FOKUS

„Regulierungswut ist für uns die größte Herausforderung“

Anett Hüssen will Prozesse innerhalb ihres Pflegedienstes weitestgehend digitalisieren. Vieles scheitert an der Bürokratie.Die Bezirke sind von papierlosen Abläufen weit entfernt.
Die Hauskrankenpflege Dietmar Depner GmbH versorgt in 17 Wohngemeinschaften pflegebedürftige und demente ältere Menschen. Geschäftsführerin Anett Hüssen setzt als Vorreiterin ihrer Branche auf Digitalisierung, um die Leistungen mit den Kassen und öffentlichen Stellen effizient abrechnen zu können. Bislang stößt sie bei ihren Gegenübern aber auf wenig Verständnis, wenn sie zeitgemäße Prozesse absprechen will.

Berliner Wirtschaft: Sie kämpfen für mehr Digitalisierung in der Pflege. Woher kommt die Affinität Ihrer Branche zu digitalen Abläufen?

Anett Hüssen: Die Pflegebranche wird beim Thema Digitalisierung von Prozessen mit Schnittstellen nicht gehört. Digitalisierung ist ein spezielles Anliegen von mir. Ich werde oft gefragt, woher die Leidenschaft kommt. Es liegt wohl an meiner beruflichen Vergangenheit in einer Bank. Dort habe ich erlebt, wie Prozesse konsequent digitalisiert werden und somit viel effizienter und sicherer ablaufen. Ich glaube, dass gerade in stark regulierten Branchen die Digitalisierung große Effekte haben kann und damit sehr wichtig ist. Als ich 2016 mit meinem Mann die Hauskrankenpflege Dietmar Depner gekauft habe, haben wir die Firma vom Kopf auf die Füße gestellt ...

… und vermutlich entsprechend digitalisiert.

Jedenfalls soweit das möglich ist. Für mich gehört es zu einem professionellen Anspruch dazu, zeitgemäße Abläufe einzurichten. Wir sind mit 250 Mitarbeitern so groß, dass wir eine Stabsstelle für Digitalisierung einrichten konnten. Ich selbst kann nicht professionell pflegen. Ich kümmere mich um die kaufmännische und strategische Seite. In kleinen Pflegediensten kommt die Leitung in der Regel aus der Pflege und muss immer wieder einspringen, wenn Fachkräfte fehlen. Ich kann mich mit meiner Geschäftsführungskollegin voll auf das Management des Unternehmens konzentrieren. Bei der Digitalisierung sind uns leider aber Grenzen gesetzt.

Warum?

Schon bei der Abrechnung unserer Leistungen ist es sehr kompliziert. Wir schicken Rechnungen an die Pflegekassen, die Krankenkassen, die Bezirksverwaltungen und mitunter auch an die Pflegebedürftigen selbst. Und noch immer sind diese Rechnungen papierbasiert. Selbst bei Abrechnungen über Schnittstellen senden wir zusätzlich einen Umschlag mit Dokumenten.

Warum gehen einige Ihrer Ausgangsrechnungen denn an die Bezirksverwaltungen?

Die springen ein, wenn die Pflegebedürftigen die hohen Kosten allein und aus dem Anspruch an die Kassen nicht tragen können. Das ist die sogenannte Hilfe zur Pflege.

Womit wird das Verlangen nach einer Papierrechnung begründet?

Das sind ganz unterschiedliche Gründe. Mit den Krankenkassen gibt es immerhin schon einen sogenannten Datenträgeraustausch. Aber sie wollen am Ende trotzdem noch mehrere Blätter Papier von uns haben, weil die gepflegten Personen oder deren Betreuer am Ende noch unterschreiben müssen, dass wir wirklich die einzelnen Pflegeleistungen erbracht haben. Die Unterschrift darf aber nicht auf einem Tablet geleistet werden. Es geht mir aber längst nicht nur um die Rechnungsstellung. Wir erleben auch an vielen anderen Stellen unnötige Bürokratie, die den Verwaltungsaufwand enorm in die Höhe treibt.

Wo denn?

Beispielsweise hat das Bezirksamt, wenn es Hilfe zur Pflege zahlt, den Anspruch, Pflegeberichte zu sehen. Wir erstellen diese Pflegeberichte aber längst digital. Ich könnte also sehr schnell und jederzeit einen Report erstellen und per E-Mail abschicken. Aber das darf ich nicht, weil es sich um Gesundheitsdaten handelt. Ich muss alles per Fax schicken. Das ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Dabei gibt es von der Gematik die KIM, die „Kommunikation im Medizinwesen“. Das könnte man ausbauen.

Aber?

Aber das Verfahren wird nicht genutzt. Ich kann in diesem gesicherten Netzwerk einem Arzt schreiben und um eine Verordnung für die Erbringung von medizinischen Leistungen bitten. Das haben wir auch probiert. Was ist dann passiert? Der Arzt schickt mir daraufhin per Post einen Brief. Diesen Brief schicke ich dann zum rechtlichen Betreuer und bitte um eine Unterschrift und Bestätigung, dass außer uns keiner da ist, der den Pflegebedürftigen versorgen kann.

Und dann?

Wenn wir diesen Brief zurückerhalten haben, scannen wir ihn ein und schicken ihn an die AOK und erbitten die Genehmigung. Ich muss aber immer auch zusätzlich das Original an die AOK schicken. Das Hin- und Herschicken von Papier ist heutzutage Irrsinn. Viele dieser Prozesse sind bundesweit in der sogenannten Hauskrankenpflege-Richtlinie geregelt, die immer noch in Papier „denkt“. Diese Richtlinie ist für die Krankenkasse ausschlaggebend. Hier muss angesetzt werden, um die überbordende, teils sinnfreie Bürokratie zu entschlacken.

Haben Sie noch mehr solcher Anekdoten?

Aber ja, jede Menge. Auch meine Mitarbeiter lachen oft über das, was wir machen müssen. Das versteht heute niemand mehr. Privat buchen wir alle unsere Reisen im Internet, kaufen in Onlineshops oder vereinbaren Termine über Portale. Aber im Büro muss ständig etwas ausgedruckt oder eingescannt werden.

Geht es Ihnen insbesondere um die Verwaltung, oder digitalisieren Sie auch bei den Pflegeleistungen?

Wir machen auch die Dokumentation der Pflege digital. Dafür gibt es moderne Dokumentationsmethoden. Für viele Pflegemaßnahmen sind Standards hinterlegt. Wir dokumentieren im besten Fall nur die Abweichung, also wenn zum Beispiel eine Medikamentengabe verweigert wurde. Das geht aber auch nur, weil wir Wohngemeinschaften betreuen. Denn die Akten müssen aus vertragsrechtlichen Gründen beim Kunden liegen. Pflegedienste, die mit dem Auto zum Kunden nach Hause fahren, können das gar nicht anwenden. Sie müssten bei jedem Pflegebedürftigen ein Notebook oder Tablet abstellen.

Sind Pflege-WGs die Zukunft?

Die Idee ist in Berlin schon sehr weitverbreitet. Das Modell ist für die Altenpflege in der Tat sehr wichtig, weil allein in Berlin bereits etwa 5.000 Pflegeplätze fehlen – und es werden eher mehr, die fehlen. Ein Grund ist, dass keine neuen Pflegeheime mehr gebaut werden, weil es sich für die Investoren nicht mehr rechnet. Ich weiß derzeit nur von einem einzigen Pflegeheim, das in Berlin neu gebaut wird. Dabei wird der Bedarf angesichts des demografischen Wandels stark wachsen.

Wie funktionieren die Pflege-Wohngemeinschaften?

Jeder hat sein eigenes Zimmer. Küche, Bad und Wohnzimmer werden gemeinsam genutzt. Jeder nimmt nach seinen individuellen Bedürfnissen und Ressourcen am WG-Leben teil. Wir sorgen dafür, dass rund um die Uhr Pflegepersonal anwesend ist. Unser Personalschlüssel ist gut, wir sind – außer nachts – immer mit zwei Pflegekräften vor Ort. Mit der Vermietung haben wir nichts zu tun. Bislang hätten wir auch gar nicht vermieten dürfen.

Bisher? Ist das geändert worden?

Ja, das hat sich 2022 geändert. Ein Pflegedienst kann jetzt auch Räume anmieten und selbst als Vermieter auftreten. Wir haben in Berlin einen gigantischen Leerstand an Büros. Wenn es gelänge, einige umzuwidmen, wäre das eine gute Sache. Aber das ist ein unfassbar bürokratischer und teurer Akt – Stichwort Schallschutz. Wir sind gerade in solchen Gesprächen mit einem Bezirk. Wenn wir Büros zu Wohngemeinschaften umbauen könnten, hätten die alten Menschen eine vernünftige Versorgung, von der es viel zu wenig gibt in dieser Stadt. Und sie würden aus ihren bisherigen Wohnungen ausziehen. 

Was ist die größte Herausforderung für Sie?

Die Regulierungswut ist für uns die größte Herausforderung. Den Fachkräftebedarf können wir recht gut decken, weil unsere Mitarbeiter uns weiterempfehlen. Wir tun auch viel dafür. Ich betreibe eine Weiterbildungsakademie, in der Pflegeassistenten den Basiskurs machen können. Wir sind gut organisiert mit klaren Verantwortlichkeiten und hören den Menschen zu. Und wir bilden aus.

Aber die Regulierung macht Ihnen zu schaffen.

Die Bürokratie ist in vielerlei Hinsicht ein Problem. Wir haben gerade einen jungen Migranten, der bei uns arbeiten möchte. Er hat einen Aufenthaltstitel und eine Arbeitsgenehmigung. Aber seine Arbeitsgenehmigung ist beschränkt auf einen einzelnen Arbeitgeber. Jetzt möchte er wechseln, und dafür muss er zur Ausländerbehörde. Und das dauert. Dabei ist die Beschränkung auf einen Arbeitgeber eine Kann-Vorschrift. Obwohl die Ämter zu wenig Personal haben, halsen sie sich die Mehrarbeit auf.

Tangiert Sie bereits die Personalnot der Ämter?

Oh ja, ich habe ein Schreiben von einem Bezirksamt bekommen, in dem mir mitgeteilt wurde, dass sie meine Rechnungen nicht pünktlich bezahlen können, weil sie zu wenig Personal haben. In den Medien wurde berichtet, dass die Berliner Bezirksämter Außenstände bei Pflegediensten und Pflegeheimen in Höhe von sieben Millionen Euro haben. Ich frage mich, wer noch daran glaubt, dass die Menschen angesichts des demografischen Wandels gefunden werden, die diese Arbeit machen werden.

Und wie lautet Ihre Antwort?

Selbst wenn wir das Geld hätten, die Stellen für unnötige Bürokratie zu besetzen, finden wir die Menschen nicht mehr. Wir können uns diese Bürokratie nicht mehr leisten. Wir müssen uns den Realitäten stellen. Daraus ergibt sich für mich die Dringlichkeit, die Prozesse zu hinterfragen, effizienter zu machen und dann zu digitalisieren. Außerdem: Die Verwaltung muss für die Bürger und Unternehmen da sein und nicht umgekehrt.
von Michael Gneuss