"Klassische Führungskompetenzen funktionieren nicht mehr"

Kommunikationsprofi und Coach Silke Engel ist geschäftsführende Gesellschafterin und Senior Consultant bei flow consulting. Im Interview verrät sie, was "dynamic leadership" in der Praxis ausmacht.
Digitalisierung, Globalisierung, New Work, Pandemie – die Arbeitswelt verändert sich rasant. Was bedeutet das für Führungskräfte? 
In vielen Organisationen und Unternehmen steht aktuell der ganz große Change bevor. Da geht es vor allem um Transformation, also zum Beispiel die Wandlung weg vom produzierenden Gewerbe hin zu digitalen Lösungen. Bei allen Schritten muss nicht nur die Belegschaft mitgenommen werden, sondern im Prinzip wird das ganze Unternehmen auf links gekrempelt. Eine riesige Herausforderung in Bezug auf Führung! Deshalb sind nun neue Kompetenzen gefragt, für all diese Entwicklungen braucht es eine passende Art von Führung. 
Nämlich? 
In einem Umfeld, in dem alles in Frage gestellt ist, funktionieren klassische Führungskompetenzen nicht mehr. Führungskräfte müssen nicht mehr sagen, wo es lang geht, hierarchische Führung ist nicht mehr so relevant wie früher. Heute geht es um dynamische Führung. 
Was macht denn die Führungskraft von morgen aus? 
Es ist wichtig, verschiedene Rollen einnehmen zu können. Jede einzelne Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter darf mal die Führung übernehmen, beispielsweise in einem kleinen Projekt. So ist es auch möglich, dass mal jemand am Steuer sitzt, der eigentlich drei Hierarchiestufen unter den anderen Teammitgliedern steht. Im Endeffekt werden Führungskompetenzen also relevanter für alle. Denn jeder kann mal in eine Führungsrolle kommen. 
Wie kommen diejenigen, die qua Position Vorgesetzte sind und sich zurücknehmen müssen, mit dem Machtverlust klar? 
Alle müssen ein wenig von ihrem Herrenhügel herunterkommen, sonst funktioniert es nicht. Moderne Führungskräfte müssen Spannung aushalten können, Planabweichungen sind in Ordnung. Sie sollten damit klarkommen, nur begrenzt Orientierung geben zu können, auch wenn diese von ihnen erwartet wird. Sie sollten viele neue Ideen und Impulse nicht als störend empfinden. Das braucht einen gewissen Grad an Gelassenheit, Abstand zu sich selbst und zum eigenen Idealplan. Man muss über der Sache stehen können, sich nicht an Zielen festbeißen, sondern flexibel bleiben.  
Das Mindset der modernen Führungskraft ist im ständigen Fluss?  
So kann man es sagen. Zutrauen, Respekt, Wertschätzung für die Sichtweisen und Motivlagen anderer sind wichtig. Außerdem eine hohe Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Unsicherheiten ertragen zu können. Konflikte verstehen zu können und sie nicht immer sofort lösen zu müssen, sondern diese als Hinweise zu sehen. Man darf öffentlich sagen, dass man etwas noch nicht weiß, vielleicht sogar niemand in der Organisation es weiß. Wir nennen das Shaping Leadership. Eine moderne Führungskraft ist eine Art Gärtnerin, die den Boden bereitet und dafür sorgt, dass die Dinge wachsen und gedeihen. Sie ist auch „Enabler“: jemand, der Leute befähigt.  
Nun gibt es in Unternehmen gewachsene Strukturen und eine mitunter diverse Mitarbeiterschaft. Welche Probleme und Herausforderungen ergeben sich durch die Rahmenbedingungen? 
In meinen Coachings sehe ich oft dann Probleme, wenn sehr moderne Führungskräfte in behördenähnlichen Strukturen arbeiten und damit ihrem Gestaltungswillen nicht nachkommen können, sondern an Grenzen stoßen. Natürlich ist es eine große Herausforderung für Menschen, die schon lange als Führungskraft arbeiten und in der alten Arbeitswelt „aufgewachsen“ sind. Dass sie nun beispielsweise nicht mehr die Experten sind, die ihren Mitarbeitenden in jeder Lebenslage helfen können – darunter leiden viele. Sie müssen viel netzwerken, Innovation vorantreiben, Eigenständigkeit fördern – dabei waren sie mal für etwas ganz anderes angetreten. Die eigene Haltung zu ändern ist schwierig. Eine klassische Führungskompetenz wie starke Zielorientierung kann in komplexen Situationen, wie wir sie heute oft haben, zum Scheitern führen.  
Komplexität ist eines der Schlagwörter, mit denen die disruptiven Veränderungen in der Arbeitswelt beschrieben werden. Dazu gehören noch Volatilität, Unsicherheit und Ambiguität... 
Diesen sehr komplexen Zustand kürzen wir mit VUKA ab. Solange das Umfeld kompliziert ist, kommt man mit Projektmanagement und mit klassischen Führungskompetenzen sehr gut weiter. Wenn es aber komplex wird wie seit einigen Jahren – etwa durch das praktisch jederzeit verfügbare Wissen und die enorme Geschwindigkeit, in der wir arbeiten und leben –, dann braucht es moderne Führungskompetenzen: statt Zielorientierung von oben eine Vermittlung von Orientierung. Ein Beispiel: Wir legen fest, dass wir auf den Polarstern segeln und gleichzeitig ist allen klar, dass wir den Polarstern nie erreichen werden. Aber dieser Stern treibt uns an, gibt allen Orientierung, ist ein übergreifendes Ziel, eine Vision.  
Eine weitere Herausforderung in diesem Zusammenhang ist, wenn entsprechende Veränderungsprozesse zwar angestoßen, die Ergebnisse dann aber nicht ausgehalten werden: Wenn ein Team zum Beispiel ein Projekt frei gestalten darf, am Ende aber doch Zwänge bestehen und bestimmte Ergebnisse nicht möglich oder nicht „erlaubt“ sind.  
So à la „Danke für eure Argumente, aber wir machen es weiter so, wie wir es schon immer gemacht haben.“ 
Genau. Dieses Gefühl, nur scheinbeteiligt zu werden, kennen viele. Das ist kontraproduktiv und sehr demotivierend. Echte Beteiligung möglich zu machen und das auch zu leben, das ist ein großer Schritt.
Anne Klesse 

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