Praxis & Ratgeber

Der digitale Produktpass kommt

Wie wäre es, wenn es von jedem Produkt einen digitalen Zwilling gäbe, der auf einen Blick alle relevanten Information des Produkts über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg anzeigt? Das strebt die EU mit dem digitalen Produktpass (DPP) an, der ab 2026 Realität werden soll. Die Idee hat die Gelsenkirchener Unternehmensgruppe ZINQ in einem Pilotprojekt bereits mit einem selbst entwickelten Modell, dem Digital Circular Product Pass (DCPP) durchdekliniert. (Von Melanie Rübartsch)
Dabei geht es konkret geht es um Lkw-Fahrgestelle für Schmitz Cargobull, einem Hersteller von Sattelaufliegern und Trailern. Für die Herstellung eines Fahrgestells wird Stahl und eine verzinkte Oberfläche gebraucht, die den Stahl vor Korrosion schützt. Dafür wurde der produktbezogene CO2-Fussabdruck bestimmt, den die Oberfläche über den gesamten Lebenszyklus hinterlässt. Dabei können lange Lebensdauer und Recycling bis zu 40 Prozent der CO2-Einsparungen ausmachen. Ebenfalls berücksichtigt wurden alle CO2-Fussabdrücke aus der Lieferkette: für das eingesetzte Zink und die im Prozess benötigten Energieträger.
Außerdem wurde der Lebenszyklus-CO2- Fußabdruck für den Stahl, aus dem die Chassis hergestellt sind, bestimmt. Ein DCPP von ZINQ ergänzt den Produktlebenslauf um verlässliche Informationen zur feuerverzinkten Oberfläche. Basis all dieser Pässe sind drittvalidierte und zertifizierte Umweltproduktdeklarationen (EPD) ergänzt um weitere zertifizierte Produktdokumentationen wie das zirkuläre Produktdatenblatt. Schmitz Cargobull schließlich kann die komplette Reise über den Lebenszyklus seines Trailerchassis  hinweg über die Reihe der DCPP aus den zugelieferten Komponenten nachweisen.

DPP soll alle relevanten Produktdaten enthalten

Mit dem digitalen Produktpass will die EU-Kommission erreichen, dass auf dem europäischen Binnenmarkt mehr umweltfreundlichere Produkte zugelassen und in Verkehr gebracht werden. Der DPP wird ein Datensatz, aus dem Konsumenten zukünftig Informationen zu in Produkten eingesetzten Materialien, deren Herkunft und Umweltauswirkungen, zur Lebensdauer und Reparierbarkeit des Produktes selbst sowie dessen Wiederverwertungsmöglichkeiten oder - falls notwendig - dessen Entsorgung entnehmen können. Was genau im Produktpass stehen muss, ist noch offen. Die EU-Kommission wird das für verschiedene Produktkategorien einzeln festlegen. Ab 2026 sollen die ersten DPP – zunächst für Batterien – verpflichtend eingeführt werden. Parallel fördert die EU bereits erste Produktpassansätze für die Bereiche Textilien, Automobil und Elektrogeräte. Dabei sind alle Ansätze bislang vom Endprodukt, also ”Top-Down” gedacht.
Der Mittelstand als bedeutender Sektor im Bereich der Produktherstellung und Zulieferung wird besonders von den Auswirkungen und Chancen des DPP betroffen sein. Aus diesem Grund veranstaltete das nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium eine 1. Fachkonferenz zum Digitalen Produktpass am 2. November 2023. Hier wurden in Workshops Chancen und Risiken beleuchtet und eigene Ansätze entwickelt, die eine faire Teilhabe des Mittelstands an der Entwicklung von Produktpässen sichern sollen.
Lars Baumgürtel, CEO der ZINQ Group und Mitglied im Präsidium der IHK Nord Westfalen, war als Redner ebenfalls vor Ort. Für ihn geht kein Weg an digitalen Produktpässen vorbei, wenn eine zirkuläre Transformation gelingen soll. „Und nur über diese Transformation ist eine echte klimaneutrale und rohstoffschonende Wirtschaft möglich“, sagt er. Net Zero, also Null Emissionen, reiche nicht. „Wir brauchen Triple Zero – null Emissionen, null Verschmutzung und null Abfall. Das geht nur mit einer konsequent umgesetzten Kreislaufwirtschaft.“
Der DPP bringt dabei Vorteile für alle Beteiligten. Für Unternehmen bietet er die Möglichkeit, Lieferketten effizienter zu gestalten, zu verwalten und gezielt zu verbessern. Der Gesetzgeber kann bei der Kontrolle umweltrechtlicher Pflichten auf die notwendigen Informationen zugreifen. Und die Verbraucher bekommen vollen Einblick in den gesamten Lebenszyklus eines Produkts, was Vertrauen und bewusstere Kaufentscheidung fördern kann.  
„Letzteres wiederum dürfte am Ende jedoch vor allem durch den Preis erreichbar sein“, prognostiziert Baumgürtel. Aber auch hier könnte der DPP helfen. „Vorausgesetzt, es entsteht ein System, in dem Produkte mit einer durch den DPP nachgewiesenen hohen zirkulären Qualität günstiger werden als weniger zirkuläre“, so der Vordenker. Eine Idee: Einführung von Kreislauffähigkeitszertifikaten analog den bereits bestehenden CO2-Zertifikaten, die die gesamten Umweltauswirkungen eines Produktes über den gesamten Lebenszyklus und der Wiederverwertung der enthaltenen Materialien spiegeln.

Datenmodellierung soll „Bottom-Up-Ansatz“ folgen

Bei der Umsetzung des DPP und der Modellierung der Daten, die er enthalten soll, plädiert der ZINQ-Chef für einen allgemeinen, also vom Produkt unabhängigen, „Bottom-Up-Ansatz“, bei dem die Datensouveranität bei den überwiegend mittelständischen Zulieferern verbleibt und die Produktdaten von unten nach oben in der Lieferkette weitergegeben werden: „ Bei der Erhebung der Daten muss der Schutz des geistigen Eigentums gesichert sein. Das ist jedoch fraglich, wenn zum Beispiel Zulieferer über Anforderungen, die die Hersteller „top-down“, also von oben nach unten definieren, zur Offenlegung von Produktionsverfahren oder Produktformeln genötigt werden.“ Sinnvoll sei zudem, auf bestehende Zertifikate und Instrumente aufzusetzen, die Unternehmen bereits jetzt nutzen, um die Umweltverträglichkeit und Kreislauffähigkeit ihrer Produkte nachzuweisen. „Das sind zum Beispiel Product Circularity Data Sheets (PCDS), Zertifizierungen wie Cradle-to-Cradle oder die normierten Environmental Product Declarations, die zusammen eine geprüfte und nachprüfbare Datengrundlage für den Digitalen Zirkulären Produktpass (DCPP) abbilden,” so Baumgürtel.