„Jetzt zählt jede Kilowattstunde“

Erneuerbare Energien schneller ausbauen, Kernkraft und Kohle länger nutzen: Was jetzt nötig ist, um Deutschland unabhängiger von russischem Erdgas zu machen – und die Energieversorgung zu sichern. Ein Interview mit IHKLW-Präsident Andreas Kirschenmann.
Nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs feilt die deutsche Politik an Konzepten, um Deutschland unabhängiger zu machen von russischem Erdgas. Jetzt hat sich die IHKLW-Vollversammlung mit eigenen Vorschlägen in die Debatte eingebracht. Was fordern Sie konkret?
Unsere drei wichtigsten Forderungen lauten: Die LNG-Terminals möglichst schnell in Betrieb nehmen. Hier sind Wilhelmshaven und Stade bereits auf einem sehr guten Weg. Zweitens brauchen wir auch mehr Tempo beim Ausbau erneuerbarer Energien. Und drittens muss der Einsatz von Kernkraft und Kohle verlängert werden und heimische Ressourcen wie Erdgas und Geothermie müssen stärker genutzt werden. Um die Unabhängigkeit Deutschlands von russischem Gas und Erdöl schnell herzustellen, sollte die Bundesnetzagentur kurzfristig so viele Kraftwerke wie technisch möglich und wirtschaftlich sinnvoll am Netz halten. Das bedeutet keine Abkehr vom Ausstieg aus Kernenergie und Kohle, sondern eine vorübergehende Weiternutzung.
Allerdings kann ein Atomkraftwerk nicht einfach in die Verlängerung gehen. Es braucht langfristige Planung für die Fertigung der Brennstäbe, um Lieferverträge für Uran abzuschließen und das Uran für die Brennstäbe aufzubereiten. Ist die Forderung der IHKLW wirklich realistisch?
Ich bin überzeugt, dass sich diese Probleme lösen lassen, sobald der politische Wille deutlich wird. Und Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck sowie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hatten eine Laufzeitverlängerung der drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland selbst ins Gespräch gebracht. Diese Debatte sollte ohne Tabus geführt werden. Und ehrlich gesagt sollten wir uns auch mal fragen, ob wir denn wirklich aus der Atomenergie ausgestiegen sind, wenn wir zwar unsere Kraftwerke abschalten, aber den Atomstrom aus anderen Ländern importieren. Wir sollten abwägen, ob Kosten und Nutzen bei den verschiedenen Handlungsoptionen in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen. Auch das Wiederhochfahren von Kohlekraftwerken, die bereits vom Markt genommen wurden, kann ein Beitrag sein, um Erdgas zu ersetzen. Wichtig ist, jetzt die Weichen zu stellen, um die Energieversorgung in Deutschland zu sichern. Die Wirtschaft ist angewiesen auf grundlastfähige Kraftwerke, die auch dann Strom und Wärme produzieren, wenn die Gaslieferungen aus Russland weiter gedrosselt werden, die deutschen Gasspeicher nicht ausreichend gefüllt sind und es im Winter kalt, windstill und dunkel ist.
Vor welchem regionalwirtschaftlichen Hintergrund kam es zu der Resolution?
Angesichts des andauernden Kriegs in der Ukraine hat die regionale Wirtschaft durch unterbrochene Lieferketten einen verschärften Material- und Rohstoffmangel gewaltige Kostensteigerungen für Energie zu schultern. In der aktuellen Konjunkturumfrage benennen mehr als 80 Prozent der Unternehmen die Kostensteigerungen als ein gravierendes Risiko für ihre weitere Geschäftsentwicklung. Bereits vor der Corona-Krise haben Mittelständler aufgrund staatlicher Zusatzlasten die höchsten Preise für Energie in Europa gezahlt. Jetzt hat sich die Situation zugespitzt und auf dem Spiel stehen die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsraums und sehr viele Arbeitsplätze. Daher braucht es jetzt schnelle und klare Entscheidungen zur Sicherung der Energieversorgung.
Was bedeutet das konkret für die Landespolitik?
Die energiepolitische Agenda der Landesregierung muss angesichts des Kriegs in der Ukraine und der veränderten geopolitischen Lage komplett neu bewertet werden. Versorgungssicherheit muss Priorität haben, sonst schmiert uns die Wirtschaft ab. Wir begrüßen daher, dass die Landesregierung offen ist für Erdgasförderung im deutsch-niederländischen Grenzgebiet in der Nordsee. Wir sollten auch die Schiefergasförderung in Niedersachsen neu prüfen und bewerten. Es braucht aber auch Maßnahmen im Kleinen. So sollten Denkmalschutzvorschriften auf den Prüfstand gestellt werden, die heute verhindern, dass Solarmodule auf Dächern angebracht werden können. Dabei gibt es längst hochwertige, ästhetisch ansprechende backsteinfarbene Solarmodule, die beispielsweise auch auf einem denkmalgeschützten Rundlingshaus im Wendland, einem Fachwerkhaus in Celle oder einem Treppengiebelhaus in Lüneburg installiert werden könnten.
Stichwort „Schiefergas“: Was genau ist gemeint, wenn die IHKLW-Vollversammlung vorschlägt, verstärkt heimische Energieträger zu nutzen?
In der aktuellen Situation ist jeder verfügbare Energieträger willkommen, jede Kilowattstunde zählt. Der bisherige kategorische Ausschluss der Exploration und Förderung von Schiefergas sollte daher überprüft werden. Wir sind dafür, jeden Einzelfall individuell zu bewerten und erst nach der Abwägung von Kosten und Nutzen eine Entscheidung zu treffen. Unsere Bergämter sind dazu in der Lage. Nutzen wir doch das Fachwissen in Niedersachsen. Ebenso sollte Tiefengeothermie zum Zuge kommen, um Erdwärme stärker nutzen zu können. Die regionale Wirtschaft vor allem im Raum Celle verzeichnet im Bereich Bohr- und Fördertechnik eine weltweit geachtete Kompetenz, um solche Energiequellen zu erschließen.
In den Maßnahmenkatalog zur Sicherung der Energieversorgung gehört laut Resolution auch der Ausbau der Cybersicherheit. Warum?
Schon seit Kriegsbeginn warnen deutsche Sicherheitsbehörden, dass Cyberangriffe auch auf systemrelevante Infrastruktur der Energieversorgung vorbereitet werden, Schwachstellen für mögliche Sabotageakte würden bereits ausgespäht. Die Bedrohung ist also sehr real, doch Schutzmaßnahmen zur Abwehr von Hackerattacken bedeuten auch enorme Investitionen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen benötigen deshalb Unterstützung durch leicht zugängliche Beratungsmöglichkeiten und Fördermittel. Wir haben hierzu eine Initiative gemeinsam mit der Polizeidirektion Lüneburg und dem Verfassungsschutz gestartet, um Unternehmen wichtige Informationen und Hilfestellung bei der Architektur ihrer Cybersicherheit zu geben.
Gerd Ludwig