Wirtschaft wirkt
Warum uns eine starke Industrie globalen Einfluss sichert. Eine Analyse von Dr. Helena Melnikov, Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Industrie- und Handelskammer.
Braucht Deutschland seine Industrie noch? Der Dienstleistungssektor trägt heute rund 70 Prozent zur Bruttowertschöpfung bei. Gleichzeitig ist das verarbeitende Gewerbe unter Druck: Arbeitsplätze gehen verloren, internationale Konkurrenz wächst. Und doch bleibt die Industrie mit einem Anteil von fast einem Viertel ein zentraler Pfeiler unserer Wirtschaftskraft – stärker als in vielen anderen EU-Ländern.
Ihre wahre Bedeutung zeigt sich im globalen Blick: Deutschland gilt im Ausland weiter als Industrieland. In Peking, São Paulo oder Neu-Delhi steht „Made in Germany“ für Qualität bei Fahrzeugen, Maschinen und Chemie. Unser weltpolitisches Gewicht hängt maßgeblich davon ab, ob deutsche Produkte auf den Weltmärkten gefragt sind. Wer Deutschlands Einfluss sichern will, muss die industrielle Leistungsfähigkeit erhalten.
Anerkennung durch Leistung
Taiwan zeigt eindrucksvoll, wie wirtschaftliche Stärke außenpolitische Bedeutung schafft. Der Inselstaat dominiert den globalen Halbleitermarkt und steht dadurch im Fokus der Weltmächte. Auch für Deutschland gilt: Industrie ist heute mehr als ein Wohlstandsfaktor – sie ist ein außenpolitisches Machtinstrument. Die Bundesregierung erkennt das an: „Voraussetzung für eine starke deutsche Außenpolitik ist die eigene wirtschaftliche Stärke“, heißt es im Koalitionsvertrag.
Gleichzeitig gilt: Wer international bestehen will, braucht Einfluss – etwa, um Märkte zu erschließen, Rohstoffe zu sichern oder deutsche Unternehmen sichtbar zu machen. Politische Wirksamkeit und wirtschaftlicher Erfolg bedingen einander.
Der lauwarme Status quo
Deutschlands Industrie leidet unter wirtschaftspolitisch beeinflussbaren Faktoren: hohe Energiepreise, hohe Steuern, hohe Löhne und lähmende Bürokratie. Investitionen werden zurückgestellt, Produktionen ins Ausland verlagert. Damit gehen Arbeitsplätze und Innovationskraft verloren. Besonders stark betroffen ist die Automobilbranche. Politische Maßnahmen wie das Lieferkettengesetz oder überzogene Umweltauflagen verschärfen die Lage. Warnungen aus der Wirtschaft verhallen zu oft ungehört – mit gravierenden Folgen.
Alte Allianzen bröckeln
Als Exportnation ist Deutschland auf stabile internationale Beziehungen angewiesen. Doch der amerikanische Markt wird unberechenbarer (S. 32), China verfolgt eigene Strategien. Der globale Wettbewerb verschärft sich. Handelskonflikte, Protektionismus und schwächelnde Nachfrage treffen die deutsche Industrie empfindlich. Die Antwort kann nur lauten: Europa stärken.
Und Europa?
Der europäische Binnenmarkt (S. 34) ist für viele deutsche Unternehmen unverzichtbar. Doch Brüssel muss wirtschaftsfreundlicher, effizienter und handlungsfähiger werden. Deutschland sollte dabei vorangehen. Denn: Schwächelt die deutsche Wirtschaft, wirkt sich das auf den ganzen Kontinent aus.
Dies ist nicht das Ende
Die gute Nachricht: Die Wirtschaft steht bereit. Unternehmen, Kammern und das weltweite AHK-Netz mit über 150 Standorten in 93 Ländern bieten Lösungen – sie warten auf politisches Handeln. Es braucht jetzt Klarheit, Mut und einen echten Aufbruch. Für die Industrie. Für den Standort. Für Deutschlands Einfluss in der Welt. Wer das ignoriert, riskiert viel. Wer jetzt handelt, kann viel gewinnen.
Dr. Helena Melnikov
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