BW 07-08/2021 – Schwerpunkt | Interview

„Wir brauchen einen breiten Dialog“

Anne-Kathrin Kuhlemann ist Vorsitzende des IHK-Ausschusses Wirtschaftspolitik. Vor der Berlin-Wahl spricht sie über die Herausforderungen für den künftigen Senat. Der alte bekommt von ihr keine guten Noten
IHK hat auch in diesem Jahr vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 26. September zehn wirtschaftspolitische Leitlinien entwickelt, mit denen aus Sicht der Wirtschaft die zentralen Herausforderungen der kommenden Jahre angegangenen werden können. Mit entwickelt hat Anne-Kathrin Kuhlemann die Prüfsteine. Die Gründerin und Chefin der BE Food AG meint, dass die Politik den Vorschlägen der Kammer sehr aufgeschlossen gegenübersteht, allerdings wird zu wenig umgesetzt.

Berliner Wirtschaft: Im Herbst wird ein neu gewählter Senat die Politik der nächsten fünf Jahre bestimmen. Was ist aus Ihrer Sicht wirtschaftspolitisch die größte Herausforderung?

Anne-Kathrin Kuhlemann: Das wird ganz klar das Thema Wiederaufbau nach der Corona-Krise sein. Dieses Thema wird uns noch sehr lange beschäftigen. Wir wissen auch noch gar nicht, wie sich die Infektionszahlen im Herbst entwickeln, ob wir noch einmal einen Lockdown erleben und wann wir die Pandemie wirklich unter Kontrolle haben werden. Leider bestehen weiterhin Risiken, zum Beispiel Mutationen des Virus oder dass wir nicht die erforderliche Impfquote erreichen. Die Berliner Wirtschaft treffen neue Corona-Wellen dann leider immer besonders hart.

Warum ist Berlin besonders betroffen?

Standorte mit vielen großen exportstarken Industriekonzernen trifft es etwas weniger, weil in der Krise vor allem die Ausfuhren stabilisierend gewirkt haben. Berlin ist stärker von der Binnenwirtschaft abhängig, von Dienstleistungen, vom Tourismus. Deshalb muss Berlin alles, was möglich ist, unternehmen, damit die regionale Wirtschaft nicht weiter belastet wird. Den vielen Start-ups und kleinen und mittelständischen Firmen muss ein Weg aus der Krise aufgezeigt werden. Die Herausforderung ist deshalb so groß, weil nach Corona auch die Staatskassen leer sind.

Können die Probleme bei gleichzeitigem Sparkurs gelöst werden?

Sie müssen gelöst werden. Aber die Haushaltsüberschüsse, die Berlin zuletzt erwirtschaftet hat, sind aufgebraucht. Mit billigem Gelddrucken geht es auch nicht. Wir brauchen jetzt einen breiten Dialog mit allen Beteiligten. Politik und Wirtschaft müssen gemeinsam abwägen, wie es gehen kann. Es ist nicht einfach, einen Lösungsweg zu finden, auf dem alle Firmen wieder in die Spur finden. Auf allen Seiten werden große Anstrengungen notwendig sein.
 

Der Wiederaufbau nach Corona ist einer von zehn Prüfsteinen, den Sie vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus formuliert haben. Welche Ziele verfolgen Sie mit diesen Prüfsteinen?

Unser Ziel ist, eine Sensibilisierung in der Politik für unternehmerische Belange zu schaffen – insbesondere jetzt im Zuge der Wahlen. Zu irgendeiner Verschiebung im Senat kommt es nach einer Berlin- Wahl ja immer. Wir sprechen mit den Prüfsteinen ein Angebot aus für Politiker, die Verantwortung für den Standort übernehmen wollen: Redet mit uns, arbeitet mit uns zusammen und entscheidet nicht im geschlossenen Kämmerlein über Dinge, die am Ende andere betreffen.

Nimmt die Politik dieses Angebot auch an?

Ja, die Erfahrung zeigt, dass das Angebot bei vielen auch ankommt und wahrgenommen wird. Grundsätzlich empfinde ich auf der Seite der Politik eine große Bereitschaft und auch eine große Dankbarkeit dafür, in der Wirtschaft Ansprechpartner zu haben, die mit konkreten Vorschlägen auf sie zukommen. Da ist viel Offenheit. Aber Politiker müssen in der Praxis natürlich auch immer mit einem begrenzten Handlungsspielraum leben – zum Beispiel mit Fraktionszwängen oder Budgetbeschränkungen. Nicht jeder kann immer so handeln, wie er gern möchte.

Sehen Sie Unterschiede zwischen der Senats- und der Bezirksebene?

Auf der Bezirksebene empfinde ich die Politik als sehr sachorientiert. Dort werden unsere Vorstellungen tendenziell mehr beachtet und oft wirklich als Arbeitsgrundlage genommen. Auf der Senatsebene habe ich das Gefühl, dass ein bisschen Rosinenpickerei betrieben wird. Die Themen, die gerade in die Zeit passen, werden aufgegriffen. Die anderen Themen, die aus politischen oder pragmatischen Gründen oder aus Budgetzwängen schwierig umzusetzen sind, werden zur Seite gelegt und gar nicht behandelt.

Wie stark orientiert sich die Politik schlussendlich an den Leitlinien, die Sie vorschlagen?

Die Politik hat grundsätzlich ein großes Interesse an der Wirtschaft, denn sie finanziert ja einen großen Teil des Haushalts über Steuern. Die Politik möchte also die Wirtschaft mitgestalten und erfolgreich machen. Es ist daher auch extrem sinnvoll, dass Politik und Wirtschaft eng zusammenarbeiten. Bei manchen Themen gibt es einen klaren Konsens. Beispiel: Die Verwaltung muss digitalisiert und modernisiert werden. Sie werden kaum jemand finden, der das anders sieht. Die Frage ist nur: Was setzt die Politik am Ende auch um?

Wie lautet die Antwort?

Wenn ich zum Thema moderne Verwaltung ehrlich sein soll: Da ist meiner Ansicht nach in dieser Legislaturperiode nicht viel passiert. Wir wissen seit zehn Jahren, dass bis 2024 ein Drittel der Mitarbeiter in Rente geht. Es wird wahrscheinlich erst dann reagiert, wenn es richtig wehtut. Es wird aber auch bei anderen Themen zu wenig getan. Ich habe mir die Wahlprüfsteine angesehen, die wir vor fünf Jahren erarbeitet haben, und mich gefragt, wie wir vorangekommen sind. Und dann fällt mir leider auf, dass sich die Lage bei einigen Schwerpunktthemen sogar weiter verschärft hat.

Was hat sich denn verschärft?

An erster Stelle würde ich den Wohnungsbau nennen. Da sehe ich eher Rückschritte. Ich verstehe nicht, wie man das Wort Enteignung überhaupt nur in den Mund nehmen kann, wo wir doch Wohnungsbau fördern müssen in jeder denkbaren Art und Weise. Aber stattdessen ist viel dafür getan worden, dass weniger Neubau stattfindet, mit der Folge, dass eine Verknappung des Wohnraums zu weiter steigenden Mieten führen wird. In diesem Punkt waren sehr viele Menschen aus der Wirtschaft sehr erschrocken darüber, was da in den letzten Jahren entschieden wurde.

Womit sind Sie außerdem unzufrieden?

In den Schulen und im Bildungsbereich ist auch fast nichts passiert. Die Quittung haben wir jetzt in den letzten anderthalb Jahren bekommen. In moderneren Schulen hätten wir besser auf die Corona-Krise reagieren können. Es ist sehr irritierend, dass es insgesamt nicht mehr Fortschritte gegeben hat, obwohl viele sinnvolle Maßnahmen im Koalitionsvertrag vereinbart worden sind. Da ist vieles einfach liegen geblieben. Ich sehe auch nicht, dass wir mit der Metropolregion Berlin-Brandenburg vorankommen. Berlin und Brandenburg müssten in der Wirtschaftspolitik viel enger zusammenarbeiten.

Muss man die Corona-Krise in den vergangenen Jahren nicht als Entschuldigung akzeptieren?

Ja, das kann man für die vergangenen 17 Monate gelten lassen. Aber die aktuelle Legislaturperiode hatte ja mehr als 17 Monate.

Dann würden Sie der Berliner Wirtschaftspolitik der vergangenen fünf Jahre also kein gutes Zeugnis ausstellen?

Nein, gute Noten gibt es nicht. Die IHK Berlin hat eine Umfrage unter den Mitgliedern gemacht. Rund 1.000 Unternehmerinnen und Unternehmer haben abgestimmt. In den meisten Themenfeldern wurde die Wirtschaftspolitik mit schlecht oder sehr schlecht bewertet. Selten gab es eine neutrale Bewertung und nie eine gute. Das ist traurig. Wir haben eigentlich alle die gleichen Ziele. Ich hoffe, dass der nächste Senat mehr umsetzt.

Was sind neben dem Wiederaufbau nach Corona weitere wichtige Herausforderungen für den neuen Senat?

Wir müssen mehr tun, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Spätestens seit der Ansiedlung von Tesla tut das Thema vielen Firmen weh. Wir müssen mehr ausbilden. Es gelten zu viele junge Menschen als nicht ausbildungsreif. Das können wir uns nicht leisten, wir brauchen jeden. Wenn in Berlin keine Fachkräfte zu bekommen sind, werden Firmen abwandern. Wir brauchen außerdem Platz für den Wirtschaftsverkehr und ganz dringend mehr Glasfaser. Für größere Unternehmen mit viel Datenverkehr ist es ein K.-o.-Kriterium für einen Standort, wenn sie keine digitalen Ausbaukapazitäten mehr haben.

Mit Ihrer Firma BE Food kümmern Sie sich um eine lokale, nachhaltige Nahrungsproduktion. An welcher Stelle würden Sie sich als Unternehmerin andere Rahmenbedingungen wünschen?

Mir persönlich brennt vor allem das Thema Nachhaltigkeit auf der Seele. Der Staat könnte an dieser Stelle viel verändern, weil er ein sehr, sehr großer Einkäufer ist. Wenn er grün einkaufen würde, dann wären ganz viele tolle nachhaltige Produkte verfügbar, die bisher ein Nischendasein führen, weil sie nicht in großen Mengen produziert werden können und deshalb sehr teuer sind.

Der Klimaschutz ist auch ein Prüfstein der IHK.

Ja, und der ist mir ganz besonders wichtig. Ich möchte, dass Klimaschutz nicht zwangsläufig als Wachstumsverzicht gesehen wird. Er kann sogar ein Wachstumsmotor sein, wenn wir Innovation als Antrieb dahinter sehen. Dieser mentale Switch ist ganz entscheidend.
von Michael Gneuss