Kunststoffalternative aus Agrarresten

Gerade hat Anne Lamp mit einer ihrer Mitarbeiterinnen vom Technology Development gesprochen. Unter Hochdruck ist diese Abteilung auf der Suche nach einem geeigneten Stück Land für den Bau einer neuen Produktionshalle in Norddeutschland. Die Nachfrage nach der Erfindung, die die 31-Jährige vor zwei Jahren hat patentieren lassen, ist groß – nicht erst seit Lamps Unternehmen Traceless Materials vor wenigen Wochen auf dem ersten Platz der Top-50-Start-ups Deutschlands gelandet ist.
Hinter Traceless verbirgt sich eine nachhaltige Alternative zu Kunststoff, die komplett auf natürlichen Inhaltsstoffen basiert – und damit einen bedeutenden Wandel verspricht.
Porträt von Dr. Anne Lamp
Dr. Anne Lamp hat Traceless entwickelt. Insgesamt hält sie vier Patente. © Hans-Jürgen Wege/tonwert21.de
Um Traceless Materials gründen zu können, hat Anne Lamp 2020 die Wirtschaftsexpertin Johanna Baare mit ins Team geholt. Das Start-up-Ranking hat das Duo als erstes reines Frauenteam überhaupt gewonnen. Sitz des gemeinsamen Unternehmens mit mittlerweile 21 Mitarbeitenden ist das Zentrum für Gründung, Business und Innovation (ISI) in Buchholz in der Nordheide. In einer Werkhalle findet sich dort auch die eigene Pilotanlage.
„Für die Herstellung von Traceless verwenden wir ausschließlich Reststoffe aus der Lebensmittelproduktion“, erklärt Anne Lamp, die an der TU Hamburg Verfahrenstechnik studiert hat und neben der Arbeit an ihrer Promotion tief in die Fähigkeiten von Bio-Molekülen eingetaucht ist. „Während der Stärkeanteil von Getreidesorten wie Mais oder Gerste etwa für Lebensmittel und Alkohol benutzt wird, verwenden wir nur die Reste vom Korn“, so die Wissenschaftlerin. Diese stammen von Lieferanten aus der ganzen Welt, es sei also nicht nötig, eigene Felder zu bestellen, die der Lebensmittelproduktion fehlen könnten. Nur ein Vorteil des produzierten Granulats, das über den gesamten Lebenszyklus keine schädlichen Chemikalien zugesetzt bekommt.
Für die Herstellung von Traceless verwenden wir ausschließlich Reststoffe aus der Lebensmittelproduktion.
Gemäß des Cradle2Cradle-Prinzips ist Traceless für den biologischen Kreislauf konzipiert: Die komplett plastikfreie Alternative ist biogen und darf verbrannt werden. Tatsächlich ist das Material sogar vollständig kompostierbar.
„Der Abbau dauert etwa vier bis neun Wochen.“ Anne Lamp wird nicht müde zu betonen, dass 40 Prozent des globalen Plastikmülls in der Natur landen. „Was ist mit dem Eislöffel, der sich irgendwann am Straßenrand oder im Meer findet? Traceless lässt sich für Einwegartikel genauso verwenden wie für Verpackungen oder Beschichtungen.“ Deutliches Plus für das Klima: Herstellung und Entsorgung verursachen bis zu 87 Prozent weniger CO2-Emissionen als Neukunststoff.
Schon zu Beginn ihrer Forschungen hatte Lamp sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie ihr Geschäftsmodell zu skalieren ist. Und das zu einem Zeitpunkt, als andere ihr sagten, dass sich das neuartige Verfahren wirtschaftlich niemals rechnen werde. „Damals gab es noch keine Fridays-for-Future-Bewegung und keine Rohstoffkrise. Es hat sich vieles getan in den vergangenen drei Jahren, die EU-Plastikdirektive ist lediglich ein Beispiel.“ Nur ungern nimmt Anne Lamp die Dinge einfach so hin, wie sie sind. „Die Großen hätten die Welt schon vor zehn Jahren besser machen können. Heute jedoch lassen sich die Konsumentinnen und Konsumenten nicht mehr mit Greenwashing abspeisen.“
Wir müssen möglichst schnell möglichst groß werden, um wirklich etwas bewegen zu können.
Traceless konnte sich zuletzt über eine EU-Förderung in Höhe von 2,4 Millionen Euro freuen: als Investition in die „bahnbrechende Innovation“, so Lamp. Der Wettlauf um derartige Lösungen hat längst begonnen: Beweis dafür sind die vielen Anfragen, die das vielfach preisgekrönte Start-up Woche für Woche erreichen. Zurzeit arbeitet man an Kleinserien für verschiedene Unternehmen – darunter Onlinehändler Otto und die Lufthansa. In Norddeutschland soll in Zukunft nur das Granulat produziert werden, das Kunden später in ihren eigenen Industrieanlagen in Produkte verwandeln können. Dazu braucht es den Platz für eine neue Halle, denn die Ziele sind ehrgeizig: Bis Ende 2030 sollen eine Million Tonnen des  Materials auf den Markt gebracht und 500 Stellen geschaffen werden, sagt Lamp: „Wir müssen möglichst schnell möglichst groß werden, um wirklich etwas bewegen zu können.“ Alexandra Maschewski