Material und Magie
Installationen aus Baustoffen oder aus Objekten der Firmengeschichte: Das Projekt KunstBetriebe bringt Unternehmen und Künstler aus dem Hansebelt und Dänemark bereits zum dritten Mal zusammen. Neben besonderen Kunstwerken entstehen kreative Prozesse und neue Perspektiven auf das eigene Schaffen im Unternehmen – etwa wenn 100.000 abgeschossene Patronen zu einem goldenen Teppich verschmelzen.
Weitere Informationen zu allen entstandenen Kunstwerken finden Sie unter KunstBetriebe3.
Kunst aus Historie
Nach Dienstschluss bin ich mit meiner Minitaschenlampe neugierig in die dunkle Kundenhalle geeilt und habe geschaut, was bereits entstanden ist", sagt Frederike Rostek. Die Mitarbeiterin der Sparkasse Holstein hatte mit rund 20 Kollegen Dutzende Gegenstände für den Installationskünstler Georges Adéagbo gesammelt, der für KunstBetriebe3 nach Eutin gekommen ist.
In der Sparkasse baut der aus Westafrika stammende Adéagbo bei laufendem Kundengeschäft seine Installation auf. Er integriert die teils persönlichen Objekte der Mitarbeiter und verknüpft sie mit eigenen Exponaten. Rostek hat neben ihrem alten Namensschild auch eine Zigarre, ein Archivfundstück, beigesteuert. "Zigarren wurden früher gemeinsam mit Kunden nach einem wichtigen Geschäftsabschluss genossen, ja zelebriert. Diese Zigarre steht für mich für den persönlichen Umgang mit unseren Kunden, aber auch für den Wandel der Zeit. Es ist toll, an einem Kunstwerk mitwirken zu können", sagt Rostek, die seit 1992 bei der Sparkasse ist. Beim Sammeln der Objekte aus der Sparkassenhistorie seien auch viele schöne Geschichten unter den Mitarbeitern wieder aufgekommen.
Adéagbo ordnet die Objekte neu an – rein assoziativ, indem er nach visuellen Metaphern sucht und sich vor Ort inspirieren lässt. Dabei verknüpft er etwa afrikanische Geldscheine und Kaurimuscheln mit deutschem Notgeld von 1920, auf dem der Eutiner Rosengarten zu sehen ist. Adéagbo möchte neue Blickwinkel finden, Kulturtransfer und Fragen anregen.
Künstler Georges Adéagbo (rechts) mit Stephan Köhler, Chairman des Kultur Forums Süd Nord
Von links: Künstlerin Almut Linde, Projektinitiatorin Bettina Thierig, Bockholdt-Geschäftsführer Thomas Ehlers und Bente Schmidt, Referentin für Unternehmenskommunikation bei Bockholdt
Thilo Gollan und Janine Gerber
Künstler Thomas Judisch (links) und Geschäftsführer Jens Tesnau
Dabei geht es ihm auch um Asymmetrien der Finanzmärkte zwischen Afrika und dem Westen seit der Kolonialzeit, aber genauso um die Rolle einer modernen Bank. "Eine Bank sollte großzügig über den Tellerrand schauen und Menschen helfen. Kredite öffnen neue Wege und Möglichkeiten", sagt Adéagbo, der Jura und BWL studiert hat. Die Sparkasse Holstein sei mit ihrem großen gesellschaftlichen Engagement daher ein idealer Partner für das Projekt.
Teppich aus Munition
Die Werkhalle eines Recyclingunternehmens: Zwischen unzähligen Rohren, Blechen und Metallen blitzt etwas auf dem Boden hervor, das auf den ersten Blick da nicht so recht hinpasst. Ein geflochtener, golden leuchtender Teppich aus mehreren hundert Patronenhülsen, filigran angeordnet in der Form eines Schachbretts.
Künstler Thomas Judisch (links) und Geschäftsführer Jens Tesnau
Von links: Künstlerin Almut Linde, Projektinitiatorin Bettina Thierig, Bockholdt-Geschäftsführer Thomas Ehlers und Bente Schmidt, Referentin für Unternehmenskommunikation bei Bockholdt
Thilo Gollan und Janine Gerber
Künstler Georges Adéagbo (rechts) mit Stephan Köhler, Chairman des Kultur Forums Süd Nord
Daneben über eine Holzkiste gebeugt steht Thomas Judisch. Der junge Künstler, der Bildhauerei studiert hat, sortiert auf dem Betriebsgelände der Gustav Tesnau GmbH & Co. KG alte Patronen nach Größe und Aussehen, an die 100.000 Stück werden es wohl sein. Eigentlich hat das Eutiner Unternehmen die Übungsmunition von der Polizeischule Eutin erworben, um sie zu einem guten Kurs wieder zu verkaufen. "Die Patronen haben etwas Magisches, wenn sich das Licht im Altmessing bricht. Durch die Anordnung sieht man erst auf den zweiten Blick, dass es ein brutales Material ist", so Judisch.
Geschäftsführer Jens Tesnau, der das Familienunternehmen in dritter Generation leitet, hatte gleich einen Bezug zu den Patronen: "Unsere Firmengeschichte ist auch durch die Weltkriege geprägt – mein Großvater begann Rohstoffe wie Lumpen, Papier und Metalle zu sammeln, im Zweiten Weltkrieg traf mein Vater sogar einen Mitarbeiter, der ihm helfend seine gefütterten Schuhe gab." Mit der Installation möchte Tesnau auf die Gefahren des Krieges hinweisen – und seine soziale Verantwortung als Unternehmer wahrnehmen. "Durch die Installation aus dem Material, mit dem wir sonst Geld verdienen, sehen unsere Mitarbeiter die Firma plötzlich mit anderen Augen. Ich hoffe, wir stoßen auch bei den Ausstellungsbesuchern etwas an", sagt Tesnau.
Fraktales Bild
Auf dem Parkplatz der Kulturwerft Gollan hievt Janine Gerber ein riesiges Bigbag aus dem Kofferraum. Nach und nach kommen verbogene Bleistücke, eine hellgrüne Folie und Plastiksteckdosen zum Vorschein. Die Recyclingprodukte stammen vom Gollan-Betriebsgelände in Beusloe bei Neustadt, wo die bildende Künstlerin die Recyclingmaterialien aufgespürt und eingesammelt hat. In den kommenden Wochen hat Gerber auf dem Gelände der Kulturwerft in Lübeck ihr Atelier, wird die Materialien dort reinigen, vielleicht lackieren und als Installation neu zusammensetzen.
Thilo Gollan und Janine Gerber
Von links: Künstlerin Almut Linde, Projektinitiatorin Bettina Thierig, Bockholdt-Geschäftsführer Thomas Ehlers und Bente Schmidt, Referentin für Unternehmenskommunikation bei Bockholdt
Künstler Thomas Judisch (links) und Geschäftsführer Jens Tesnau
Künstler Georges Adéagbo (rechts) mit Stephan Köhler, Chairman des Kultur Forums Süd Nord
Beim Schweißen haben vorbeischauende Mitarbeiter bereits spontan Hilfe angeboten. "Wenn das Material arbeitet, arbeitet auch mein Kopf ", sagt Gerber, die bereits eine erste Idee hat. "Eventuell möchte ich Assoziationen von Landschaften wieder in die Materialien zurückführen." Analog zum umweltfreundlichen Recyclingprozess, bei dem getrennte Baustoffe ebenfalls neu zusammengesetzt werden.
Geschäftsführer Thilo Gollan sieht zwischen künstlerischem und unternehmerischen Schaffen ebenso Parallelen: "Die Abfallwirtschaft ist für mich wie ein fraktales Bild. Wenn ich einen Baustoff auseinandernehme, kann ich dabei unendlich in die Tiefe gehen und entdecke immer neue Materialeigenschaften". Die Teilnahme an KunstBetriebe sei daher auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen. "Kunst kann in Betrieben etwas anstoßen, vor allem wenn Mitarbeiter vor der Installation stehen bleiben und Fragen stellen – so ein Unternehmen ist ja auch ein geistiges Konglomerat", sagt Gerber ergänzend.
Verborgenes mit Hochdruck sichtbar machen
Auf den ersten Blick haben ein Hochdruckreiniger, ein Sandstrahler, Holz und Stahlblech wenig mit Kunst zu tun. Almut Linde ist es gelungen, diese Komponenten zu einem malerischen Prozess zusammenzuführen. Bei der Bockholdt KG in Lübeck bearbeitete die Künstlerin Holzbohlen beim Reinigungsunternehmen. Als Teil des künstlerischen Prozesses zeigte Linde die Kräfte der Reinigungsmaschinen und legte mit ihrem Druck von 2500 bar die Struktur des Materials offen. "Der Reiniger wurde so zum Aktionpainter", sagt Linde.
Von links: Künstlerin Almut Linde, Projektinitiatorin Bettina Thierig, Bockholdt-Geschäftsführer Thomas Ehlers und Bente Schmidt, Referentin für Unternehmenskommunikation bei Bockholdt
Thilo Gollan und Janine Gerber
Künstler Thomas Judisch (links) und Geschäftsführer Jens Tesnau
Künstler Georges Adéagbo (rechts) mit Stephan Köhler, Chairman des Kultur Forums Süd Nord
Diese Idee des Projektes "KunstBetriebe3" entspricht der Arbeitsweise von Linde: "Ich arbeite sehr gern interdisziplinär und kollaborativ. Dabei gehe ich an Orte, die zu unserer Welt gehören, aber der allgemeinen Wahrnehmung verborgen bleiben." Auch die eigentliche Arbeit der Bockholdt KG bleibe manches Mal "verborgen", weil Bockholdt den Kunden Sauberkeit anbietet, der eigentliche Reinigungsprozess aber nicht immer sichtbar ist. Den Prozess der Reinigung einmal umzukehren und die Kraft der eingesetzten Maschinen bei Bockholdt zu demonstrieren, war die künstlerische Idee von Almut Linde. Dafür hat die Künstlerin die Mitarbeiter von Bockholdt mit eingebunden. Denn Menschen aus dem Alltag in die Produktion ihrer Kunstwerke einzubinden, ist eine künstlerische Methode, die Almut Linde als Professorin für interdisziplinäre Praxis an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel entwickelt hat.
Bockholdt-Geschäftsführer Thomas Ehlers ist beeindruckt: "Die Kraft unserer Maschinen für einen künstlerischen Prozess zu verwenden, ist für mich und unsere Mitarbeiter etwas komplett Neues. Es hat uns viel Spaß gemacht, die Maschinen einmal anders zu verwenden und damit auch das präzise Können unserer Mitarbeiter unter Beweis zu stellen".
Benjamin Tietjen
Veröffentlicht am 7. Mai 2019