Eckpunktepapier zur nachhaltigen Regionalentwicklung

Die Vollversammlung der IHK Nord Westfalen hat in ihrer Sitzung am 17. Juni 2019 die Erarbeitung eines Eckpunktepapiers zur „nachhaltigen Regionalentwicklung“ beschlossen.
Mit dem vorliegenden Papier soll aufgezeigt werden, in welcher Weise sich der Immobilien- und Wohnungsmarkt sowie die Frage der Verfügbarkeit von Industrie- und Gewerbeflächen auf die wirtschaftliche Gesamtentwicklung und die Wachstumsperspektiven des Münsterlan- des und der Emscher-Lippe-Region auswirken. Hierauf aufbauend werden Handlungsan- sätze aufgezeigt, mit denen Politik und Verwaltung dazu beitragen können, für die Unterneh- men ein wachstumsorientiertes Flächenangebot sowie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter ein nachfrageorientiertes Wohnraumangebot zur Verfügung zu stellen.

Teil A: Wohnen

Problemstellung

Gerade in stark wachsenden Städten – aber auch in den erweiterten Stadtregionen – kann sich fehlender Wohnraum zunehmend zur Wachstumsbremse für die Unternehmen entwickeln. Aktuelle Studien - wie die des Pestel-Instituts für das Münsterland – belegen den Bedarf an Wohnraum. 62 Prozent der Unternehmen sehen den Fachkräftemangel als größte Wachstumsbremse und Konjunkturrisiko Nummer 1 (IHK-Sonderumfrage, Herbst 2018).
Ein wesentlicher Aspekt bei der Gewinnung von neuen Fachkräften ist die Verfügbarkeit eines preislich differenzierten und bezüglich Angebot und Nachfrage ausgewogenen Wohnraumangebotes. Strukturelle Defizite bei der Verfügbarkeit von Wohnraum können die Fachkräftegewinnung von außen erheblich erschweren und damit den bereits bestehenden Fachkräftemangel in unserer Region weiter verschärfen.
Dabei geht es nicht allein um Wohnraum für niedrige Einkommensgruppen. Das beschränkte Bauland- und Wohnraumangebot und das hieraus resultierende Preisniveau erschweren es mittlerweile Personen aller Einkommensgruppen, geeignete Grundstücke und Immobilien zur eigenen Wohnnutzung zu finden.

Handlungsansätze

Strategische Ausrichtung

Grundstücke verfügbar machen

Um Grundstücke verfügbar machen zu können, ist es wichtig, an folgenden Stellschrauben zu drehen:
  • Die Ausgleichsflächenregelungen dürfen nicht zum Hemmnis für die Baulandausweisung werden.
  • Die neu eingeführte Gebietstypologie „Urbane Gebiete“ sollte nicht zur Verdrängung von Gewerbebetrieben führen.
  • Die Kommunen sind aufgefordert, eine aktive Bevorratungspolitik in Richtung potenziell geeigneter Bauflächen zu betreiben.

Interkommunale Zusammenarbeit intensivieren

Bei den Planungen zur Ausweisung neuer Wohnbauflächen muss – ebenso wie bei den Mobilitätsangeboten – stärker in Kommunalgrenzen überschreitenden Funktionsräumen gedacht und entsprechend gehandelt werden.

Landes- und Regionalplanung aktiv nutzen

Im Rahmen der Landesplanung eingeräumte Gestaltungsspielräume müssen im Zuge der Regional- und Bauleitplanung aufgegriffen und genutzt werden, um beschleunigt mehr Wohnbauflächen anbieten zu können. Parallel hierzu müssen in den Verwaltungen die für eine Bauland-/Wohnungsbauoffensive notwendigen Personalressourcen bereitgestellt werden.

Beschleunigung von Genehmigungsverfahren

Langwierige Genehmigungsverfahren führen oftmals zu erheblichen Verzögerungen bei der Umsetzung von Wohn- und Gewerbebauvorhaben. Eine Optimierung und Digitalisierung der jeweiligen Prozesse sowie hierauf angepasste Personalressourcen sind wichtige Bausteine, um eine zeitnahe Projektumsetzung zu unterstützen

Reduktion von Baukosten: Baustandards und Steuern/Abgaben dürfen keine Kostentreiber sein

Bei Einführung oder Novellierung von Baustandards sowie bei Rechtsnormen und Satzungen sollte auch das Wirtschaftlichkeitsgebot beachtet werden. Bestehende Regelungen sollten regelmäßig hinterfragt und auf Zweckmäßigkeit überprüft werden. Über gesetzliche Mindestvorgaben hinausgehende Bauvorschriften der Kommunen sind mit Blick auf ihre mögliche prohibitive Wirkung kritisch zu hinterfragen. Gleiches gilt für die in Nordrhein-Westfalen vergleichsweise hohe Grunderwerbssteuer.

Markteingriffe kritisch hinterfragen

Bei der Diskussion über die Notwendigkeit und Wirksamkeit staatlicher Eingriffe in den Wohnungs- /Immobilienmarkt (zum Beispiel die „Mietpreisbremse“) ist kritisch zu hinter- fragen, ob mit den diskutierten Maßnahmen eine nachhaltige und qualitativ ausreichende Verfügbarkeit von Wohnraum erreicht werden kann. Mögliche kontraproduktive Wirkungen von Maßnahmen, wie zum Beispiel eine generelle Verschlechterung des Investitionsklimas für Immobilien, sind zu berücksichtigen.
Die Schaffung von preisgebundenem Wohnraum ist eine vorrangige Aufgabe der Kommunen / kommunalen Wohnungsbauunternehmen.
Eine Mietpreisbindung im Rahmen der Vergabe von kommunalen Grundstücken setzt eine entsprechende Veräußerung unter Marktpreis voraus, um die Wirtschaftlichkeit des Projektes und damit die Investitionsbereitschaft nicht zu gefährden.
Regulatorik im Kreditwesen darf nicht zu einem Finanzierungsengpass führen Regulierungen müssen Maß und Ziel haben. Die geplanten Maßnahmen zur Erhöhung der Eigenkapitalanforderungen von Banken für die Sparte der Immobilien- und Projektentwicklungskredite führen zu Einschränkungen bei der Einzelkreditvergabe von Immobiliendarlehen. Die Folge ist ein sinkendes Angebot an bezahlbarem Wohnraum.

Anreize zur Mobilisierung von Bauland setzen

Derzeit wird in der politischen Diskussion verstärkt auf Maßnahmen zur Steigerung der Nachfrage nach Immobilien gesetzt (z.B. degressive AfA, Baukindergeld). Diese Maßnahmen steigern die Nachfrage, ändern aber nicht die angespannte Angebotssituation. Hier sind beispielsweise zeitlich befristete steuerliche Anreize für Grundstückseigentümer beim Verkauf von Bauland oder Bauerwartungsland anzudenken. Ziel sollte es sein, die Bereitschaft zum Verkauf von Bauland zu erhöhen. Dafür sollten steuerliche Anreize auf Eigentümerseite entwickelt werden.

Förderung des arbeitgebergeförderten Wohnungsbaus

Es ist zwar möglich, Wohnraum zu vergünstigten Konditionen an Mitarbeiter zu vermieten. Die Differenz zwischen Markt- und vergünstigtem Preis muss aber als geldwerter Vorteil versteuert werden. Diese Besteuerungspraxis wirkt kontraproduktiv und sollte hinterfragt wer- den, um eine Renaissance des Baus von „Werkswohnungen“ zu unterstützen.

Teil B: Industrie- und Gewerbeflächen

Problemstellung

Gewerbe- und Industriegebiete bilden das Rückgrat der regionalen Wirtschaft. Hier entsteht ein Großteil der regionalen Wertschöpfung; es werden die Gewerbesteuern für die Kommunen erwirtschaftet und viele Arbeitsplätze geschaffen.
Damit sich neue Unternehmen ansiedeln und bereits bestehende Unternehmen erweitern können, ist es notwendig, dass ausreichend Gewerbe- und Industrieflächen verfügbar sind. Dies ist jedoch in vielen Kommunen im Bezirk der IHK Nord Westfalen nicht der Fall – geeignete Flächen werden von Unternehmen oft erfolglos gesucht.
Wie eine repräsentative Umfrage der IHK Nord Westfalen und der HWK Münster ergab, an der sich über 500 Unternehmen beteiligt haben, verfügen viele Kommunen in der Emscher- Lippe-Region kaum noch über freie Flächen in Industriegebieten. Einige Kommunen können gar keine Flächen mehr anbieten. In den vergangenen fünf Jahren konnten allein bei den bestehenden Betrieben 14 Prozent der angestrebten Betriebserweiterungen und -verlage- rungen nicht realisiert werden. Sogar 80 Prozent der Betriebe rechnen damit, dass sie ihre Erweiterungsabsichten in Zukunft nicht umsetzen können.
So werden mangelnde Gewerbeflächen nicht nur zum wirtschaftlichen Problem für einzelne Unternehmen, sondern auch zum Standortnachteil für Kommunen und ganze Regionen.
Trotz hoher Nachfrage aus der Wirtschaft sank der Anteil der gewerblich und industriell genutzten Flächen in den letzten Jahren. Aktuell werden weniger als 2,5 Prozent der Gesamtfläche in Nord- Westfalen industriell-gewerblich genutzt. Dennoch wird die Wirtschaft in der Öffentlichkeit fälschlicherweise oft als “Flächenfresser“ wahrgenommen.

Handlungsansätze

Versachlichung der Debatte: Die Ausweisung von neuen Gewerbeflächen darf kein Tabuthema werden

Die Ausweisung von Industrie- und Gewerbeflächen ist in machen Kommunen fast schon ein Tabuthema geworden. Das liegt vor allem daran, dass Gewerbeflächen am Siedlungsrand realisiert werden und dort dann oft als Eingriff in den Freiraum wahrgenommen werden. Fakt ist, dass die Flächeninanspruchnahme von Industrie und Gewerbe insgesamt erheblich niedriger ist als etwa von Wohnen, Verkehr oder Landwirtschaft.
Darum ist eine Versachlichung der häufig emotional geführten Debatte um Wirtschaftsflächen dringend geboten. Die gewerbliche Flächennutzung muss in Relation zu weiteren Bodennutzungen betrachtet und objektiv und faktenbasiert diskutiert werden. Die Notwendig- keit von Gewerbe- und Industriegebieten legitimiert sich auch durch ihre positiven Effekte für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Insgesamt gilt es, die Akzeptanz von Gewerbeflächen in der Öffentlichkeit zu erhöhen.

Nachfragegerecht Flächen aktivieren - Flächenbedarfe decken

Die Verfügbarkeit von Industrie- und Gewerbeflächen ist grundsätzlich an der bestehenden Nachfrage auszurichten, muss aber auch eine angebotsorientierte Komponente enthalten, um im regionalen und überregionalen Standortwettbewerb bestehen zu können. Fehlende oder für die Vermarktung ungeeignete Gewerbeflächen verhindern die Erweiterung beziehungsweise Neuansiedlung von Unternehmen. Hieraus ergeben sich nachstehende Handlungsempfehlungen:

Bereitstellung ausreichender Flächen

Kommunen sollten grundsätzlich eine aktive und vorausschauende Flächenbevorratungspolitik betreiben, um neben der Befriedigung der aktuellen Nachfrage auch ein dar- über hinaus gehendes Flächenangebot zur Verfügung stellen zu können.

Erhalt und Schutz bestehender Gewerbe- und Industriegebiete

Bestehende Wirtschaftsflächen müssen vor Einschränkungen - etwa durch heranrückende Wohnbebauung - ausdrücklich geschützt werden. Flächen, die aus zwingenden städtebaulichen Gründen einer gewerblich-industrielle Nutzung entzogen werden, müssen zeitnah an anderer Stelle kompensiert werden.

Konversionsflächen marktfähig aufbereiten

Die Umnutzung ehemaliger Bergbauflächen ist ein wichtiger Baustein zur Deckung der Flächennachfrage. Gerade in den vom wirtschaftlichen Strukturwandel besonders betroffenen Kommunen bieten Konversionsflächen die Möglichkeit, das industriell-gewerbliche Flächenangebot deutlich zu vergrößern. Für die häufig aufwändige Sanierung dieser Flächen ist ein vereinfachter Zugang zu den staatlichen Förderprogrammen sicherzustellen.

Regionalplanerischen Rahmen für Kommunen schaffen

Die Landes- und Regionalplanung muss dem steigenden Bedarf nach gewerblichen Bauflächen Rechnung tragen. Angesichts des Standortwettbewerbs der Wirtschaftsregionen sollte die Neuausweisung von gewerblichen Flächen auch nach angebotsorientierten Maßstäben erfolgen. Die Kommunen sind aufgerufen, die von der Regionalplanung eingeräumten Spielräume aktiv zu nutzen.

Interkommunale Zusammenarbeit ausbauen

Die interkommunale Zusammenarbeit in den Bereichen Koordination, Flächenmonitoring und Tausch von Gewerbeflächen ist weiter auszubauen, um geeignete Potenzialflächen auch unabhängig vom jeweiligen kommunalen Bedarf entwickeln zu können.

Auf die Vermarktungsfähigkeit von Flächen achten

Damit Unternehmen die ausgewiesenen Flächen tatsächlich wirtschaftlich nutzen können, sind nachfolgende Kriterien bei der Ausweisung gewerblicher Bauflächen zu beachten:
  • Erreichbarkeit (Straße, ÖPNV, im Einzelfall auch Schiene und Wasserstraße)
  • Emissionsgrenzen und baurechtliche Eignung
  • Breitbandanbindung
  • Flächenzuschnitt und Größe
  • „Adressbildung“ über bauliche und landschaftliche Gestaltung
  • Rechtssicherheit und schnelle Genehmigungsverfahren

Vorhandene Flächen effizient nutzen

Eine effiziente Bodennutzung kann den Bedarf an der Neuausweisung von Flächen verringern und erhöht die Kosteneffizienz bei Investitionsentscheidungen von Unternehmen. Aktuell können nur rund 2/3 der ausgewiesenen Gewerbeflächen tatsächlich durch Betriebe genutzt werden. Der Rest entfällt auf Verkehrs- und Kompensationsflächen. Die städtebaulich grundsätzlich wünschenswerte Anlage extensiver Grünflächen in Gewerbe-/Industriegebieten (u.a. als Kompensationsmaßnahme für die erfolgte Flächenversiegelung) setzt voraus, dass die Umsetzung des im Zuge der Regionalplanung für die jeweilige Kommune errechneten Gewerbe-/Industriebedarfe sichergestellt ist.
Ansatzpunkte zur Erhöhung der Effizienz von Industrie-/Gewerbegebieten:
  • Kompensationsmaßnahmen sinnvoll und flächensparend einsetzen
    Kompensationsflächen sind oft kostenintensiv und vermindern den Anteil der tatsächlich gewerblich nutzbaren Flächen erheblich. Alternativ sollte geprüft werden, auf Kompensationsmaßnahmen innerhalb von Gewerbegebieten zu verzichten und stattdessen Eingriffe außerhalb von Gewerbegebieten koordiniert auszugleichen, etwa durch die ökologische Aufwertung naturnaher Flächen.
  • Flächenpotenziale im Bestand nutzen
    Nachverdichtungen oder die gemeinsame Flächennutzung in Gewerbegebieten sind heute eher die Ausnahme. Wo möglich sollten daher entsprechende Entwicklungspoten- ziale ermittelt und Rahmenbedingungen und Anregungen zur Nachverdichtung und Ko- operation geschaffen werden. Hierbei sind die nachbarschaftlichen Interessen ausgleichend zu berücksichtigen.
  • Freihalten von Einzelhandel und anderen nicht-gewerblichen Nutzungen
    Gewerbe- und Industriebetriebe sind mit anderen Nutzungen häufig inkompatibel und dadurch in ihrer Standortwahl erheblich eingeschränkt. Daher sind Industrie- und Gewerbegebiete von konkurrierenden Nutzungen freizuhalten. Auch eine schleichende Umwandlung von Gewerbegebieten in Dienstleistungsstandorte kann zu Nutzungskonflikten führen. Wohnverträgliche Betriebe müssen innerhalb von Siedlungsbereichen zulässig bleiben, um den Druck auf Gewerbegebiete nicht noch weiter zu erhöhen.
  • Wohnen im Gewerbegebiet muss eine Ausnahme bleiben
    Wohnungen in Industrie- und Gewerbegebieten bedingen durch ihre Schutzansprüche eine starke Einschränkung der gewerblich-industriellen Nutzungsmöglichkeiten und sollten grundsätzlich ausgeschlossen werden. Betriebsbezogene Wohnungen sollten eine Ausnahme bleiben. Grundsätzlich sollten als Ausnahme genehmigte betriebsbezogene Wohnungen die Nutzungsmöglichkeiten von Gewerbegebieten nicht einschränken.
Verabschiedet von der IHK-Vollversammlung am 4. Juni 2020