Region - Ausgabe Mai 2024

Europa stärken

Wenn die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) im Juni 2024 das Europäische Parlament wählen, werden entscheidende Weichen für die europäische Wirtschaft gestellt. Damit Europa im globalen Vergleich nicht abgehängt wird, braucht es unter anderem wettbewerbsfähige Energiepreise und weniger Bürokratie.
Von Binnenmarkt über Bürokratieabbau bis hin zu Handelsabkommen: Bei der Europawahl 2024, die in Deutschland am 9. Juni stattfindet, geht es um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Europa sowie den Erhalt und die Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe. „Oberstes Ziel muss die Verbesserung der Attraktivität des Standorts Europa für Unternehmen sein. Wir haben in den letzten Jahren massiv an Wettbewerbsfähigkeit verloren, das bestätigen alle DIHK-Umfragen“, sagt Freya Lemcke, Leiterin der Vertretung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) bei der EU in Brüssel. Als Ursache sieht sie unter anderem umfassende Regulierungen durch die EU und das Fehlen effektiver Schritte, um Unternehmertum in der EU zu erleichtern.
Freya Lemcke, Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK)
„Die EU hat eine starke wirtschaftliche Basis und durch den integrierten Binnenmarkt auch im globalen Vergleich viele Vorteile. Wir brauchen nun Maßnahmen, die in Zukunft für erschwingliche und sichere Energie sorgen, die Planungssicherheit für Investitionen und Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz schaffen, die Fachkräfte sichern und die überbordende Bürokratie abbauen“, so Lemcke. Um das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit ressortübergreifend nicht aus den Augen zu verlieren, schlägt sie unter anderem vor, einen der Geschäftsführenden Vizepräsidenten der EU-Kommission zum Vizepräsidenten für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit zu ernennen, der entsprechende Maßnahmen koordiniert und verantwortet.

Bürokratie hemmt Innovationen

Dringender Handlungsbedarf besteht vor allem beim Bürokratieabbau. „Praxisferne und komplexe Vorschriften haben ihren Ursprung oftmals in Brüssel“, bestätigt Michael Matt, Präsident der IHK in Regensburg. Das zeigt beispielsweise die „One in, one out“-Regel, die die EU-Kommission als Ziel ausgegeben hatte und die als dringend benötigte Bürokratiebremse dienen sollte. Mit der Umsetzung kommt die EU jedoch nicht voran – im Gegenteil. Statt weniger kommen immer neue Vorgaben aus Brüssel.
Michael Matt, IHK-Präsident
Das zeigt sich etwa am Beispiel Klimaneutralität: Um das europäische Nachhaltigkeitsziel zu erreichen, braucht es nicht nur einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien und ihrer In- frastruktur sowie eine sichere, günstige und grüne Energieversorgung für die gesamte Wirtschaft. Gleichzeitig müssen Bürokratielasten reduziert werden, damit Betriebe mehr Ressourcen für die klimagerechte Umgestaltung ihrer Geschäftsaktivitäten haben. Doch davon ist Europa gegenwärtig weit entfernt: Stattdessen sind durch den europäischen Green Deal, mit dem die EU-Mitgliedstaaten bis 2050 klimaneutral werden wollen, für die Unternehmen zahlreiche neue Berichts- und Informationspflichten entstanden.

Nachbesserungen nötig

Nachbesserungen sind auch an anderen Stellen dringend erforderlich: „Einige Gesetzesakte wurden sehr schnell und ohne angemessene Folgenabschätzung erlassen, insbesondere die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gesetzen wurden nicht geprüft. Daher sieht man Inkohärenzen, teilweise Zielkonflikte, die Unternehmen, aber auch Behörden bei der Umsetzung auffallen“, weiß DIHK-Expertin Lemcke. „Beispiele sind der CO2-Grenzausgleichsmechanismus CBAM oder die EU-Medizinprodukteverordnung aus der vorherigen Legislatur, für die es noch keine Nachbesserung gibt. Hier müssen die Gesetzgeber ehrlich sein und schauen, was funktioniert und wo nachgebessert werden muss.“ Auch in Sachen Digitalisierung ergeben sich für Unternehmen viele Fragen. Zwar fand hier in der vergangenen Legislaturperiode eine umfangreiche Gesetzgebung statt, diese hinterlässt jedoch zahlreiche Rechtsunsicherheiten und ungenügend aufeinander abgestimmte Regeln. Deshalb fordert die Wirtschaft eine intensivere Begleitung der Unternehmen bei der Umsetzung digitaler Maßnahmen, beispielsweise durch Hilfestellungen und Guidelines.
Ein weiteres drängendes Thema, dem sich die EU in den kommenden fünf Jahren verstärkt widmen muss, ist der europaweite Fachkräftemangel. Dabei wird insbesondere dieverbesserte Rekrutierung von Arbeits- und Fachkräften aus Drittstaaten durch beschleunigte und vereinfachte Verfahren stärker in den Fokus rücken. Auch die Arbeitsmobilität innerhalb der EU, die Förderung von lebenslangem Lernen und einer praxisnahen beruflichen Bildung sowie die Förderung der digitalen Transformation in der Bildung inklusive Praxishilfen für nationale Umsetzungen der relevanten EU-Rechtsakte wie dem „AI Act“ und dem „Data Act“ werden eine Rolle spielen.

KMU hoffen auf Entlastungen

Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen erhoffen sich, stärker in den Dialog über neue Gesetzesvorhaben auf EU-Ebene mit einbezogen zu werden. Denn häufig wird die Umsetzbarkeit neuer Regelungen für den Mittelstand nicht mitgedacht. „Die aktuelle EU-Kommission hat Entlastungen für KMU lediglich angekündigt und einige Regulierungen vorgeschlagen, die vereinfacht werden können. Wir hoffen, dass die nächste Kommission das ausbaut, von den Ankündigungen hin zu konkreten Entlastungen“, sagt Lemcke. Neue Gesetze sollten nach dem sogenannten „Think small first“-Prinzip vorab auf ihre Auswirkungen und Umsetzbarkeit für KMU geprüft werden. Wichtig sei auch die Ernennung eines EUMittelstandsbeauftragten, der künftig die Interessen der KMU in Brüssel vertreten soll.
Die Herausforderungen sind zahlreich, doch es bieten sich viele Ansatzpunkte für eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Jeder zweite Euro in Ostbayern werde im internationalen Geschäft verdient, sagt IHK-Präsident Matt. Die regionalen Betriebe profitierten dabei insbesondere vom EU-Binnenmarkt. „Eine gemeinsame Politik sowie eine geeinte EU sind nach wie vor die beste Basis, um im globalen Wettbewerb zu bestehen.“ Besinnt sich Europa auf die Stärke des Binnenmarktes und verliert sich nicht in kleinteiliger Regulierung, können die entscheidenden Weichen für die Zukunft gestellt werden.

So funktioniert die Europawahl

Wann findet die Europawahl 2024 statt?
Die Europawahl findet von 6. bis 9. Juni 2024 in allen 27 EU-Mitgliedstaaten statt. In Deutschland wird am Sonntag, 9. Juni, gewählt. Eine Wahl ist auch per Brief oder aus dem Ausland möglich. Die Europawahl findet alle fünf Jahre statt.
Wer darf wählen?
Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU). Das Wahlalter in Deutschland wurde von 18 auf 16 gesenkt, für andere Länder gelten andere Altersgrenzen.
Wer wird gewählt?
Das Europäische Parlament. Es ist das einzige EU-Organ, das direkt vom Volk gewählt wird. Gemeinsam mit den Vertretern der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten gestalten und beschließen die Abgeordneten des Europäischen Parlaments neue Gesetze. Außerdem genehmigen sie den EU-Haushalt und wählen die EU-Kommissare und den Präsidenten der Europäischen Kommission, nachdem der Europäische Rat – bestehend aus den Staatsund Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten – eine Kandidatin oder einen Kandidaten für das Amt vorgeschlagen hat.
Wer bildet das Parlament?
In der kommenden Wahlperiode steigt die Zahl der Abgeordneten von 705 auf 720, wie das Parlament im September 2023 beschlossen hat. Grund dafür ist eine Anpassung an die Bevölkerungsentwicklung in einzelnen Ländern. Die Mitglieder des Parlaments vertreten etwa 450 Millionen Europäerinnen und Europäer. Wie bereits bei der letzten Wahl 2019 entfallen 96 Mandate auf Abgeordnete aus Deutschland, die Höchstzahl der einem Mitgliedsstaat zustehenden Mandate. Deutschland ist damit das Land mit den meisten Abgeordneten.
Wie wird gewählt?
Gewählt wird nicht nach einem einheitlichen europäischen Wahlrecht, sondern nach nationalen Wahlgesetzen. In der Bundesrepublik regeln das Europawahlgesetz und die Europawahlordnung das Wahlverfahren. Gleich sind nur die Prinzipien der Wahl: Sie muss allgemein, frei, direkt und geheim sein.
Gibt es Sperrklauseln?
Anders als in einigen anderen EU-Mitgliedstaaten gibt es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel. Das bedeutet, dass alle in der Bundesrepublik Deutschland gewählten Parteien und politischen Vereinigungen an der Verteilung der auf Deutschland entfallenden Sitze im EU-Parlament teilnehmen.

Autorinnen: Mascha Dinter und Ramona Bayreuther