Freie Bahn für den Erfolg

Als Zwölfjährige sind Sie aus Ihrer Heimat Schwedt an der Oder nach Potsdam auf die Sportschule gewechselt, um sich auf eine Sportlerinnenkarriere vorzubereiten. Waren Sie sich damals schon so selbstsicher über Ihr Talent oder wurden Sie einfach gut beraten?
Mit sechs Jahren habe ich angefangen zu schwimmen und habe schon vor dem Schulwechsel jedes Jahr Wettkämpfe mitgemacht. Ich war schon immer erfolgshungrig, kann bis heute schlecht verlieren, zum Beispiel bei „Mensch ärgere dich nicht“. Ich hatte einen unbändigen Willen und war zudem groß und schlank, was gute Voraussetzungen als Schwimmerin sind. Meine Trainer haben mir damals vermittelt, dass ich eine Chance habe, international erfolgreich zu sein. Das hat etwas in mir ausgelöst. Meine Eltern waren erst nicht begeistert, und die 300 Mark pro Monat, die das Internat kostete, waren viel Geld für uns. Letztendlich haben sie mich aber in meiner Entscheidung unterstützt. Das war ein zusätzlicher Motivator für mich, weil ich wollte, dass sich die Mühe und Kosten lohnen und meine Eltern stolz auf mich sind.
Solche hohen Erwartungen – von anderen und einem selbst – bedeuten auch unheimlichen Druck, der lähmen kann...
Das war tatsächlich ein großer Rucksack, den ich mit mir herumgeschleppt habe. Bis zur zehnten Klasse etwa war dieser aber vor allem Ansporn. Als ich mit 16 zum ersten Mal bei den Olympischen Spielen war, als Jüngste im Team, habe ich einige Blessuren davongetragen. Da trifft sich die ganze Welt in einem Dorf, alle sehen supercool aus und ich habe mich gefragt: Was mache ich überhaupt hier? Mir schlug das Herz bis zum Hals, auf dem Startblock zitterten mir die Knie. Ich hatte das Gefühl, ich bin noch gar nicht bereit, um einen solch großen Wettkampf zu bestreiten. Ich war total überfordert. Körperlich war ich so weit, aber ich bin gescheitert an meinen Nerven. Damals wurden junge Athleten noch nicht mental auf solche Herausforderungen vorbereitet, das ist heute anders.
Später haben Sie bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften 23 Medaillen gewonnen, sind Doppelolympiasiegerin und waren Doppelweltmeisterin und Doppeleuropameisterin. Wie haben Sie die Selbstzweifel abgelegt?
Ich habe Zeit gebraucht und bin das aktiv angegangen. In der Presse gab es viel Häme und Spott, unsere Körper wurden beurteilt. Das hat etwas mit mir gemacht, diese Beurteilung von außen war ein starker Leistungshemmer. Im Mentaltraining habe ich das aufgegriffen. Auch die Frage, ob es überhaupt erstrebenswert ist, an die Spitze zu kommen. Denn bei Franziska van Almsick hatte ich gesehen: Misserfolge kommen irgendwann immer und man bleibt nicht unantastbar. An diesen Ängsten habe ich mit meiner Mentaltrainerin gearbeitet.
Niemand bleibt für immer Weltmeisterin – keine Glückssträhne hält ewig. Dafür haben Sie vorgesorgt?
Richtig. In den ersten Therapiesitzungen – es war eine klassische Verhaltenstherapie bei einer psychologischen Psychotherapeutin – war es megaspannend, diese Fragen mit jemandem zu besprechen, der sich mit destruktivem Gedankengut, das sich im Hirn manifestiert, auskennt. Das war extrem inspirierend. Wir haben auch mit Kinesiologie Dinge ausgetestet. Es heißt ja, der Körper kenne die Wahrheit. Ich bin ein ziemlich verkopfter Mensch und das war toll, meinen Körper sprechen zu lassen.
Was hat Ihr Körper Ihnen gesagt, was Ihnen vorher nicht bewusst war?
Also zum Beispiel kam heraus, dass ich Angst vor Erfolg hatte, weil ich mich dann ausgeschlossen fühlte. Wenn ich von einem Länderkampf zurückkam, hat erst einmal niemand mit mir gesprochen, ich saß allein in der Mensa beim Essen. Dieses Gefühl saß tief und hat dazu geführt, dass ich gar nicht außergewöhnlich gut sein wollte – weil ich keine Außenseiterin sein wollte. Sobald mir das bewusst war, löste sich die Blockade auf.
Dieses Außenseitergefühl kennen vermutlich nicht nur Spitzensportler*innen, sondern beispielsweise auch Unternehmensvorstände: Einerseits ist man Teil eines Teams, gleichzeitig auch Alleinkämpfer. Und jeder Mensch möchte erst einmal gemocht werden...
Im Staffelschwimmen ist es so, dass man auf keinen Fall die Langsamste sein will. Obwohl man nicht allein verantwortlich ist, zählt die Einzelleistung. Das ist ein enormer Druck, den auch in der Wirtschaft viele kennen. Ich habe Wettkämpfe erlebt, bei denen regelrecht Trauerstimmung herrschte. Wir konnten unsere Leistung nicht abrufen, die Medien berichteten schlecht über uns, das war ein Teufelskreis. Für mich persönlich habe ich im Mentaltraining herausgefunden, dass ich am leistungsfähigsten bin, wenn ich mich in einer Art neutralem Zustand befinde: weder betrübt noch euphorisiert. Dann bin ich am besten. Da ist jeder anders. Dass einen jeder mag, diesen Anspruch muss man im Leben aber ohnehin ablegen.
Helfen Ihnen solche Erfahrungen über sich selbst auch in Ihrem Leben als Speakerin und Unternehmerin?
Total! Zum Beispiel musste ich kürzlich eine Laudatio halten. Das fühlt sich für mich ähnlich wie ein Wettkampfmoment an. Mir ist bewusst, dass da sehr viele Leute kommen, denen es wichtig ist, was ich sage. Um eine gute Laudatio zu halten, muss ich fokussiert und stringent vorbereitet sein. Gegen die Nervosität habe ich dieselben Rituale wie vor dem Schwimmen: zum Beispiel klopfe ich vorher bestimmte Punkte meines Körpers wie die Lippen, Augenbrauen, Jochbein, Schultern, Brust. Diese Technik beruhigt meine Stimme und meinen Herzschlag. Ich glaube, dauerhaft gesunde Leistung erbringt nur, wer ein optimales Verhältnis von Anspannung und Regeneration lebt.
Anne Klesse