Warum wir eine umfassende Agenda für Wettbewerbsfähigkeit brauchen

Die politische Weltlage wirkt sich auch auf den Europäischen Binnenmarkt aus. Um den Unsicherheiten besser begegnen zu können, sucht die EU nach Möglichkeiten, Abhängigkeiten zu verringern und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Doch das reicht nicht. Ein Gastbeitrag von Freya Lemcke.
Gerade erst feierte Europa das 30-jährige Bestehen des Binnenmarktes. Seit 1993 gibt es in den Mitgliedsstaaten den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen, europäische Bürger*innen können ihren Wohnsitz frei wählen und dort ihrer Arbeit, Ausbildung oder unternehmerischen Tätigkeit nachgehen. Seither hat sich der Binnenmarkt immer stärker integriert, Handelshemmnisse wurden abgebaut. Das hat das Wirtschaften innerhalb Europas stark vereinfacht und ist eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union. Doch mittlerweile sehen immer mehr Unternehmen in Deutschland die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Wirtschaftsstandorts kritisch.
Sie seien mit steigenden Kosten, wachsender Bürokratie und zunehmenden Handelsbarrieren konfrontiert, heißt es seitens der deutschen Wirtschaft. Aufgrund der noch immer schwächelnden weltweiten Konjunktur heißt das: Der nötige Investitionsschub für die grüne und digitale Transformation der Wirtschaft bleibt momentan aus – und damit auch Investitionen in die Wettbewerbsfähigkeit.
Dabei sind die dringend nötig. Laut aktueller der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) vom Jahresbeginn 2024, an der sich mehr als 27.000 Unternehmen aus allen Branchen und Regionen beteiligt haben, verfestigt sich die schlechte Stimmung der deutschen Wirtschaft insgesamt weiter. Fast drei von fünf Unternehmen sehen in den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen ein Geschäftsrisiko – ein Rekordwert in der Geschichte der Befragungen. Mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen nennen Energie- und Rohstoffpreise, Fachkräftemangel, Inlandsnachfrage und Arbeitskosten als größte Geschäftsrisiken.
Neue Auflagen verteuern das Wirtschaften
Aufgrund europäischer Gesetzgebung gibt es zudem viele neue Auflagen und Gesetze, die das Wirtschaften zusätzlich verteuern, wie höhere Preise für CO2, neue Berichtspflichten, striktere Renovierungsauflagen für Gebäude und Emissionsstandards für Fahrzeuge. Es ist fraglich, inwieweit die Wechselwirkungen der vielen aktuellen Regulierungen ausreichend geprüft sind und ob es nicht effizientere Ansätze insbesondere für die Umsetzung gäbe.
In den vergangenen Monaten hat die Europäische Kommission einige Initiativen vorgelegt, die die Industrie unterstützen sollen: So soll zum Beispiel der sogenannte Industrieplan des „Green Deal“ die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Bereich Clean Tech stärken. Er soll planungssichere und einfachere Regelungen bringen, einen schnelleren Zugang zu EU-Finanzmitteln, den Ausbau von Kompetenzen bei Fachkräften sowie einen offenen Welthandel für resiliente Lieferketten.
Dafür hat die Kommission unter anderem zwei Gesetzesentwürfe vorgelegt, welche die Planungs- und Zulassungsverfahren für Clean-Tech-Branchen sowie für den Abbau von Rohstoffen innerhalb der EU beschleunigen sollen. Die Produktion von erneuerbaren Energien soll ausgebaut und die Abhängigkeiten von Lieferanten außerhalb der EU verringert werden. Auch soll der Marktzugang über die Welthandelsorganisation WTO, Freihandelsabkommen und einen multilateralen Rohstoffclub grundsätzlich verbessert werden.
IHK-Organisation unterstützt viele Vorschläge
Während diese Vorschläge valide Ansatzpunkte enthalten, für die sich auch die IHK-Organisation einsetzt, beinhalten die Gesetzesvorschläge auch Maßnahmen, die über das Ziel hinausschießen. Zu nennen sind hier die Zielvorgaben für eine Mindestproduktion kritischer Rohstoffe in Europa oder die Produktion von Bauteilen für Netto-Null-Technologien. Ebenfalls kritisch sieht die IHK-Organisation einen von der EU-Kommission vorgeschlagenen Aufbau von staatlich koordinierten strategischen Reserven oder das Monitoring von Lieferketten. Stattdessen sollten sich die Gesetzgeber darum kümmern, belastbare Rahmenbedingungen und Planungssicherheit für unternehmerische Entscheidungen zu schaffen. Im März 2023 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Strategie zur Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit, die die Weichen für die Zeit nach 2030 stellen soll. Darin wird auf die wichtigsten Standortfaktoren eingegangen, allerdings bleiben auch diese Maßnahmen sehr allgemein. Berichtspflichten für Unternehmen sollen demnach stark gesenkt werden. Hier sind konkrete Maßnahmen nötig.
Das von der EU-Kommission im Herbst vorgelegte „Entlastungspaket für den Mittelstand“ bleibt bisher hinter den Erwartungen zurück – es fehlen konkrete Maßnahmen, die die Unternehmen auch kurzfristig entlasten. Unterm Strich wird bei der Gesetzgebung oft nicht ausrei­chend auf die Umsetzbarkeit in kleinen Betrieben geachtet oder die Verwaltungsverfahren funktionieren einfach nicht. Es ist essenziell, dass der nun endlich berufene EU-Mittelstandsbeauftragte zukünftig dafür sorgt, dass der Mittelstand bei der Ausgestaltung von neuen EU-Initiativen von allen EU-Institutionen mitgedacht und einbezogen wird – nach dem Grundsatz „Think small first“.
Die genannten Probleme schwächen das Vertrauen von Unternehmen in den Standort Europa. Denn um die Erfolgsgeschichte des Europäischen Binnenmarktes fortzusetzen, brauchen wir eine umfassende Agenda für Wettbewerbsfähigkeit. Nur so kann Deutschland ein starker Standort für die Wirtschaft und insbesondere für den Mittelstand bleiben.
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