Titelthema

Selbstfürsorge in der Wirtschaft

Selbstfürsorge ist eine Investition in die Zukunft. Was für den individuellen Bereich gilt, lässt sich auf den Unternehmenskontext übertragen. Organisationen, die aktiv Selbstfürsorge betreiben und an ihrer Resilienz arbeiten, erhöhen ihre Widerstandskraft – eine Fähigkeit, deren Bedeutung in herausfordernden Zeiten zunimmt.
Ein entspannter Abend im Lieblingsrestaurant, ein langer Spaziergang in der Natur, sich Zeit nehmen für das Buch, das seit Monaten ungelesen auf dem Nachtisch liegt, mehr Fokus auf Sport und gesunde Ernährung, nicht „Ja“ sagen, wenn wir „Nein“ meinen: In der Regel entstehen schnell Bilder in unserem Kopf, wenn wir darüber nachdenken, wie Selbstfürsorge auf individueller Ebene funktionieren kann. Ganz anders sieht es im Unternehmensumfeld aus. Bei Selbstfürsorge in der Wirtschaft geht es um weit mehr als Tricks und Kniffe, die schnell umsetzbar sind und maximale Wirkung entfalten.
Im Fokus steht die Frage: Kümmert sich eine Organisation darum, genügend Resilienz gegen verschiedene externe Einflussfaktoren aufzubauen?
Der Begriff „Resilienz“ stammt vom lateinischen Wort „resilire“ ab, was so viel bedeutet wie „zurückspringen“ oder „abprallen“. Als Konzept beschreibt Resilienz die Fähigkeit, Veränderungen, Turbulenzen oder anderen Stressfaktoren standhalten zu können und aus Rückschlägen im Idealfall gestärkt hervorzugehen. Klassisches Symbol ist der Bambus. Extremen Bedingungen wie Stürmen passt er sich flexibel an. Der Bambus neigt sich, bricht jedoch nicht, und wächst anschließend weiter. Im Zusammenhang mit Unternehmen wird von „organisationaler Resilienz“ gesprochen. „Der Aufbau organisationaler Resilienz bedeutet, das Unternehmen widerstandsfähig werden zu lassen – unabhängig davon, welche äußeren Rahmenbedingungen aktuell herrschen. Natürlich darf es Erschöpfungsmomente geben. Im Endeffekt geht es aber darum, die Ressourcen und Kraftreserven so aufgebaut zu haben, dass man Veränderungen im Außen ohne dauerhafte Beeinträchtigung übersteht“, definiert Wirtschaftspsychologe Tobias Nickel, Professor an der Technischen Hochschule Deggendorf mit dem Fachgebiet „Organisationspsychologie und Diagnostik“.

Agilität versus Planbarkeit

Eine große Herausforderung liegt aus seiner Sicht darin begründet, dass resiliente Unternehmen agil sein müssen – ein gegenläufiger Ansatz zur rein zahlenorientierten Effizienz- und Kostenlogik, die seit Jahrzehnten praktiziert wird. „Ab den 70er Jahren wurde häufig der Weg gewählt, Organisationen mit Langzeitstrategien zukunftsfähig zu machen. Man hat also Prognosen gemacht, wie die Welt beispielsweise in zehn Jahren aussehen wird und hat für sich abgeleitet, wie man das Unternehmen mit seinem Portfolio anpassen muss, um dann erfolgreich zu sein.“ Lange ist das gut gegangen, weil es in vielen Bereichen eine lineare Entwicklung gab. „Doch dann kamen Trendbrüche – seien es Themen wie das Internet, Smartphones, die Globalisierung, aber auch Kriegsereignisse.“ Und auf einmal gehen die Planungen, die auf der Annahme beruhen, zu wissen wie die Welt in zehn Jahren aussieht, nicht mehr auf. Das hat die jüngste Vergangenheit eindrücklich unter Beweis gestellt. Anfang 2020 war das Ausmaß der weltweiten Corona-Pandemie nicht absehbar. Anfang 2022 waren der Krieg in der Ukraine und in der Folge die explodierenden Energiepreise nicht zu erahnen. Anfang 2023 war nicht klar, dass Künstliche Intelligenz wenig später zu einem derart bedeutsamen Megathema wird, das sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche umfasst. Wenn so kurz vor zentralen Geschehnissen die Auswirkungen nicht planbar waren – wie sollen dann Pläne, die vor zehn Jahren geschmiedet wurden, der Realität standhalten? „Wer heute noch allein auf langfristige Planungen setzt und diese als Allheilmittel für künftigen Erfolg begreift, macht sich angreifbar und ist weniger resilient. Von einem strikten Weg unerwartet abweichen zu müssen, ist sehr schwer“, verdeutlicht Tobias Nickel.

Präventive Maßnahmen ergreifen

Die gute Nachricht lautet: Resilienz kann sich ein Unternehmen erarbeiten. Dafür ist es zunächst nötig, in die Selbstverantwortung zu kommen, auf Reflexion zu setzen und die eigene Verletzlichkeit zu verstehen. Wo steht das Unternehmen aktuell? Wie geht es der Organisation? Kann sie weiteren Druck aushalten? „Ein sehr wichtiger Faktor sind die Antennen nach außen“, meint Nickel. Haben die Verantwortlichen die nötige Sensibilität, um Veränderungen zu sehen und sind sie in der Lage, daraus die nötigen Veränderungen im Unternehmen abzuleiten? Auf struktureller Ebene: Ermöglichen die Rahmenbedingungen, auch kurzfristig neue Wege beschreiten zu können? „Je besser die Antennen nach außen sind, desto erfolgreicher wird ein Unternehmen in Zukunft sein. Es geht um ein regelmäßiges Fiebermessen im Sinne von: Ich weiß, wo die Tendenz hingeht und kann reagieren, ohne dass ich nervös werde“, so Nickel weiter. Optimalerweise kennt dann jeder im Unternehmen den Anspannungsgrad, den Purpose und die Vision. Das schafft eine Transparenz und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, denn jeder Mitarbeiter kann jede Aufgabenstellung selbst angehen, wenn jeder Entscheidungen aufgrund gemeinsam getragener Werte fällen kann.
Sich regelmäßig mit den genannten Fragen zu beschäftigen, ist aktive Risikovorsorge. Bei der Theorie allein darf es aber nicht bleiben. Es geht auch um die Umsetzung konkreter Strategien. „Um heute resilient zu sein, muss ein Unternehmen ein hohes Maß an Agilität an den Tag legen – Agilität im Sinne von Flexibilität“, verdeutlicht Nickel. In der Praxis heißt das: das Unternehmen so aufzustellen, dass Wandlungsfähigkeit möglich ist. Das kann beispielsweise durch die Abkehr von festen Rollenbildern, strengen hierarchischen Ebenen oder Soll-Ist-Zielvereinbarungen gelingen. Grundsätzlich empfiehlt es sich, fest verankerte Denkweisen und Glaubenssätze regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Hier bietet sich das Beispiel der Budgetierung an: Ist es wirklich zeitgemäß, bereits im Sommer des Vorjahres einen detaillierten Jahresplan für das Budget des Folgejahres auszuarbeiten und sich somit starre Regeln vorzugeben? Würde eine agile Budgetierung, die in kürzeren Zeitintervallen erfolgt und an den aktuellen Bedarf angepasst wird, die Flexibilität nicht maßgeblich erhöhen?
Im Human Ressources-Bereich: Gibt das Unternehmen in der Stellenbeschreibung exakt vor, welche Tätigkeiten die Stelle umfasst und was der jeweilige Beschäftigte können muss, oder wird ein freieres System installiert, das interne Weiterentwicklungen und Veränderungen erleichtert und sich somit auch auf das Prinzip „lebenslanges Lernen“ übertragen lässt? Bei der Etablierung von mehr Flexibilität im Unternehmen spielen verschiedene Mechanismen zusammen. Ein Patentrezept gibt es nicht.
Während in manchen Unternehmen projektbezogene Zusammenarbeit die nötige Agilität erzeugt, kann sich in anderen Organisationen eine enge, langfristige und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit als erfolgreich erweisen. „Wichtig ist grundsätzlich aber das Mindset im Unternehmen. Flexibilität muss als existenzsicherndes Gut und als etwas Positives verstanden werden.“ Das muss die Unternehmensleitung aktiv vorleben. Akzeptanz bei den Beschäftigten entsteht, indem offen kommuniziert wird, warum das Unternehmen neue Wege beschreitet und welche Vorteile sich auch für den Einzelnen ergeben. Wenn dann die Mitarbeiter bei der Ausgestaltung der Details mit involviert sind, steigen Selbstwirksamkeit und Optimismus, zwei Voraussetzungen für Resilienz.

Die Rolle des Einzelnen

Wenn es um die Rolle des Einzelnen geht, stellen sich die Fragen: Wie wichtig ist die Resilienz des Einzelnen für die gesamte Organisation? Sollte sich ein Unternehmen für die Selbstfürsorge der Mitarbeiter engagieren? Für Tobias Nickel liegt der Zusammenhang auf der Hand. Beispielsweise die Verzehnfachung der Burn-out-Erkrankungen zwischen 2001 und 2021. Erkennt die Organisation den Wert von Selbstfürsorge an und unterstützt die Beschäftigten durch ein attraktives Angebot an unterschiedlichen Maßnahmen, seien es Resilienztrainings oder die Etablierung eines schlagkräftigen Betrieblichen Gesundheitsmanagements, zahlt sich das aus. „Der Return on Invest ist enorm. Pro investiertem Euro sparen Unternehmen zwischen zwei und zehn Euro ein, je nach Studie“, sagt Nickel. Damit ein solcher Effekt erreicht werden kann, sollten Führungskräfte Gesundheitsmanagement nicht nur anordnen, sondern selbst vorleben. Dazu zählt, E-Mail-freie Zeiten einzurichten, Urlaub zu nehmen und Überstunden nicht über die Maßen anzuhäufen.
Das Fazit: Selbstfürsorge im organisationalen Umfeld sollte nicht als zusätzliche Belastung, die zum ohnehin herausfordernden Alltagsgeschäft „on top“ dazukommt, verstanden werden. Der Aufbau einer resilienten Organisation kostet sicherlich Kraft und ist kein „Nebenbei-Projekt“, das halbherzig angegangen werden kann. Doch die Investition von Energie, Geld und Ressourcen rechnet sich. Resiliente Unternehmen sind auf mögliche Krisen vorbereitet. Sie sind in der Lage, sich an neue externe Gegebenheiten anzupassen. Sie verlieren im Ernstfall nicht ihre Handlungsfähigkeit, sondern stehen die Situation durch und können nach Störungen oder Schwankungen die Funktionalität der Organisation wiederherstellen. Somit zahlt Selbstfürsorge, verstanden als Resilienz, unmittelbar auf die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen ein.
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