Das Baldaufhaus in Binswangen

Nathan Baldauf war Vorsteher der jüdischen Gemeinde und gegen Ende des Jahrhunderts wurde er als einer von vier Gemeindebevollmächtigten in den Gemeindeausschuss gewählt. Diese gleichwertige Teilhabe am Gemeindeleben spiegelte die Situation in den „Judendörfern“ und erklärt das spätere Selbstvertrauen der jüdischen Familie als Unternehmer, Bürger und Förderer.
Nathan war mit Lina Neuburger verheiratet und hatte fünf Kinder. Linas Schwester Bertha Neuburger heiratete den jüdischen Religionslehrer Lazarus Häutemann, der später in Dillingen Bankier wurde. Mit seinen Beziehungen und dem dort erwirtschafteten Kapital eröffneten sich den Familienmitgliedern in Dillingen nach dem Umzug ganz neue Chancen.

Was ein historisches Foto verrät – eine kleine Fotoanalyse

Das historische Foto zeigt das Wohn- und Geschäftshaus des Juden Nathan Baldauf. Beschreibe das Foto. Was fällt Dir besonders auf?
Das Warenangebot
Die Fassade des Hauses demonstriert das Selbstbewusstsein der jüdischen Besitzer. Die ausgestellten Tuchballen neben der Eingangstüre und die Schaufenster zeigen das Warenangebot des Tuchhändlers. An der Wicklung der Ballen sieht man, dass es sich um maschinengefertigtes Tuch handelt. Als Fabrikationsort kommt wohl Augsburg in Frage.
Kleidung und Aussehen
Kleidung und Aussehen der Personen verraten viel über ihre soziale Stellung. Das Foto zeigt den korrekt gekleideten, selbstbewussten Geschäftsmann Baldauf mit weißem, steifem, hohem Stehkragen mit Binder, im Volksmund „Vatermörderkragen“ genannt. Links im Bild eine Gruppe bäuerlich gekleideter Personen, die Frau in Tracht, die Männer mit Schirmmütze: Ohne Hut oder Mütze aus dem Haus zu gehen war für den Mann bis in die 1950er Jahre undenkbar; typisch für die Zeit: der Schnauzbart. Der Radfahrer trägt bürgerliche Kleidung, nur seine Mütze ist sportlich.
Was zufällig ins Bild gerät
Man sieht im Vordergrund den offenen Abwassergraben, nur ein Steg führt zum Haus. Während es in den Städten bereits eine unterirdische Kanalisation gab, ging die dörfliche Entwicklung sehr viel langsamer voran. Dies gilt auch für die Straßenpflasterung.
Datierung
Das Foto ist nach 1888 und vor 1900 entstanden, eine genaue Datierung ist nicht überliefert. 1900 starb Nathan Baldauf, das andere Eckdatum liefert das Fahrrad: 1888 wurde der Luftreifen erfunden.
Vom Baldaufhaus zum „Schillinghaus“
Nach dem Tod ihres Mannes verkaufte Lina Baldauf 1903 das Haus an Andreas Schilling, dessen Familie das Textilgeschäft bis 1995 weiter betrieb. Das Haus wurde ab 2010 von Ehrenamtlichen sorgfältig restauriert und dient heute als Kulturzentrum und Begegnungsstätte.
Zur Mitarbeit: Was lässt sich anhand der Fotos über die Bedeutung der Stadt Augsburg als Industriezentrum der Tuchherstellung sagen?

Die Familie Baldauf

Chancenwanderung

Leopolds Bruder Gustav Baldauf ging 1899 nach München und wurde Diplomingenieur, die Schwester Klara heiratete einen Fabrikanten in Würzburg, Flora einen Kaufmann in München. Nathans Witwe Lina Baldauf verkaufte das Haus in Binswangen an die nichtjüdische Familie Schilling, die dort das Tuchgeschäft weiterführte. Lazarus Häutemann nahm 1899 seinen Neffen Leopold als Prokurist in seine Bank auf.