New Work, new Leadership

Vier Führungskräfte erzählen, wann sie den Ton angeben, wie sie Verantwortung teilen und warum Freiraum und Möglichkeiten zur Mitgestaltung so wichtig sind.

Führung umgekehrt

Wir Sales Rockstars sind die führende Kommunikationsagentur für den Vertrieb erklärungsbedürftiger Digitalisierungslösungen. 2015 gegründet, sind wir bis 2017 rasant gewachsen – auch personell. Aus den daraus resultierenden He­rausforderungen ergab sich der Anfang für das bei uns gelebte ,umgekehrte Führungsprinzip‘, oder wie wir es nennen: Reverse Leadership.
Wir haben erkannt, dass unsere Teamkolleginnen und -kollegen in ihrem jeweiligen Aufgabengebiet so hochgradig spezialisiert und erfahren sind, dass wir Führungskräfte uns nunmehr als Dienstleister und Möglichmacher verstehen: Durch aktives Zuhören, das Erkennen von Handlungsbedarfen und konstruktiver Problembewältigung – ohne dabei vorzuschreiben, wie die Kolleginnen und Kollegen genau zu agieren haben. Zudem haben wir gelernt, dass die grundsätzliche charakterliche Eignung und Bereitschaft jedes unserer Teammitglieder die Basis für ein insgesamt wertschöpfendes Zusammenarbeiten ist. Denn Reverse Leadership bedeutet auch, sich nicht vor oder hinter irgendetwas verstecken zu können, Verantwortung zu tragen und offen zu kommunizieren.
Meine Rolle als Geschäftsführer und die unserer Führungskräfte sehe ich in der Aufgabe, jeder einzelnen Person in unserem Team zu ermöglichen, das Beste zu leisten, indem sie das Beste bekommt.
Nicht alle möchten Verantwortlichkeiten an sich ziehen, was es natürlich beim Wachstum unseres Teams zu beachten gilt. So hat sich unser aktuell 20-köpfiges Team zwischen Köln und Kiel in klar abgegrenzten Aufgabenfeldern entwickelt. Mit zwei langjährigen Führungskräften ohne weitere Managementstrukturen sind wir dabei remote und hybrid aktiv. Zusätzlich treffen wir uns mindestens monatlich in unserem Headquarter für Workshops, Meetings und Co. Mit zusätzlichen Team-Events können wir so direkt den Zusammenhalt im Sinne einer nachhaltigen wie werthaltigen Unternehmenskultur stärken.

Fünf-Stunden-Tag

Wir entwickeln mit acht Mitarbeitern Software, aktuell zur effizienteren Erstellung von Architekturzeichnungen, denn Bauplanung ist seit über 33 Jahren unser Thema. Die EDV-Branche war immer offen für neue Mitarbeiterbindungsmodelle: gegenseitige Gehaltsabstimmung, Fitnessräume oder aktuell die Vier-Tage-Woche. Wir praktizierten wie selbstverständlich 100 Prozent Gleit- und Vertrauensarbeitszeit. Das war hip, führte aber auch zu Irritationen: Was bedeutet eine Mail um 21 Uhr? Was ist, wenn ein Kollege vom kurzen Gang zur Reinigung einfach nicht wiederkommt?
Dazu kam ein Misstrauen untereinander, das erheblich gesteigert wurde, als sich Gruppen bildeten, die zur gleichen Zeit am selben Ort einen gegenseitigen Austausch etablierten und irgendwann wie eigenständige Unternehmen agierten. Diese ,Geschwüre‘ hätten autoritär entfernt werden müssen. Allerdings mit ungewissen Folgen. Am Tiefpunkt dieser Entwicklung habe ich von dem Five-Hour-Workday gelesen. Das hat mich überzeugt. Denn seien wir ehrlich: Mehr als fünf Stunden arbeitet niemand wirklich produktiv an einem Acht-Stunden-Tag. Es ist Leidensdruck und nicht die Utopie, die uns handeln lässt. Ich habe 2018 den Fünf-Stunden-Tag nicht diskutiert, sondern verordnet. Von 8.30 Uhr bis 13.30 Uhr gilt Anwesenheitspflicht, es gibt keine Pausen, private Aktivitäten inklusive Social Media sind untersagt.
Unsere Mitarbeiter bekommen acht Stunden bezahlt und erhalten 30 Urlaubstage. Unsere Produktivität ist erheblich gestiegen.
Mein Umfeld hat überraschend beleidigt reagiert: Das sei unverdient und führungsschwach. Wiederholt nachgefragt war es nur Neid. Und ich? Ich war nach den fünf Stunden erstmal total kaputt. Viele, die heute von unserem Fünf-Stunden-Tag hören, halten ihn für einen Trick und sprechen von getarnter Kurzarbeit. Tatsächlich bekommen unsere Mitarbeiter acht Stunden bezahlt und erhalten 30 Urlaubstage. Unsere Produktivität stieg jedenfalls erheblich. Aktuell lässt sich diese Kausalität nicht fortschreiben, denn wir haben früh auf Corona mit einer langwierigen Digitalisierung unserer Büroabläufe reagiert und dabei Reibungsverluste einkalkuliert. Beim Fünf-Stunden-Tag bemerke ich eine leichte Erosion, aber das lässt sich nachjustieren. Wenn nicht, halte ich es mit Arno Schmidt: Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können.

Größtmögliche Flexibilität

Wir entwickeln und vertreiben Software, die auf Amazon die Ausspielung der Werbung von Händlern automatisiert und optimiert. Vor drei Jahren waren wir knapp über 20 Leute, jetzt sind es mehr als 80 Mitarbeitende. Ich merkte, dass wir zwei Geschäftsführer nicht mehr mit jedem und jeder persönlichen Kontakt hatten: Ein gemeinsam erarbeitetes Culture Booklet musste her. Auch mussten sich natürlich viel mehr Teams bilden. Unsere Abteilungen haben jeweils einen Team Lead und organisieren selbst, wer wann und wo arbeitet. Es ist mir egal, wann der Arbeitstag von wem anfängt und wann er aufhört. Es ist mir auch egal, wie lange die Pausen dauern und von wo aus jemand arbeitet. Es ist mir wichtig, dass Absprachen im Team laufen, Deadlines eingehalten werden und die Ergebnisse stimmen.
Mir ist nicht egal, wie es meinen Mitarbeitenden geht. Das Wichtigste ist für mich, meine Leute zu supporten. Ich vertraue ihnen. Dieses Vertrauen muss sich niemand erarbeiten. Ich tue das einfach. Eine Kontrollkultur gab es noch nie. Für einen Arztbesuch muss sich niemand abmelden. Ich bin selbst Vater von zwei Kindern und arbeite nur vier Tage in der Woche. Ich möchte, dass jeder mit der größtmöglichen Flexibilität arbeiten kann. Schließlich hat jeder mal Arzttermine, die nur während der Bürozeiten wahrgenommen werden können.
Es ist mir egal, wann der Arbeitstag von wem anfängt und wann er aufhört, wie lange die Pausen dauern und von wo aus jemand arbeitet. Es ist mir wichtig, dass Absprachen im Team laufen und die Ergebnisse stimmen.
Als Geschäftsführer muss ich mir klarmachen: Alle im Team sind Menschen mit Sorgen, Nöten, Ängsten und einem Privatleben. Ich muss jeden Tag darum kämpfen, dass meine Mitarbeitenden bei mir bleiben. Ohne sie bin ich nichts. Noch mehr muss ich darum kämpfen, neue Mitarbeitende zu gewinnen. Wir bieten Bewerbenden ein wertschätzendes Miteinander. Adference ist ein moderner Laden, der gut mit seinen Mitarbeitenden umgeht. Bei uns ist New Work nicht nur ein Buzzword, sondern eine gelebte Unternehmenskultur. Mir ist wichtig, dass meine Leute Beruf und Privatleben bestmöglich unter einen Hut bekommen. Nicht in allen Berufsbranchen ist maximale Flexibilität möglich, aber ich denke, dass viele Arbeitnehmende in traditionell geführten Unternehmen gar nicht wissen, dass sie ihren Arbeitsalltag auch offener gestalten könnten.

Verteilte Führung

Wir betreiben das Ladencafé und die Kaffeerösterei Avenir an zwei Standorten in Lüneburg. Bei uns gibt es keinerlei Führung qua Status, Rolle oder Position, es gibt auch niemanden mit speziellen Weisungsbefugnissen. Führung entsteht trotzdem, sehr situativ, sehr fluide und je nach Thema: nämlich dort, wo Menschen anderen folgen. Weil jemand bestimmte Kompetenzen hat oder eine bestimmte Persönlichkeit.  
Von unseren insgesamt rund 30 Mitarbeitenden gehören zwölf zum Kollektiv. Das Kollektiv bildet die Geschäftsführung, übernimmt Verantwortung und trifft Entscheidungen. Ursprünglich hatten wir die Vorstellung, dass wirklich alle Mitarbeitenden dazugehören. Aber wir haben gemerkt, dass nicht alle aus dem Team Verantwortung übernehmen wollen. Daher gibt es das Kollektiv als Kernteam. Wer nicht Teil des Kollektivs ist, kann sich trotzdem zu allen Themen mit Ideen einbringen.
Bei uns gibt es keinerlei Führung qua Status, Rolle oder Position. Führung entsteht trotzdem, sehr situativ und je nach Thema: nämlich dort, wo Menschen anderen folgen. Weil jemand bestimmte Kompetenzen hat oder eine bestimmte Persönlichkeit.
Innerhalb des Kollektivs gibt es keine formale Führung. Alle können alles hinterfragen. Was es dafür braucht, ist, dass wir sehr viel miteinander reden. Das Kollektiv trifft sich jede Woche für zwei Stunden. Außerdem gibt es Arbeitsgruppen. Keine Abteilungen, sondern Gruppen, die bestimmte Entscheidungen allein treffen, ohne das Kollektiv. Das ist nötig, damit wir mit unseren Themen vorankommen.  
In der tomorrow GbR wollen wir das Morgen mitgestalten. In unserer komplexen Welt brauchen Organisationen und Menschen neue Fähigkeiten, um weiter innovativ sein zu können. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der man Probleme alleine löst. Es geht darum, Menschen auf dem Weg in die Selbstorganisation zu unterstützen.  
Führungskräfte stehen häufig vor der Anforderung, vier Dimensionen erfüllen zu müssen: fachliche Expertise, strategischen Weitblick, Prozesse entwickeln und Menschen führen, also zuhören können und empathisch sein. Das Menschliche kommt dabei oft zu kurz, wird aber immer wichtiger. Wir sollten nicht von einer Person verlangen, alles zu können. Wir sollten Führung daher gut aufteilen.“  
Carolin George
IHK Lüneburg-Wolfsburg
Am Sande 1 | 21335 Lüneburg
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