Positionspapier: Sustainable Finance
Ausgangslage
Die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft stellt die Unternehmen vor gewaltige Herausforderungen – auch im Zusammenspiel mit Energiekrise, Ukraine-Krieg, Fachkräftemangel und Lieferkettenstörungen. Eine Umlenkung in eine nachhaltige und gleichermaßen wettbewerbsfähige Wirtschaft kann nur gelingen, wenn die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales in Einklang gebracht werden. Nicht zu vermeidende Zielkonflikte sollten mit Augenmaß gelöst werden, ohne eine der drei Säulen in ihrem Fundament zu gefährden. Unter Berücksichtigung dieses Leitsatzes bekennen sich die Unternehmen der IHK Nord Westfalen in ihrem Eckpunktebeschluss „Unternehmensverantwortliche Nachhaltigkeit“ aus Juni 2021 und dem im März 2023 verabschiedeten Zukunftspapier „Nachhaltige Wirtschaft Nord-Westfalen“ zu ihrer nachhaltigen Verantwortung und treiben den Transformationsprozess aktiv voran. (Stand 1. Juni 2023)
Umsetzungsstand Sustainable Finance
Die EU sieht das Maßnahmenpaket „Sustainable Finance“ als wichtigen Hebel, die Kapitalflüsse zur Erreichung ihrer klima- politischen Ziele neu auszurichten. Im Kern geht es darum, dass Finanzinstitute zukünftig Nachhaltigkeitsaspekte bei der Vergabe von Krediten berücksichtigen müssen. Gelder sollen in nachhaltige Bereiche und Produktionen gelenkt werden.
Mit der EU-Taxonomie als zentrales Steuerungsinstrument sollen wirtschaftliche Aktivitäten anhand anspruchsvoller Kriterien danach eingestuft werden, ob sie zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen oder nicht. Dabei orientiert sich die Taxonomie an den sechs Umweltzielen Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, Wasser- und Meeresschutz, Kreislaufwirtschaft, Vermei- dung der Umweltverschmutzung sowie Schutz von Biodiversität und Ökosystemen und berücksichtigt zudem soziale Ziele und Governance-Aspekte. Zahlreiche Zielkonflikte, der dynamische Wandel und sich verschiebende Standards führen in Verbindung mit dem Kriterienkatalog zu einem herausfordernden Komplexitätsgrad des Regelwerks. Die notwendige Erhebung der abgefrag- ten technischen Daten wird aufgrund ihres Umfangs und Detaillierungsgrades hohe Aufwendungen in den Unternehmen verursachen.
Flankiert wird die EU-Taxonomie durch umfangreiche Berichts-, Offenlegungs- und Prüfungspflichten zu nachhaltigen Unterneh- mensaktivitäten gemäß der im Dezember 2022 verabschiedeten Corporate Sustainable Reporting Directive (CSRD). Aktuell gilt die Berichtspflicht nur für große Unternehmen mit über 500 Beschäftigten und für Finanzinstitute. Ab dem Geschäftsjahr 2025 müssen auch Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten bei Überschreitung weiterer Größenmerkmale und ab 2026 auch KMU, die sich am Kapitalmarkt finanzieren, einbezogen werden. Die Berichtsanforderungen sollen durch die European Sustain- ability Reporting Standards (ESRS) operationalisiert werden, die im Entwurf sehr weitgehend und detailliert ausgestaltet sind.
Finanzinstitute müssen gemäß der Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR) Angaben zur Nachhaltigkeit ihrer Kreditportfolios machen. Alle gemäß Taxonomie bewerteten wirtschaftlichen Aktivitäten fließen in die Ermittlung der zentralen Kennzahl Green Asset Ratio (GAR) ein, die ausweist, wie hoch der nachhaltige Anteil an den Gesamtaktiva der Kreditinstitute ist.
Von den Offenlegungs- und Datenerhebungspflichten werden nach und nach auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) durch Anforderungen seitens der Kreditinstitute betroffen sein, wenn diese eine Zuordnung von Finanzierungen zu den nachhaltigen Aktiva anstreben. Ein solcher Trickle-Down-Effekt ergibt sich zusätzlich auch durch Datenabfragen großer Geschäftspartner im Rahmen der Wertschöpfungsketten, sei es durch die CSRD-Berichtspflichten oder durch die Anforderungen des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG).
Position der regionalen Wirtschaft in Nord-Westfalen
Die vielfältige Struktur der Unternehmerschaft im Bezirk der IHK Nord Westfalen - oftmals als Tausendfüßler charakterisiert – führt naturgemäß zu unterschiedlichen Betrachtungsweisen. Die in der Mehrzahl kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sowie größere mittelständisch geprägte Familienbetriebe verschiedenster Branchen zeichnen sich durch eine hohe Anpassungsfähigkeit und Innovationsstärke aus und haben sich in den letzten Jahren als besonders krisenfest gezeigt. Teile der Region sind industriell und noch vom Strukturwandel geprägt. Die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft ist für den industriellen Sektor im Hinblick auf die anspruchsvollen Klima- und Umweltziele ökologisch und ökonomisch besonders herausfordernd: Innovative Verfahren sind gefragt, Prozesse und ganze Geschäftsmodelle müssen vollständig neu gedacht werden, große Investitionen sind insbesondere für die Umstellung auf eine nachhaltige Energieversorgung notwendig. Größere Produktionsbetriebe stehen darüber hinaus oftmals im internationalen Wettbewerb und sind in Lieferketten eingebunden. Viele Betriebe sind durch die Multikrisen der letzten Jahre an der Grenze der Belastbarkeit angekommen und sorgen sich um die Zukunftsfähigkeit ihrer Unternehmen mit gravierenden Folgen auf Arbeitsplätze und Wohlstand.
Die Breite der Mitgliedsunternehmen der IHK Nord Westfalen bekennt sich aktiv zur Notwendigkeit einer nachhaltigen Unternehmensführung, dafür strebt ein Großteil sogar eine Vorreiterrolle an. Auch das mit dem Sustainable-Finance-Ansatz verfolgte Ziel, die Nachhaltigkeit von Wirtschaftsaktivitäten in den Finanzierungs- und Förderbedingungen zu berücksichtigen, wird von einer großen Mehrheit der Unternehmen mitgetragen, wenngleich es hierzu vereinzelt auch ablehnende Haltungen gibt. Die Betriebe sprechen sich allerdings für eine vorbehaltlose Technologieoffenheit aus. Sie sind davon überzeugt, dass nur so die Ziele erreicht werden können und die Rolle Deutschlands als Innovationsstandort gestärkt wird.
Während die Zielsetzung von Sustainable Finance damit größtenteils aktiv unterstützt oder zumindest mitgetragen wird, bereitet der aktuelle Umsetzungsstand des EU-Regelwerks fast allen Unternehmen große Sorgen. Konkret werden folgende Gefahren gesehen:
- ein unverhältnismäßiger Bürokratieaufbau durch Komplexität und Praxisferne
- hohe Datenerhebungskosten und -kapazitäten
- Überforderung und Benachteiligung des Mittelstandes
- Nachteile im internationalen Wettbewerb
- Erschwernisse und Konditionsverschlechterungen bei Finanzierungen und Fördermittel-Vergabe bis hin zu Ausschlüssen von ganzen Branchen oder Technologien mit negativen Kreislaufeffekten zwischen Finanz- und Realwirtschaft
- Benachteiligung von Branchen mit aktuell hohen Emissionen.
Die sich hieraus ergebenden Forderungen, als breiter Konsens der regionalen Wirtschaft, haben wir in den folgenden Leitlinien zusammengefasst:
- 1. Sustainable-Finance-Regelungen praxisgerecht vereinfachen
Sowohl die Taxonomie als auch die in den ESRS-Entwürfen formulierten Berichtspflichten sollten bei ihrer Weiterentwicklung praxisorientiert vereinfacht, gestrafft und so ausgestaltet werden, dass sie dynamisch und zeitnah an zukünftige Entwicklungen angepasst werden können. Ein aufgrund der erheblichen Komplexität nur schwer verständliches praxisfremdes „Bürokratie- Monster“ mit unverhältnismäßigen Kosten für die Datenerhebung und -dokumentation wird die Transformation eher hemmen als fördern und kann eine positive Grundeinstellung für Belange der Nachhaltigkeit ins Gegenteil verkehren.Konkrete Ansatzpunkte zur Optimierung werden insbesondere in der Vermeidung von Doppelregulierungen gesehen. Wenn Sachverhalte bereits gesetzlich klar geregelt sind, sollte hierüber nicht noch einmal im Detail berichtet werden müssen. Auf Vorgaben zu unwesentlichen Sachverhalten sollte zugunsten der Klarheit und Verständlichkeit verzichtet werden. Eine stärkere Verweismöglichkeit auf anerkannte Standards könnte das Berichtswesen ebenfalls vereinfachen und Mehrfachaufwände reduzieren. Im Detail sind auch die Grundsätze zur doppelten Wesentlichkeit insbesondere im Zusammenhang mit dem breiten Adressatenkreis des Berichtswesens kritisch zu sehen. Planungsrechnungen zu Umweltauswirkungen auf das Unternehmen (outside-in-Perspektive) sind aufgrund ihrer Komplexität und Unsicherheit über zukünftige Entwicklungsszenarien nur schwer umsetzbar und in ihrer Aussagekraft fraglich. Dieses führt zu einer Rechtsunsicherheit für die Unternehmensverantwortlichen, insbesondere wenn bei der Berichtspflicht zusätzlich zum üblichen Stakeholder-Kreis die Interessen weiterer sonstiger „undefinierter“ Organisationen zu berücksichtigen sind.
- 2. Verhältnismäßigkeit für den Mittelstand wahren
Das aktuelle Regelwerk legt für berichtspflichtige Unternehmen Kriterien und Anforderungen zugrunde, die gleichermaßen für internationale Großkonzerne mit mehreren Tausend Beschäftigten wie für Unternehmen ab 250 Beschäftigte und für kapitalorien- tierte KMU gelten. Eine fehlende Abstufung in den Anforderungen erscheint unverhältnismäßig und benachteiligt diese teils mittelständisch geprägten Unternehmen aufgrund der geringeren Skalierbarkeit ihrer Kosten.Die Mehrheit der übrigen nicht direkt berichtspflichtigen KMU werden zunehmend von großen berichtspflichtigen Unternehmen im Rahmen ihrer Lieferketten und von Finanzinstituten bei Finanzierungen aufgefordert, ebenfalls solche Daten zu liefern, die sie für die eigene Berichterstattung benötigen. Um hier einen Wildwuchs der Anforderungen und damit eine Überforderung der KMU zu vermeiden, halten wir Ansätze für geeignet, für diese Betriebe einen vereinfachten Berichtsstandards bzw. Standard-Fragebö- gen für die Datenerhebung zu entwickeln.Insofern führen die Aktivitäten der gemeinsamen Pilotgruppe für die KMU-Nachhaltigkeitsberichterstattung des Deutschen Rechnungslegungsstandard (DRSC) und des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) aus unserer Sicht in die richtige Richtung. Eine Berichtpflicht insbesondere für Kleinunternehmen (unter 50 Vollzeitäquivalenten sowie Startups in den ersten fünf Jahren nach Gründung) wird kritisch gesehen.Mittelständische Unternehmen können als Rückgrat der Wirtschaft durch ihre Anpassungsfähigkeit und Flexibilität besonders schnell und gut auf wirtschaftliche Entwicklungen und externe Einflüsse reagieren. Diese Betriebe durch zusätzliche bürokratische Hürden zu überfordern, wäre kontraproduktiv für eine Transformation der Unternehmen hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft und würde die wirtschaftliche Stabilität der Unternehmen und damit volkswirtschaftlich die Säule „Ökonomie“ gefährden. Daher muss für KMU gelten, dass in Brüssel nichts beschlossen werden darf, was ein Mittelständler vor Ort nicht umsetzen kann.
- 3. Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten erweitern statt einschränken
Mit den Offenlegungspflichten der SFDR in Verbindung mit der EU-Taxonomie lenkt die EU die Kreditinstitute zu einer nachhaltig- keitsorientierten Vergabe von Finanzierungsmitteln. Durch die Einbeziehung zusätzlicher Nachhaltigkeitsinformationen in die Kreditprozesse wird sich der Aufwand für die Kreditinstitute erhöhen. Auch muss das Know-how erst aufgebaut und vorgehalten werden. Es ist zu befürchten, dass sich Kreditprozesse verlangsamen und Zinskonditionen grundsätzlich verteuern. Dem sollte bei der Ausgestaltung öffentlicher Förderprogrammen Rechnung getragen werden. Zinsgünstige Förderkredite, Haftungsfreistellungen und attraktive Zuschüsse sind - sofern diese leicht zugängig sind und unbürokratisch abgewickelt werden - besonders geeignet, die Wirtschaft gezielt in die Nachhaltigkeit umzulenken. Im Gegensatz zu komplexen Bürokratievorgaben stärken Förderanreize die Unternehmen wirtschaftlich, strahlen positiv auf das Thema „Nachhaltigkeit“ aus und begünstigen das eigenverantwortliche unternehmerische Handeln zur Beschleunigung der Transformation.Bestimmte Unternehmensgruppen fürchten zusätzlich eine Benachteiligung bei der Finanzierung, wenn Finanzinstitute - gedrängt durch die Offenlegungspflichten - anstreben, einen möglichst hohen Anteil an nachhaltigen Positionen in ihrem Finanzportfolio auszuweisen. In die dafür vorgesehene wichtigste Kennzahl „Green Asset Ratio (GAR)“ dürfen Finanzierungen vieler Unternehmennicht einbezogen werden, weil sie entweder einer nicht taxonomiefähigen Branche zugeordnet sind, die hohen Taxonomie- Standards (noch) nicht erfüllen können oder aufgrund ihrer geringen Unternehmensgröße keine entsprechenden Nachhaltigkeitsinformationen liefern können. Für diese Unternehmen dürften Finanzierungen zukünftig deutlich teurer und gegebenenfalls nur schwer erhältlich sein, selbst wenn sie diese für Investitionen in die Nachhaltigkeit nutzen.Eine durch das EU-Regelwerk induzierte Benachteiligung bestimmter Unternehmensgruppen bremst notwendige Investitionen in die Transformation, Digitalisierung und das Wachstum aus. Dieses gilt insbesondere für wichtige emissionsintensive Industriezweige, denen eine besondere Bedeutung im Transformationsprozess zukommt und für die regionale mittelständische Wirtschaft.Letztlich führt dieses auch zu einer Schwächung der regionalen Banken und Sparkassen, für die der Mittelstand das Hauptklientel darstellt.
- 4. Internationale Standards und EU-Regelwerk angleichen und konsolidieren
International agierende und finanzierende EU-Unternehmen stehen vor der Herausforderung, aufgrund der Abweichung der EU-Regularien von anderen internationalen Berichtsstandards wie zum Beispiel den Global-Reporting-Initiative – Standards (GRI) parallel eine Vielzahl unterschiedlicher Anforderungen an Kennzahlen, Berichten und Nachweisen erfüllen zu müssen. Dieses führt zu erheblichen bürokratischen Mehraufwänden.Darüber hinaus besteht aufgrund der sehr hohen Anforderungen des EU-Regelwerks die Gefahr eines Wettbewerbsnachteils für EU-Unternehmen. Wenn in der Folge Produktionsstandorte in Staaten mit geringen Nachhaltigkeitsanforderungen verlegt werden, schwächt dieses die Wirtschaft innerhalb der EU und verfehlt gleichzeitig die globalen Nachhaltigkeitsziele.Eine Konsolidierung auf einen globalen Berichtsstandard mit Minimalanforderungen sollte in Kooperation mit den internationalen „Standards-Initiativen“ daher mit hoher Priorität vorangetrieben werden.
Stand 1. Juni 2023