"Wir brauchen eine Entlastung für die Breite der Wirtschaft"

Die Stimmung in der Wirtschaft ist schlecht, viele Unternehmen planen, Kapazitäten ins Ausland zu verlagern. Wie bleibt der Wirtschaftsstandort Deutschland wettbewerbsfähig? Antworten von IHKLW-Präsident Andreas Kirschenmann.
Mit einem „Deutschland-Pakt“ möchte Bundeskanzler Olaf Scholz Deutschland „schneller, moderner und sicherer“ machen. Zielt der Vorschlag in die richtige Richtung?
Die Ziele unter der Überschrift des Paktes – Ballast abwerfen, schneller werden, mutiger und digitaler agieren – sind richtig. Wie das genau geht, dazu hat die IHK-Organisation in den vergangenen Monaten viele konkrete Vorschläge gemacht. Was uns leider fehlt, sind konkrete Ergebnisse. Energiepreise, Fachkräftemangel, unzureichende Infrastruktur und überbordende Bürokratie – all diese Themen belasten Unternehmen nicht erst seit gestern. Versprechen und Pakte allein helfen nicht, eine positive Veränderung muss endlich konkret in der Unternehmenspraxis ankommen, damit die Wirtschaft wieder Vertrauen in die Politik gewinnt.
Wie ist die Lage aktuell?
Seit dem ersten Quartal 2022 ist unser Bruttoinlandsprodukt geschrumpft, die Inflation bleibt hoch. Konsum und Investitionen sind auf sehr niedrigem Niveau. Als Präsident unserer IHK Lüneburg-Wolfsburg (IHKLW) bin ich immer wieder auch in Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern. Die bestätigen: Die Stimmung bei vielen Mitgliedern ist schlecht und die Erwartungen an die Zukunft sind gegenwärtig alles andere als rosig. Dass dieses Stimmungsbild zu einer knallharten Realität führt, zeigt sich aktuell für Niedersachsen, wie eine Auswertung des DIHK-Energiewendebarometers mit rund 300 teilnehmenden Unternehmen aus Niedersachsen zeigt: Jedes vierte Unternehmen in Niedersachsen stellt aufgrund der hohen Energiepreise Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen zurück, rund 40 Prozent investieren nicht mehr in Kernprozesse. Wir laufen hier in einen gefährlichen Investitionsrückstand. Wenn hier nicht mehr investiert wird, ist der Standort Niedersachsen für die Zukunft definitiv bedroht. Das zeigt sich schon jetzt, denn ein weiteres Ergebnis der Umfrage ist, dass jedes fünfte niedersächsische Unternehmen Produktionskapazitäten ins Ausland verlagern möchte  – eine Verdopplung der Vorjahreszahlen.
Was braucht es konkret, um die Wirtschaft zu entlasten?
Wir müssen jetzt raus aus der Verbots- und Verkleinerungskultur. Es muss darum gehen, Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen und auf wirtschaftliche Stärke zu setzen. Das ist die Quelle unseres Wohlstands. Ein Beispiel sind die aktuellen Energiepreise, mit denen Unternehmen im internationalen Wettbewerb nur schwer bestehen können. In den USA kostet eine Kilowattstunde Strom ungefähr 2,5 Cent, Frankreich hat einen Industriestromtarif von 4,2 Cent. Da können wir selbst bei den hierzulande angepeilten fünf oder sechs Cent kaum mithalten. Wir müssen deshalb alles tun, um das Energieangebot zu erhöhen. Es ist keine gute Idee, die Wirtschaft einer Industrienation wie Deutschland mit derartig hohen Energiepreisen zu belasten. Das kann nicht ohne erhebliche Folgen bleiben. Viele reden in diesem Zusammenhang von Wohlstandsverlusten. Ich befürchte, dass daraus ein Zukunftsverlust werden könnte. Die Wirtschaftspolitik in Berlin darf das Thema Wertschöpfung nicht völlig zu Lasten der Klimatransformation aus den Augen verlieren.
Wie bewerten Sie den Vorschlag zum Industriestrompreis?
Wir brauchen eine Entlastung für die Breite der Wirtschaft, nicht nur für einen kleinen Kreis von Unternehmen. Ich tue mich deshalb schwer mit dem Vorschlag für einen Industriestrompreis. Besser wären ein Zuschuss zu den Netzentgelten, eine Übernahme der Strompreisumlagen in den Bundeshaushalt und eine Senkung der Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß. Als IHK-Organisation haben wir außerdem Strompartnerschaften vorgeschlagen. Dabei könnten Unternehmen langfristig mit einem Energieerzeuger kooperieren und regenerative Anlagen wie Fotovoltaik oder Windkraft an Land bauen. Der Staat könnte mit einer Investitionsprämie in Höhe von 25 Prozent Anreize dafür schaffen. Zudem sollten die Netzentgelte für solche Partnerschaften um zwei Cent pro Kilowattstunde gesenkt werden. Um die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu stärken, spielen aber nicht nur die Energiekosten eine Rolle. Auch bei anderen Standortfaktoren wie Steuern, Bürokratie, Infrastrukturen und Fachkräften müssen wir viel besser werden.  
Hilft das von der EU veröffentlichte Entlastungspaket für Unternehmen?
Für die EU-Kommission gilt das Gleiche wie für die Bundesregierung: Das Vertrauen der Unternehmen kommt erst dann wieder zurück, wenn sie Verbesserungen in ihrer betrieblichen Praxis spüren. Die One-in-One-out-Regel – also die Praxis, dass für jede neue Belastung eine bisherige Vorschrift gestrichen wird – muss endlich umgesetzt werden. Gerade mit dem Green Deal schafft die EU aber weiterhin viele neue bürokratische Auflagen. Regulatorische Vorgaben führen auf Seiten der Unternehmen zu Mehrkosten und weiteren Dokumentations- oder Berichtspflichten. Innovationen und Investitionen werden dadurch behindert. Manche politische Absicht ist gewiss gut gemeint, aber häufig sind die Umsetzungsvorgaben, wie beispielsweise im Gebäude-Energie-Gesetz, viel zu detailliert, nicht praxisgerecht und ohne jeden ökonomischen Anreiz. Es ist mehr Verständnis von der Politik für betriebliche und technische Angelegenheiten erforderlich und dazu braucht es einen intensiven Dialog mit der Wirtschaft. Noch besser wäre es, wenn sich die Politik auf die Zielvorgaben konzentrieren und die Umsetzung den kreativen Köpfen in den Unternehmen überlassen würde. Denn Klimaschutz gelingt nur mit Unternehmen, die wettbewerbsfähig bleiben und sich am Markt behaupten können. Wir dürfen die Unternehmen und übrigens auch die Menschen nicht überfordern und mehr und mehr verunsichern.
Wie könnte eine solche wirtschaftsfreundliche Klimapolitik aussehen?
Konkret sollten die Unternehmen durch einen schlanken und verlässlichen regulatorischen Rahmen sowie optimale Investitionsbedingungen dazu befähigt werden, aktiv zum Klimaschutz beizutragen. Gute Finanzierungsbedingungen und niedrigschwellige, technologieoffene Förderprogramme erleichtern es den Unternehmen, in Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu investieren und nachhaltigere Geschäftsmodelle umzusetzen. Die Politik sollte sich für Investitionsanreize, zusätzliche Forschungsförderung und Technologieoffenheit einsetzen. Auch braucht es einen Zukunftskorridor, in dem die Unternehmer*innen Zeit und Handlungsoptionen erhalten, um die Transformation zur Klimaneutralität zu bewältigen, ohne die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und auch die Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. 
Sandra Bengsch
IHK Lüneburg-Wolfsburg
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