Wer Zukunft will, muss Wandel wagen

Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx über ausgediente industrielle Wachstumsvorstellungen und warum mehr in die Zukunft statt aus der Vergangenheit heraus gedacht werden sollte.
Von Ihnen stammt das Zitat „Zukunft entsteht, wenn wir die Welt aus der Perspektive des Morgen betrachten“. Wie meinen Sie das – und wie lässt sich aus der Perspektive der Zukunft denken?
Das kann man üben. Wir Menschen haben von der Evolution eine Art Zukunftsgenerator mitbekommen. Er sitzt in der zweiten Schicht des präfrontalen Cortex als „Schaltzentrale“, in der alle Informationen über die Welt und über uns selbst – also von innen und außen – zusammenlaufen. Das ist unser „Zukunftssinn“, der rund um die Uhr in Aktion ist. Wenn wir morgens aufstehen, denken wir an Frühstück, wenn wir die Nachrichten hören, sorgen wir uns: „Oh Gott, was kommt da auf uns zu?“ Unsere Spezies hat einen Hang zur Vorhersage, zum inneren Prophetentum. In der Zukunftsforschung versuchen wir, diese Fähigkeit zu trainieren. Wir überprüfen Wahrscheinlichkeiten und Systemiken wissenschaftlich und versuchen, das Spektrum der Möglichkeiten zu erweitern. Wir alle haben ja auch einen Zukunftsinstinkt: Man kann spüren, das mit Trump kann nicht gut gehen.
Um in die Zukunft zu sehen, sollten wir also mehr auf unser Bauchgefühl hören?
Nicht nur. Es ist ja so: Unser Zukunftssinn wird oft von der Angst übertönt. Von dieser Angst nähren sich übrigens Religionen, man kann sie auch leicht missbrauchen. Es geht um einen Zukunfts-Realismus, der uns handlungsfähig macht. Und uns sozusagen mit der Zukunft verbindet.
Die Welt bzw. unsere Vorstellung davon liegt in Trümmern – frühere Gewissheiten wie die westliche Wertegemeinschaft stehen in Frage. Hilft es, wenn wir in unserem direkten Wirkungskreis – beispielsweise im Unternehmen – eigene Werte definieren?
Werte klingen oft schön, sind aber häufig unscharf. Sie können sehr schnell umgewertet werden, zudem verwechseln viele Werte mit Moral. Die Zehn Gebote oder das Gesetzbuch sind keine Werte. Werte sind Wertigkeiten – dass wir bestimmte Dinge schätzen, behüten, bevorzugen usw. In einer Gesellschaft, die so stark individualisiert ist wie unsere, die aufgrund ihrer Vielfalt auch starke Widersprüchlichkeiten hat, ist es praktisch nicht möglich, ein allgemeines, verbindendes Wertesystem zu haben. Wer von Werten redet, vertritt oft eine Ideologie. Vielleicht sollten wir besser von Haltung sprechen. Ich finde auch den altmodischen Begriff der Tugend sehr schön. Ich selbst nutze den Begriff des humanistischen Futurismus.
Was beinhaltet dieser?
Wir sehen die Zukunft immer vom Menschen aus, nie nur von der Technologie oder Ökonomie. Wir beziehen uns auf den Humanismus als Bild eines zur Vernunft fähigen Menschen, der aktiv handeln kann, aber auch handeln muss. Immer spielt die Würde des Individuums eine Rolle, gleichzeitig aber auch der Wert des Sozialen. Die Marktwirtschaft, wie wir sie jetzt kennen, ist darauf aufgebaut – wird aber gerade massiv bedroht. Was wir in Amerika sehen, ist reaktionärer Fu­tu­rismus und gleichzeitig eine extreme Form der Machtwirtschaft.
Wie können sich in diesem von Ihnen beschriebenen Spannungsfeld Unternehmen den humanistischen Futurismus zu eigen machen?
Das klassische, veraltete Unternehmertum war patriarchal. Einer entschied alles. Inzwischen wissen wir, dass Führung durch Kommando nicht mehr funktioniert. Dass die Eigenkräfte und -verantwortlichkeiten der Mitarbeitenden wahrgenommen und entwickelt werden müssen, um die notwendige Komplexität zu erreichen. In humanistischen Unternehmen werden Arbeitskräfte nicht im Sinne von durch Roboter ersetzbare Teileinheiten betrachtet, sondern als ganzheitliche Menschen. Die Umwelt und deren Erhalt ist ein weiterer Faktor, zu der sich jedes Unternehmen positionieren muss. Ein Unternehmen ist nie nur Geldmaschine. Sondern immer Teil und Träger einer Lebenskultur. Es geht auch darum, dass es den Mitarbeitenden gut geht, dass Arbeit so organisiert ist, dass sie einen schöpferischen Anteil und Sinn hat. Nur so kommt man zur notwendigen Stabilität.
Müssen alle die Fragen der unternehmerischen Ethik, wie Sie sie beschreiben, in der veränderten Weltlage jetzt neu definieren?
Das müssen wir ja immer wieder, auch wegen der sich rasch wandelnden Technologie. Eine aktuelle Frage, die Unternehmen für sich beantworten müssen, ist: Wie nutzt man KI menschenwürdig, so dass Mitarbeitende sie als Instrument begreifen und sich nicht ersetzbar fühlen? Das sind Fragen, die uns die Zukunft stellt, und die in der Gegenwart eine erhebliche Brisanz haben.
Klingt nach einer Besinnung auf menschliche Eigenschaften?
Ja, aber auch aus berechtigten ökonomischen Interessen heraus. Von der Digitalindustrie wird uns weisgemacht, dass Künstliche Intelligenz alles lösen kann. Aber so einfach ist es nicht, weil in jeder Arbeit ein menschlicher Kern existiert. Die Idee, fehlende Pflegekräfte durch humanoide Roboter zu ersetzen, ist weder durchdacht noch menschlich. Die alten Leute würden sterben, denn gerade schwache Menschen brauchen menschliches Miteinander. Es gibt in Deutschland eine Technologiepanik bei gleichzeitig völlig überstei­gerten Erwartungen an das, was Technik lösen kann. Ich selbst habe vor Jahrzehnten geglaubt, dass das Internet die Menschheit befreien wird, weil alle Zugang zu Wissen haben. Heute sehen wir die teuflischen Nebenwirkungen: Der Aufmerksamkeits-Algorithmus ist ein toxisches Geschäftsmodell. Diejenigen, die damit riesige Imperien errichtet haben, versuchen jetzt mit dem Thema KI noch eine Weltherrschaft obendrauf zu setzen. Das ist ein aussichtsloses Rennen, das sich irgendwann völlig von der Wirklichkeit ablöst und zum fatalen Hype wird.
Wie ist aus Ihrer Sicht stattdessen ein ganzheitlicher Bewusstseinswandel möglich?
Wandel passiert immer mit Schmerzen. Wahrscheinlich werden wir schrecklich auf die Nase fallen müssen. Alles funktioniert dann mit KI, aber in Wirklichkeit funktioniert gar nichts mehr. Das Gute aber ist: Wir sind lernfähige Wesen, wir können selbst tiefgreifende Katastrophen überleben, weil wir anpassungsfähig und divers sind. Deshalb müssen wir uns um die langfristige Zukunft nicht sorgen. Die Frage ist, welchen Wegzoll die nächsten Irrtümer und Übertreibungen kosten werden.
Was kann oder muss denn die Politik tun, um bestmögliche Rahmenbe­dingungen für einen humanistischen Futurismus zu schaffen?
Oft setzen politische und wirtschaftliche Denkmuster immer noch auf sehr alte Methoden und Modelle. Das ging lange gut, aber jetzt dreht sich die Welt in eine andere Richtung und wir brauchen dringend andere Denkmuster! Zum Beispiel solche, die Polarisierung aufheben, anstatt sie andauernd zu verschärfen. Die den Begriff „Wachstum“ nicht mehr nur auf die alte Weise verstehen. Wir wissen doch alle, dass das alte Industriemodell, das die Zukunft aus der reinen Güterschöpfung erklärt, ausgedient hat. Doch wir sind so industriell geprägt, dass viele nur in diesen alten Kategorien des Bruttosozialprodukts und des Wachstums denken können. Es ist spürbar, dass die politische Sprache nicht mehr mit den wirt­schaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zusammenpasst. Beispielsweise die Formulierung „Wirtschaft ankurbeln“: Die rührt von den frühen Automobilen, die man noch mit der Hand mühsam ankurbeln musste. Ich selbst fahre seit Langem ein E-Auto, mich befremden solche Formulierungen. Wir denken aus der Vergangenheit heraus. Mit Kurbeln kommen wir nicht in die Zukunft.
Anne Klesse
IHK Lüneburg-Wolfsburg
Am Sande 1 | 21335 Lüneburg
Tel. 04131 742-0
Mail: service@ihklw.de