaut, somit 31,77 % weniger als anvisiert.
„Die Koalition wird die Vernetzung dieser Standorte untereinander befördern und ein übergreifendes strategisches Konzept entwickeln. Darin werden Maßnahmen zur Flächensicherung, zum Flächenerwerb und -entwicklung, zur Verkehrsanbindung, zum Standortmanagement und zur Zusammenarbeit mit den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen […] bestimmt.
Es gibt kein strategisches Konzept für die Zukunftsorte.

Landeseigene Gewerbehöfe verharren im Planungsstatus. Stattdessen haben ausgerechnet landeseigene Wohnprojekte Gewerbeflächen verdrängt.

Durch ein flächendeckendes Gewerbekataster soll die Verfügbarkeit von Gewerbeflächen dynamisch erfasst und öffentlich zugänglich gemacht werden.
Es wurde zwar ein Gewerbeflächen-Informationssystem (gefis) aufgebaut, das ist aber nicht öffentlich zugänglich, sondern steht nur der Verwaltung zur Verfügung.

2. Verwaltung und Digitalisierung

Das steht im Koalitionsvertrag
Das wurde (nicht) umgesetzt
„Die Koalition bekennt sich zu den Zielen und Inhalten des Berliner E-Government-Gesetzes
(EGovGBln) […] und wird es umsetzen. Sie sieht in der umfassenden und konsequenten
Standardisierung der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) eine wesentliche Voraussetzung für die Digitalisierung der Verwaltung […] mit dem Ziel, eine erhöhte Unabhängigkeit, Transparenz, Flexibilität und Wirtschaftlichkeit zu
erreichen.“
Keine einzige Behörde hat bisher den IT-Betrieb vollständig an den Landesdienstleister ITZD übertragen. Im Ergebnis wird die wichtige Vereinheitlichung und Optimierung der Verwaltungs-IKT verschleppt und die Digitalisierung der Verwaltung insgesamt massiv behindert.
„Die Organisationsstruktur der Verwaltung
ist auf allen Ebenen und untereinander so zu ordnen, dass klare Verantwortlichkeiten entstehen. Dies erfordert eine Überarbeitung des Allgemeinen Zuständigkeitsgesetzes (AZG). Die Koalition will […] die Überarbeitung des AZG im Parlament und in der Berliner Verwaltung diskutieren und verabschieden.“
Das AZG wurde nicht angefasst – Chance, dort klare Zuständigkeiten festzuschreiben, vergeben. Stattdessen stellte der Senat fest, dass das AZG kein geeigneter Ansatzpunkt in der Zuständigkeitsfrage sei. Es bleibt zu hoffen, dass wenigstens die unter R2G ermöglichten Zielvereinbarungen einen wahrnehmbaren Effekt haben werden.
„Die öffentliche Verwaltung wird in die Lage versetzt, ihre Aufgaben in angemessener Zeit qualitativ und quantitativ erfüllen zu können.“
Sowohl im Zusammenhang mit der Pandemie als Corona-unabhängig, wurden die Ziele personell, technisch und organisatorisch verfehlt. 
„Der Personalbedarf der wachsenden Stadt […] wird nicht nur auf der Grundlage der voraussichtlichen Altersfluktuation, sondern auch […] der teilweise bestehenden Unterausstattung des öffentlichen Dienstes ermittelt. Deshalb wird die Koalition im Jahr 2017 ein Personalbedarfskonzept für die Jahre bis 2025 entwickeln.“
Der Rechnungshof hat die Personalbedarfsermittlung (PBE) des Senats in 2021 massiv kritisiert. 40 Prozent seiner Stellen hat der Senat gänzlich ohne PBE veranschlagt. Es gibt also belastbare Grundlage für Personalplanungen.
Digitalisierung
Die Koalition wird gemeinsam mit Netzbetreibern, Wohnungswirtschaft und Landesunternehmen ein Konzept erarbeiten, um den Glasfaserausbau mindestens bis zur Grundstücksgrenze voranzutreiben.
Das Konzept (aka Gigabitstrategie) wurde erst in den letzten Monaten der Legislatur beschlossen. Bloßes Papier macht die geringen Glasfaseranschlussquoten jedoch nicht wett. Es fehlt am Umsetzungstempo.
Die Koalition modernisiert die Berliner Smart-City-Strategie und diskutiert sie öffentlich. Die Smart-City-Strategie wird dazu mit einem industriepolitischen Umsetzungskonzept verbunden.
Es gibt bislang keine Verknüpfung mit einem industriepolitischen Umsetzungskonzept. Die Rahmenstrategie ist über das Papierformat nicht hinausgekommen und konnte der Wirtschaft bis dato keine praxisorientierte Projektmitwirkung anbieten.
Zur Unterstützung der Digitalisierungsstrategie wird die Koalition eine zentrale Stelle (aka Digitalagentur Berlin GmbH), abgestimmt auf bestehende Strukturen, aufbauen, die kleinen und mittlere Unternehmen bei der digitalen Transformation unterstützt.
Die geplanten Unterstützungsangebote existieren höchstens in Ansätzen auf dem Papier. Die Querelen bei der Gründung und die verzögerte Arbeitsfähigkeit müssen der Vergangenheit angehören, um kleine und mittlere Unternehmen wirksam mit Netzwerkpartnern zu unterstützen. 

3. Mobilität

Das steht im Koalitionsvertrag
Das wurde (nicht) umgesetzt
Zur Unterstützung des Wirtschaftsverkehrs werden systematisch Ladezonen eingerichtet sowie für die letzte Meile Urban Hubs aufgebaut.
Weder wurden Ladezonen eingerichtet noch Urban Hubs aufgebaut. Stattdessen haben die Pop-up-Radwege die Probleme der Ver- und Entsorgung noch verschärft.
Die Koalition setzt sich für eine leistungsfähige Anbindung des BER an das Stadtgebiet ein. Dazu sind die Takte der Regionalbahnen so eng wie möglich zu gestalten und die vorhandenen Straßenanbindungen zu optimieren.
Weder wurden im ÖPNV Takte verdichtet noch Straßenanbindungen optimiert.
Vier Tramstrecken (Ostkreuz, Turmstraße, Mahlsdorf und Adlershof2) werden fertiggestellt. Für weitere vier Strecken wird der Bau begonnen sein.
Keine einzige Tramstrecke ist fertig. Einzig die die Strecke Adlershof ist im Bau fortgeschritten. Für das Projekt Hauptbahnhof - Turmstraße war erst am 11.8.21 offizieller Baubeginn. Von den weiteren vier Strecken ist bisher gar nichts zu sehen.

4. Bildung

Das steht im Koalitionsvertrag
Das wurde (nicht) umgesetzt
Die Koalition wird die Medienplattform OER und die IT-Infrastruktur der Schulen mit schnellen und leistungsfähigen Breitbandanschlüssen, WLAN für alle und einer zeitgemäßen Hard- und Software-Ausstattung unter Einbeziehung von Open-Source-Software ausbauen.
Erst zu spät und dann zu zögerlich: Die Pandemie hat die Versäumnisse der Politik bei der Digitalisierung der Schulen schonungslos offengelegt. So ist erst in diesem Jahr die berlinweite Ausschreibung zur Anbindung der Schulen an des Glasfasernetz erfolgt. Damit haben die Berliner Schulen in der digitalen Bildung vier wichtige Jahre verloren.
Um die Leistungsfähigkeit der Berliner Schule zu stärken, die Qualität der Abschlüsse zu steigern und die Zahl der Schulabgänger*innen ohne Abschluss deutlich zu senken, soll eine abgestimmte Gesamtstrategie zur Qualitätssicherung entwickelt werden.
Dank der stark vereinfachten Prüfungsbedingungen aufgrund der Corona-Pandemie lag die Zahl der Schüler ohne Schulabschluss 2020 mit 7,1 Prozent erstmalig (!) unter dem Wert mit dem die Koalition gestartet ist (9,3 Prozent).
Damit die technische Geräteausstattung und IT-Ausstattung der beruflichen Bildung auf aktuellem Stand bleiben, wird ein
transparentes Modell der Ersatzbeschaffung entwickelt.
Auch am Ende der Legislatur gibt es noch immer kein System klarer Abschreibungszyklen und Ersatzbeschaffungen für Maschinen, Geräte und sonstige Ausstattung an beruflichen Schulen. Für Fachkräftenachwuchs von morgen bedeutet das, dass eine Ausbildung entlang des aktuellen Stands der Technik derzeit nicht gewährleistet werden kann.

5. Umwelt und Klima

Das steht im Koalitionsvertrag
Das wurde (nicht) umgesetzt
Die Koalition wird einen Steuerungskreis Energiewende einrichten, in dem sie mindestens halbjährlich die wichtigen Akteur*innen […] zusammenruft, um den Stand der Umsetzungen und neue Aktivitäten zu erörtern und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Mittelfristig strebt die Koalition ein Institutionengefüge an, wie es die Enquete-Kommission empfohlen hat.
Weder wurde ein Steuerungskreis Energiewende eingerichtet, noch wurden die strukturellen Voraussetzungen (Institutionengefüge) für die so wichtige Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen geschaffen.
Der Gebäudebereich ist für fast 50 Prozent der Berliner CO2-Emissionen verantwortlich. Die Koalition will die Sanierungsquote deutlich erhöhen und gleichzeitig Mieter*innen davor schützen, immer höhere Heizkosten zu bezahlen oder wegen einer Sanierung ihre Wohnung aufgeben zu müssen.
Es wurde nicht geschafft, die Sanierungsquote signifikant zu erhöhen – im Gegenteil, durch den Mietendeckel wurde das Ziel konterkariert. Zudem ist es nicht gelungen, den Zielkonflikt zwischen energetischer Sanierung und Mietenproblematik nachhaltig aufzulösen.
Ein aktualisiertes Berliner Energie – und Klimaschutzprogramm (BEK) ist kurzfristig dem Abgeordnetenhaus zur Beschlussfassung vorzulegen und umzusetzen.
Das BEK wurde erst mit erheblicher Verspätung beschlossen. Bis heute sind nur 6% des Budgets verausgabt. Nur wenige Maßnahmen wurden umgesetzt.
Das Land Berlin, die Bezirke und die öffentlichen Unternehmen werden eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz einnehmen. Öffentliche Neubau- und Sanierungsvorhaben wird die Koalition auf einen überarbeiteten Berliner Energiestandard verpflichten. Für Neubauten wird der Passiv- oder ersatzweise ein Plusenergiehausstandard verpflichtend vorgeschrieben.
Der überarbeitete Energiestandard wurde erst zum Ende der Legislatur im Zuge des novellierten Energiewendegesetzes eingeführt. Weitreichende Ausnahme- und Übergangsregelungen verwässern die Zielstellung.

21. September 2021