Mehr Mut zu weniger Regulierung

Rund 14 Stunden pro Woche arbeiten Hoteliers und Gastronomen, um bürokratische Vorschriften zu erfüllen. Das muss sich ändern.
Munteres Stimmengewirr im gemütlichen Café Zeitgeist in der Altstadt von Lüneburg. Alle Tische sind besetzt und darauf stehen liebevoll angerichtete Teller mit allem, was man für ein entspanntes Frühstück und eine kleine Auszeit so braucht. Wer vorher einen Blick auf die Website des Cafés geworfen hat, der weiß, dass Inhaberin Claudia Klamp ihre regionalen Lieferanten mit großer Sorgfalt auswählt. Wie viel Zeit es die 47-Jährige und ihr Team jedoch kostet, für jedes einzelne Lebensmittel, das in Dipp, Suppe oder Torte steckt, eine Allergendokumentation zu erstellen, bleibt im Verborgenen – so wie unzählige andere bürokratische Aufgaben mehr, die die Unternehmerin in ihrer 60-Stunden-Woche erledigt. Nicht selten zu Hause nach offiziellem Feierabend.
„Die Regelungen werden immer detaillierter und damit komplizierter“, sagt Claudia Klamp, die ihr Café 2014 eröffnet hat. „Es darf nicht nur immer etwas dazukommen. Schließlich ist es unser Anspruch, ausreichend Zeit für den Gast zu haben. Die Politiker übersehen zu oft, dass das alles neben unserer originären Arbeit stattfindet.“
Mit dieser Meinung ist die Lüneburgerin nicht allein. Gerade in der schon ohne Corona besonders stark regulierten Gastronomie klagen zahlreiche Betriebe über zu umfangreiche bürokratische Vorgaben – egal, ob es sich um Arbeitszeitdokumentation, Elektro-Check, Hygienevorschriften oder Genehmigungen handelt. Und obwohl die Bundesregierung bereits drei Bürokratieentlastungsgesetze auf den Weg gebracht hat, steigt die Zahl der Vorschriften stetig weiter.
Bis zu 125 Vorschriften gilt es zu erfüllen
Sinn und Zweck der Bestimmungen werden dabei von den Unternehmen meist gar nicht angezweifelt. Oft erfüllen die Betriebe sogar mehr Vorschriften als nötig. Laut einer Pilotstudie, die der Deutsche Industrie- und Handelskammertag e.V. (DIHK) 2020 gemeinsam mit dem Consulting-Unternehmen Sira erarbeitet hat, hat jedoch jedes zweite Unternehmen Schwierigkeiten mit dem Umfang und dem Verständnis der auferlegten Maßnahmen. Die Studie, die den Forderungen der Unternehmen an die Politik mehr Nachdruck verleihen soll, hat ergeben, dass diese durchschnittlich 14 zusätzliche Stunden pro Woche leisten, um 100 bis 125 komplexe Vorschriften zu erfüllen. Auch ohne die ohnehin schon anfallenden Aufgaben wie Umsatzsteuervoranmeldung, Lohnabrechnung oder die zusätzlichen Corona-Auflagen eine belastende Sisyphusarbeit. Und ein Problem, das durchaus auch auf andere Branchen übertragbar ist.
„Ich frage mich manchmal, wie sich ein Kleinstunternehmen unter diesen Voraussetzungen überhaupt entwickeln soll“, sagt Claudia Klamp, die seit zwei Jahren Mitglied der Vollversammlung unserer IHKLW ist und sich dort auch im Rahmen des Arbeitskreises für Bürokratieabbau engagiert hat. Besonders stolz ist sie auf ihr Team, mit dem zusammen sie ihr „Wohlfühl-Café“ an sechs Tagen die Woche am Laufen hält. „Doch jedes Mal, wenn ich einen neuen Mitarbeiter einstellen möchte, müssen allein neun Unterschriften auf diversesten Formularen geleistet werden, noch bevor dieser überhaupt das erste Mal arbeiten darf.“
Um auf dem neuesten Stand zu bleiben, ist Eigeninitiative gefragt. „Dehoga, Newsletter, Steuerberater – es bleibt jedem selbst überlassen, sich zu informieren“, sagt Klamp. Und das sogenannte „One in, one out“-Prinzip der Bundesregierung von 2015, dessen konsequente Einhaltung vom DIHK gefordert wird, und das vorsieht, dass für jede neue Regelung eine alte weichen sollte? „Darauf warte ich noch“, so Claudia Klamp. „Im Gegenteil – manchmal habe ich den Eindruck, dass man in Deutschland  – anders als in unseren Nachbarländern – dazu neigt, EU-Verordnungen besonders gründlich umsetzen zu wollen.“
Wenn man Michael Schwarz, Besitzer und Direktor des Parkhotels Bad Bevensen, fragt, wie viel Zeit er für Messungen, Mitarbeiterunterweisungen und Formulare aufwendet, dann spricht er von mehreren Stunden pro Woche. Gerade erst habe er zwei Wochen damit verbracht, die Arbeitsstunden seiner 15 Mitarbeiter zu dokumentieren. Welche Vorschrift ihn am meisten stört? Der Hotelier muss nicht lange nachdenken: „Besonders albern ist das Temperaturprotokoll für jedes einzelne Kühlgerät. Wer weiß denn schon, ob die Temperatur täglich und nicht vielleicht nachträglich notiert wurde?“ Früher hätten die Gesundheitsämter regelmäßig Kontrollen durchgeführt. Heutzutage wird zunächst nach Konzepten und den Protokollen gefragt. Würden diese nicht ordentlich geführt, gebe es eine Strafe, und erst danach werde nach Hygiene geschaut. Michael Schwarz, Mitglied der IHKLW-Vollversammlung und Dehoga-Vorsitzender des Kreisverbands Uelzen, findet deutliche Worte: „Das halte ich für bürokratischen Schwachsinn, bei dem es einzig darum geht, die Verantwortung zu verlagern.“
Bürokratiekosten machen 2,5 Prozent des Umsatzes aus
Die DIHK-Studie beziffert die Bürokratiekosten, die für ein typisches Unternehmen im Gastgewerbe entstehen, auf 2,5 Prozent des Umsatzes, konkret ca. 34.000 Euro pro Jahr. Abgesehen von der persönlich eingesetzten Arbeitszeit entstehen Kosten dabei auch durch das Hinzuziehen externer Experten wie Steuerberater oder Dienstleister – etwa für die Prüfung der Elektroanlagen. Für manche Betriebe tatsächlich ein erhebliches Geschäftsrisiko. Folgerichtig, dass die IHK-Organisation weniger und bessere Gesetze sowie einen Praxis-Check für neue Regelungen fordert, um Mittelstand und kleine Unternehmen nicht unnötig zu belasten. Ein Teilerfolg hierzulande: In Niedersachsen wurde dafür im vergangenen Jahr die Clearingstelle des Landes Niedersachsen eingesetzt. Wie nötig eine solche Instanz ist, zeigt die DIHK-Studie: Demnach sind die befragten Unternehmen der Meinung, dass „40 bis 70 Prozent der Verpflichtungen keine Verbindung mit den Geschäftsprozessen haben und für die Behörden ausgeführt werden“.
Michael Schwarz plädiert dafür, sich öfter auf den gesunden Menschenverstand zu verlassen – statt beispielsweise eine offizielle „Leiter-Einweisung“ für Mitarbeiter zu fordern. Die Flut an Regeln sei unübersichtlich und nicht einheitlich: „Wie kann es zum Beispiel sein, dass die Brandschutz-Regelungen sogar von Kreis zu Kreis unterschiedlich sind?“ Es sei extrem schwierig, immer auf dem allerneuesten Stand zu sein. Manchmal sei fast schon ein juristischer Hintergrund nötig, um alle Vorschriften zu durchdringen. „Ich selbst habe die Lockdown-Monate dafür genutzt, mich schlau zu machen. Sich fortlaufend zu informieren – diese Zeit haben Unternehmer im Alltag schlichtweg oft nicht.“
Das richtige Maß zwischen sinnvollen Pflichten und unternehmerischen Handlungsspielräumen finden ­– das ist es, was sich die meisten wünschen. Ein Abbau der permanenten Dokumentationspflicht gehört definitiv dazu, deshalb setzt sich auch unsere IHKLW über den DIHK dafür ein, die Digitalisierung in der Verwaltung voranzutreiben und die Aufbewahrungsfrist zu verkürzen. Bei Michael Schwarz stapeln sich jedenfalls ganze Berge von Listen im Keller – von Dienstplänen bis Arbeitszeitkonten. Wie seine Kollegen aus der Branche ist er gezwungen, diese zehn Jahre lang aufzubewahren. Nicht anders bei Claudia Klamp. Doch trotz aller Unwägbarkeiten hält auch sie an ihrem Traumjob fest. „Ich bin gern selbstständige Unternehmerin und liebe es, Menschen zu empfangen. Und wir können und wollen das Gästeerlebnis permanent verbessern“, sagt die 47-Jährige. „Hierzu ist es notwendig, Standardprozesse zu digitalisieren, damit das Personal besser eingesetzt werden kann und mehr Zeit für den Gast da ist. Außerdem könnten wir auf diese Weise schnell und flexibel auf die neuen Anforderungen in der Gastronomie reagieren.“  
Alexandra Maschewski

51 Milliarden Euro
beträgt die Bürokratiebelastung der Unternehmen in Deutschland. Denn Unternehmen melden permanent Daten an das Finanzamt, die Agentur für Arbeit, die Berufsgenossenschaft und verschiedene Statistikämter. Der Runde Tisch Bürokratieabbau des DIHK, an dem auch IHKLW-Vollversammlungsmitglied Claudia Klamp beteiligt war, empfiehlt unter anderem eine Automatisierung der Prozesse. So könnten die zu erhebenden Daten an die Definitionen und Kategorien angepasst werden, wie sie aus Buchhaltung und Rechnungswesen bekannt sind. Behörden sollten transparenter und wertschätzender kommunizieren und deutlich machen, mit welchem Ziel die Daten erhoben werden und wann eine Meldepflicht endet. 
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