„Schule kann die soziale Spreizung nicht kompensieren“

Dr. Martina Diedrich, Direktorin des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung der Hamburger Schulbehörde, über die ungleichen Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen – und was die Hansestadt besser macht als andere Bundesländer.
Eine aktuelle Untersuchung des Ifo Instituts hat gezeigt, dass Kinder aus finanziell besser ausgestatteten Haushalten mit Eltern, die selbst Abitur haben, deutlich häufiger Gymnasien besuchen als Kinder aus ärmeren und bildungsferneren Verhältnissen. Woran hapert es?
Die für mich einschlägige Untersuchung ist der IQB-Bildungstrend 2021, der das sehr deutlich gezeigt hat: Wir haben einen deutlichen Rückgang des durchschnittlichen Leistungsniveaus, Kinder können insgesamt schlechter lesen und schreiben. Das hat auch die internationale IGLU-Studie zur Lesekompetenz sehr eindrücklich nachgewiesen. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend verstärkt. Ein weiterer Befund ist eine sehr starke soziale Spreizung: Der Bildungserfolg in Deutschland ist stark von den sozioökonomischen Hintergründen der Schüler*innen abhängig. Auch das hat sich ein Stück weit verstärkt. Für Hamburg können wir sehen, dass tendenziell Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern mit der Pandemiesituation besser zurecht gekommen sind und in der Regel das Leistungsniveau im Verhältnis zu früheren Jahrgängen halten, teilweise sogar ein wenig verbessern. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern haben sich deutlich verschlechtert. Im Grunde genommen haben wir eine wachsende Risikogruppe.
Müsste nicht mit Blick auf den Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung viel mehr getan werden, damit alle Kinder die gleichen Chancen haben?
Dass zu wenig getan wird, ist eine Unterstellung, der ich widersprechen würde. Man muss einfach sagen, dass die Kinder mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten in die erste Klasse kommen. Vielen fehlt es an einfachsten Dingen, sie können nicht zählen, nicht mit der Schere umgehen oder einen Stift halten. Die soziale Spreizung ist kein Phänomen, das die Schule verursacht, sondern die ist bereits vorhanden. Die Schule hat nicht die Fähigkeit zu kompensieren. Das muss man anerkennen. Viele Kinder haben kein Raumkonzept, keine phonologische Bewusstheit, können Laute nicht auseinanderhalten. Ich finde, alles auf Schule, den Staat oder die Bundesländer zu schieben, die angeblich alle zu wenig machen, ist sehr unangemessen.
In Hamburg haben wir seit über zehn Jahren das Programm 23+, in dem aktuell 40 Schulen in sozial herausfordernden Vierteln erhebliche Ressourcen erhalten, um die Bildungschancen der Kinder zu verbessern. Diese Schulen stehen vor einer Herkulesaufgabe, die man überhaupt nicht vergleichen kann mit dem, was Sie und ich in unserer Schulzeit erfahren haben. Die aktuelle Bundesregierung will das „Startchancen“-Programm ausbauen und pro Jahr eine Milliarde Euro vom Bund sowie eine weitere Milliarde Euro von den Ländern für zehn Jahre genau an diese Schulen – bundesweit 4.000 Schulen – geben. Wir hoffen, dass das Programm zum Schuljahr 2024/25 starten kann. Bei 20 Milliarden Euro über zehn Jahre kann man nicht sagen, dass nichts passiert.
Also, ganz praktisch: Wie kann frühkindliche Bildung verbessert werden?
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir endlich alle an einem Strang ziehen. Das hat häufig etwas mit unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten zu tun, aber auch mit einem unterschiedlichen Verständnis von frühkindlicher Bildung. Der Schulterschluss von Schulen und frühkindlicher Bildung ist unumgänglich. Auch die Öffnung in den Sozialraum ist wichtig: Schule muss als Lebensort für Kinder und Jugendliche begriffen werden, man muss ihnen nicht nur Lernangebote, sondern auch Angebote der Persönlichkeitsbildung machen. Es reicht nicht mehr, nur Lehrkräfte in der Schule zu haben. Die Anforderungen, die Schüler*innen stellen, liegen ganz häufig nicht in deren Professionsbereich. Da geht es um Verhaltensfragen, um sozioemotionale Themen. Unterschiedliche Professionen müssen gemeinsam gucken, wie gelingende Bildungsprozesse organisiert werden können.
Kinder und Jugendliche haben nach den Schulschließungen der Pandemie noch immer Lücken beim Schulstoff, viele haben seither verstärkt mit psychischen und sozialen Problemen zu kämpfen. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) will einen Teil der Angebote weiter finanzieren, die bisher vom Bund bezahlt wurden – etwa Lernkurse in den Ferien und psychologische Beratungen. Reicht das?
Es ist ein guter Ansatz. Wir haben über das Programm „Aufholen nach Corona“ die Beratungslehrer*innen-Stunden aufgestockt und endlich mehr Schulpsycholog*innen an den Schulen, auch an den Gymnasien. Denn es hat sich gezeigt, dass Corona in Bezug auf die psychosoziale Entwicklung alle Kinder gleichermaßen getroffen hat. Das Programm weiterzuführen halte ich für total wichtig. Möglicherweise können die Lernrückstände relativ schnell ausgeglichen werden, es spricht einiges dafür. Die psychoemotionale Entwicklung jedoch ist nach wie vor herausfordernd.
Hamburgs Bevölkerung wächst, bis 2030 wird mit 45.000 zusätzlichen Schüler*innen gerechnet. Milliarden Euro sollen in den Bau neuer Schulen fließen. Außerdem wurde eine Offensive für mehr Lehrkräfte angekündigt, u.a. wird das Lehramtsstudium zulassungsfrei. Klingt alles gut – aber geht das schnell genug?
Wir haben nicht erst heute angefangen, für 2030 zu planen. Den nächsten Schulentwicklungsplan haben wir schon 2019 aufgelegt für genau diese Wachstumszahlen. Bis 2030 entstehen 44 neue Schulen, was genau diesem Wachstum entspricht. Es ist also alles von langer Hand eingetütet und geplant. Wenn man so will, hat die Behörde an der Stelle den Masterplan ausgerollt. Und der läuft jetzt stoisch durch, damit wir diese Schulen dann haben, wenn wir sie brauchen.
Anne Klesse
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