Munition in den deutschen Meeren: Altlasten in der Nord- und Ostsee
Munition im Meer beschäftigt Wirtschaft und Forschung seit Jahren – und zunehmend auch die Politik. In der deutschen Nord- und Ostsee liegen rund 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Munition, wie Granaten, Sprengbomben, Torpedoköpfe, Minen und Artilleriegeschosse. Hinzu kommen rund 5.000 Tonnen chemische Munition, die auf dem Meeresgrund liegen.
Ein großer Teil der Munition befindet sich in den küstennahen Bereichen, aber auch außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone in der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ). Die Gründe dafür sind vielfältig: Minen und Blindgänger aus Kriegen und aus sonstigen militärischen Aktionen wie Trainings sowie aus der gezielten Verklappung nach dem Ende des 2. Weltkrieges liegen auf dem Grund von Nord- und Ostsee. Die räumliche Lage der Munition ist teilweise bekannt, teilweise gibt es Verdachtsflächen, die näher untersucht werden müssten. Dazu kommen zufällige Funde, die beim Bau von Offshore-Windanlagen entdeckt werden.
Bei Munition im Meer kann nur sehr eingegrenzt auf Abwurfgebiete und Luftbilder, wie bei der Suche an Land, zurückgegriffen werden. Daher ist die Datenlage heute insgesamt noch als gering einzuschätzen.
Dazu ist Munition im Meer kein alleinig deutsches Problem. Weltweit wurden und werden viele Tonnen Munition im Meer versenkt. Dennoch gibt es nur ansatzweise Strategien zur genauen Ortung dieser Munition. Bergung und Entsorgung werden aktuell kaum thematisiert.
Gefahren
Neben der möglichen Explosionsgefahr schaffen vor allem die Inhaltsstoffe der Munition große Probleme, die zu Gefahren an Land und auf See führen können: für die maritime Umwelt und Infrastruktur, die Schifffahrt, die Sicherheit und den Tourismus. Nach vielen Jahrzehnten gibt es noch intakte Munition, aber durch die Korrosion – verstärkt durch das Salzwasser – nehmen die Zersetzungsprozesse an den Hüllen oder ganzen Munitionskörpern zu. Chemikalien und Sprengstoffe können freigesetzt werden: weißer Phosphor, Tabun, TNT sowie verschiedene Schwermetalle.
- Schifffahrt: Nord- und Ostsee gehören zu den am meisten befahrenen Gewässern in Europa. Neben unzähligen Güterschiffen befinden sich Fähren, Kreuzfahrtschiffe, Schifferboote und Sportboote auf beiden Gewässern. Auch wenn die Gefahr zurzeit als sehr gering eingeschätzt wird, kann durch aufschwimmende Munition großer Schaden entstehen.
- Tourismus: Große Gefahren bestehen durch angespülte Munitionsreste. Nord- und Ostseeküste sind beliebte Tourismusregionen und dazu ist das Bernsteinsammeln bei vielen Gästen beliebt. Weißer Phosphor sieht Bernstein sehr ähnlich, ist allerdings hochbrennbar und entzündet sich, sobald er trocken wird und eine bestimmte Temperatur erreicht hat. Auch andere Munitionsreste, wie Schießwolle, stellen eine Verletzungsgefahr dar. Diese Gefahren nehmen mit dem Grad der Munitionskorrosion stetig zu.
- Offshore-Vorhaben: Bei der Verlegung von Pipelines und Unterseekabeln werden zunehmend Munitionskörper gefunden. Verstärkte Aktivitäten im Bereich Offshore durch die Energiewende, beispielsweise durch den Bau von Windkraftanalagen und der dazugehörigen Infrastrukturen sowie die Nutzung von Rohstoffen, erhöhen diese Funde.
- Lebensmittelsicherheit: Im Umkreis von Munitionsfundstellen kommen in Meereslebewesen erhöhte Schadstoffkonzentrationen vor, die direkt auf die Munition zurückgeführt werden können. Damit steigt das Risiko, dass es zu Anreicherungen dieser Stoffe in der Nahrungskette kommt. Da einige Stoffe krebserregende Eigenschaften aufweisen, besteht eine besondere Gefahr.
- Weitere: Es gibt weitere Gefährdungs- und Gefahrensituationen wie unkontrollierte Sprengungen, die eine besondere Stresssituation für Meereslebewesen darstellen und in Küstennähe zu größeren Auswirkungen führen können. Hinzu kommt das Risiko durch den Missbrauch von Sprengstoff.
Forschungsprojekte (Auswahl)
Seit vielen Jahren betreiben Forschende, unter anderem beim GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, dem Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (Fraunhofer IGD) in Rostock, dem Leibniz-Institut für Ostseeforschung (IOW) in Warnemünde, an der Christian-Albrechts-Universität (CAU) in Kiel und an der Universität Rostock, vielfältige Untersuchungen zu freigesetzten Schadstoffen und Schwermetallen, der automatischen Objekterkennung, der Modellentwicklung sowie der Entwicklung von robotischer Bergungstechnik.
- DAIMON: Entwicklung eines computergestützten Entscheidungs-Unterstützungssystems (unter anderem auch mit internationalen Partnern)
- MiniMoin/UDEMM: Fahrt des Forschungsschiffs Poseidon auf den Schifffahrtswegen der Ostseeküste und der Lübecker Bucht inklusive von Sediment- und Wasserproben, Ziel unter anderem Belastung mit Munitionsinhaltsstoffen (Projektpartner GEOMAR, CAU)
- RoBEMM: Demonstrator-Projekt zur Entwicklung einer robotischen Bergungstechnik, Ziel unter anderem der Bergung weitestgehend ohne Gefahr für Menschen und Meeresumwelt (gefördert vom BMWK)
- Innovationsnetzwerk Munitec (seit 2016): adressiert die Vernetzung von Forschungseinrichtungen und Unternehmen zur effizienten Detektion von Munitionsaltlasten im Meer; aus dem Netzwerk wurde das Nationale Informationszentrum Chemische Kampfmittel e.V. gegründet (initiiert und geleitet vom Fraunhofer IGD)
- TOxAR – Toxic Alarm with AR-Assistance under water: Entwicklung eines Arbeitsschutzsystems für Unterwasserarbeiten, das während eines Einsatzes in-situ und teils in Echtzeit kontinuierlich Messungen und Analysen schädlicher Substanzen vornimmt und betreffende Personen warnt, sollte die Gefahr einer chemischen Belastung bestehen (BMWK-Projekt, interdisziplinäres Konsortium aus Industrie und Forschung)
- ISSS – Sustainable See and Ocean Solutions: Internationale Innovationsplattform, Ziel unter anderem Säuberung der Meere von Altmunition (initiiert vom Fraunhofer IGD)
- CONMAR: spezifische Fragen der Stoff-Mobilisierung (gefördert vom BMBF, Projektpartner Universität Rostock)
- DAM-CONMAR: entwickelt Modellsimulationen, die Hinweise zur Optimierung von Überwachungs- und Bergungsmaßnahmen geben können (gefördert vom BMBF, Projektpartner GEOMAR, IOW)
- Marispace-X – Maritime Smart Sensor Data Space X: zur Entwicklung der maritimen Datenökonomie und Wertschöpfung beitragen, unter anderem in den Bereichen Windkraftausbau und Munition im Meer (gefördert vom BMWK, Projektpartner Fraunhofer IGD, Universität Rostock, GEOMAR, CAU und Industriepartner)
- Fraunhofer IGD: bearbeitet diverse Projekte zur Verbesserung der automatischen Objekterkennung auf Unterwasserbildern, einsetzbar auch insbesondere zur Identifikation von Munitionsfunden im Meer
- Kompetenznetzwerk OceanTechnologies@Fraunhofer: 15 Fraunhofer-Institute bündeln ihre Kräfte; das Fraunhofer IGD betreibt die Geschäftsstelle, einer von drei Arbeitskreisen widmet sich dem Thema Altmunition im Meer
- IOW und Fraunhofer IGD: arbeiten in Kooperation an der mRNA-Sequenzierung und KI-Auswertung von Wasserproben, um aus dem Mikrobiom auf die Existenz von TNT im Wasser zu schließen
- Digital Ocean Lab (am Fraunhofer IGD): seit Herbst 2022 werden in der ersten Ausbaustufe des UXO-Gartens (UXO-unexploded ordnance) unterschiedliche Munitionsattrappen für Forschungszwecke angeboten; weiterhin wird eine Registriermine der deutschen Marine in der Ostsee ausgebracht
In vielen Projekten arbeiten Unternehmen der maritimen Branche mit. Damit bietet Munition im Meer vielfältige Möglichkeiten zum Technologietransfer. Beispiele für Unternehmen sind:
- Baltic Taucher und Statscheit Kampfmittelräumung: beide sind im Ocean Technology Campus (OTC) in Rostock angesiedelt
- Corvus Works in Kühlungsborn: berät unter anderem Offshore-Netzbetreiber in Fragen der Verbreitung von TNT-Klumpen im Umfeld erodierter Altmunitionskörper durch Strömung
- tkms in Kiel: Planung einer Bergungs- und Entsorgungsplattform
- north.io (formals egeos) in Kiel: Aufnahme und Analyse von munitionsrelevanten Daten durch KI (AmuCad)
- True Ocean in Kiel: maritimer BigData-Spezialist
- EGGERS Kampfmittelbergung in Hamburg
Darüber hinaus gibt es sowohl in Mecklenburg-Vorpommern als auch Schleswig-Holstein eine enge Zusammenarbeit mit den örtlichen Marine-Kommandos.
Wichtige Akteure
In den letzten Jahren wurden verschiedene Institutionen in Norddeutschland aufgebaut, die die unterschiedlichen Handlungsfelder abdecken:
- BLANO: Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Nord- und Ostsee mit der Geschäftsstelle Meeresschutz in Hamburg und dem Expertenkreis Munition im Meer, angesiedelt beim Ministerium für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur in Schleswig-Holstein; die Arbeitsgemeinschaft hat umfangreiche Aufgaben: Seit 2011 verfasst sie den verpflichtenden jährlichen Bericht zur Munitionsbelastung in deutschen Meeresgewässern; überwacht und bewertet kontinuierlich neue Erkenntnisse und beaufsichtigt die Bundesländer AG Kampfmittelräumung (Informationsaustausch, fachliche Abstimmung und digitale Übersicht aller Funde).
- MSZ: Maritimes Sicherheitszentrum Cuxhaven des Bundes und der Länder, die zentrale Meldestelle für Neuentdeckungen von Munition sowie zuständig für die Kampfmittelräumung bei Gefahr in Verzug.
Bewertung und Forderungen der Norddeutschen Wirtschaft
Befördert durch zunehmende technische Innovationen und neue ökonomische und politische Betrachtungen gewinnt die Thematik an Bedeutung. Verbesserte geophysikalische Bildgebungsverfahren helfen bei der Kartierung, der Identifikation und Abbildung der Fundorte und der Munition. Chemische Verfahren helfen bei der Analyse von freigesetzten Stoffen und ihren Mengen sowie der Verteilung im Umfeld.
Auch für die Wirtschaft ergeben sich neue ökonomische Tätigkeitsfelder, beispielsweise bei der Entwicklung von Technologien zur optischen und sensorischen Überwachung und der vermehrten Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI) zur Auswertung und Schlussfolgerung. Auch Technologien zur Bergung der verschiedenen Munitionsarten und ihrer Zerlegung, im besten Fall auf See, werden benötigt. Das Vorhandensein von Munition ist kein deutsches Problem – sondern global in Küstenregionen fast aller Kontinente vorzufinden. Der deutsche Technologievorsprung zur Problemlösung könnte demnach exportiert werden.
KI und neue digitale Technologien ermöglichen zunehmend die genauere Ortung sowie die Klassifizierung der Munition. Um die Gefahren stetig zu verringern, sollten die Bemühungen zur Bergung der Munition in den nächsten Jahren ebenfalls ansteigen. Es gibt, neben der Marine, bereits einige mittelständische Unternehmen, die diese Aufgabe umsetzen können. Bisher sind sie aber nur mit der Bergung von Einzelobjekten befasst, die Räumung der größeren Flächen wurde bisher noch nicht begonnen. Die Werften thyssenkrupp Marine Systems und German Naval Yards (in Kooperation mit Rheinmetall) arbeiten parallel an einer Lösung, mit der die geborgene Munition nicht grundsätzlich vor Ort gesprengt werden muss (außer bei akuter Gefahr), sondern auf einer mobilen, schwimmenden Plattform fachgerecht zersägt und gegebenenfalls verbrannt werden könnte. Damit würden aufwendige Fahrten über Land reduziert bzw. ganz entfallen können.
Bei der ersten Kiel Munition Clearance Week (KMCW) im September 2021 wurden langfristige Ziele formuliert: die Erarbeitung eines Handlungsrahmen für die Politik, die Schaffung von Grundlagen für den Technologie- und Innovationstransfer sowie den Aufbau eines neuen maritimen Wirtschaftszweigs.
Im Vorfeld wurde von der TransMarTech Schleswig-Holstein GmbH eine Studie beauftragt: Um Munition im Meer nachhaltig zu entfernen, werden verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen und eine solide Finanzierung benötigt. Weiterhin ist die Zusammenarbeit aller Akteure in einem organisierten Netzwerk von hoher Bedeutung. Im Detail konnte die Studie zeigen, dass es in Schleswig-Holstein dafür bereits die nötigen Kompetenzen gibt. Dazu gehört Knowhow aus den Bereichen Sensortechnik, autonome Steuerung, Digitalisierung und Big Data. Um ein starkes Netzwerk aufzubauen, braucht es jedoch eine Anschubfinanzierung. Wenn diese zügig zur Verfügung steht, besteht die Chance, Schleswig-Holstein und Norddeutschland nicht nur in Europa, sondern weltweit als Vorreiter in der Munitionsräumung zu positionieren. Bei der Finanzierung ist von besonderer Bedeutung, dass alle Bundesländer solidarisch einzahlen und Lasten nicht unter den Nordländern aufgeteilt werden.
Die fünf drängendsten Aktivitätenfelder sind:
- das Monitoring der Munition sowie der Bergungseinsätze,
- die Weiterentwicklung von Software und KI-Anwendungen für die Problematik,
- die Weiterentwicklung von geeigneter Sensortechnik,
- die Entwicklung und der Bau geeigneter autonomer Unterwasserfahrzeuge (AUVs) und Spezialschiffe sowie
- die Entwicklung und der Betrieb einer thermischen Verwertungsanlage für geborgene Munition.
Die Ampelkoalition im Bund hat das Thema Munition im Meer auf die Agenda gesetzt: „Für die Bergung und Vernichtung von Munitionsaltlasten in der Nord- und Ostsee wird ein Sofortprogramm aufgelegt sowie ein Bund-Länderfonds für die mittel- und langfristige Bergung eingerichtet und solide finanziert.“ So sollen bis zum Jahr 2025 100 Millionen Euro für die Munitionsbergung zur Verfügung stehen.
Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat in seiner Bereinigungssitzung im November 2022 beschlossen, die Mittel für die Beseitigung der Munitionsaltlasten für die Jahre 2023-2027 auf 102 Millionen Euro zu erhöhen. Damit ergibt sich eine Kostendeckelung für die geplanten Projekte zur Bergung, Zerlegung und Verbrennung. Mit diesem Pilotprojekt soll unter anderem eine schwimmende Anlage zur thermischen Vernichtung der auf See geborgenen Munition entwickelt und gebaut werden. Das zuständige Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz hat geplant, Anfang 2024 die Ausschreibund zu starten und im Verlauf von 2024 den Auftrag zu vergeben. Die Ausschreibung ist in Form einer Innovationspartnerschaft geplant.
Diese Ausschreibung sollte so gestaltet sein, dass sich Unternehmen aus Norddeutschland, die bereits Erfahrungen mit diesem Thema haben, bewerben können. In jedem Fall sollte die Vergabe im vorgestellten Zeitplan erfolgen. Mit der Plattform können Erfahrungen gesammelt und die Verfahren und Technologien verbessert werden.
Zusätzlich muss der gesetzliche Rahmen angepasst werden. Gegenwärtig ist es nicht überall gestattet, Munition aus dem Meer zu bergen, außer es besteht akute Gefahr oder die Munition steht einem Offshore-Interesse gegenüber. Wenn die Munition aus Nord- und Ostsee grundsätzlich geborgen werden soll, müssen diese Regelungen, bei Bedarf, entsprechend angepasst werden. In Schleswig-Holstein beispielsweise steht diese Änderung kurz vor dem Abschluss.
Zusammenfassung
Zu lange war die vorrangige Meinung der Politik, dass das Problem der Munition im Meer auf dem Grund der Meere zu belassen sei. Mit den heutigen Forschungsergebnissen und der Entwicklung neuer Technologien findet ein Wandel dieser Haltung statt. Diese Chance sollte der Norden zum Schutz von Schifffahrt, Offshore-Aktivitäten, Tourismus und dem Umgang mit dem Meer und den maritimen Ressourcen nutzen. Mit einem zügigen Handeln in diesem Feld kann die maritime Wirtschaft im Norden profitieren und neue Geschäftsfelder erschließen. Dazu muss die Politik nun Rahmenbedingungen und gesetzliche Regelungen schaffen, mit denen die Unternehmen Lösungen entwickeln können, um den Meeresboden von Munitionsaltlasten zu befreien.