Mehr Mut!

Weg mit der Siegertreppchenmentalität und stattdessen mit mehr Mut Neues wagen. Dafür plädiert die Wirtschaftswissenschaftlerin Simone Gerwers. Warum, erklärt sie im Interview.
Am Anfang Ihres Buchs Mutausbruch danken Sie Ihren Großeltern. Wofür sind Sie Oma und Opa denn dankbar?
Meine Großeltern gehören zu der Generation, die nach dem Krieg Zukunft gestaltet haben.  Von ihnen habe ich vorgelebt bekommen, mutig in die Eigenverantwortung zu gehen und neue Dinge zu wagen. Dass man sich ausprobieren muss und dabei unbedingt auch mal verfehlen darf. Außerdem habe ich gelernt, dass man zusammen weiter kommt und dass uns Netzwerke stark machen.
Ist es aber nicht doch erstrebenswerter, etwas alleine zu schaffen? Ohne auf andere angewiesen zu sein?
Ich habe da eine andere Blickrichtung. Mutig zu gestalten geht nur über die Eigenverantwortung, schließt allerdings Gemeinschaft keinesfalls aus. Es geht darum, dass wir voneinander lernen und uns gegenseitig unterstützen. Ellenbogenmentalität und Konkurrenz erschaffen Einzelkämpfer. Das ist anstrengend, außerdem kann sich so etwas kein Unternehmen leisten. Gemeinsame Projekte, agile Arbeitsformen, interdisziplinäres Teamwork lassen uns mutiger und erfolgreicher sein. Gerade in Krisenzeiten brauchen wir ein starkes „Wir“ und ein Umdenken der alten festen Sichtweisen auf die Begriffe Leistung und Erfolg.
Ich habe gelernt, dass man zusammen weiter kommt und dass uns Netzwerke stark machen.
Wie sollen wir denn Leistung und Erfolg definieren?
Erfolg war schon immer Treibstoff unseres Handelns. Wer ist nicht gern erfolgreich in dem, was er tut? Es geht mir darum, aus dem „höher – weiter – schneller“ herauszutreten und dabei den Blick auf das Ganze zu verlieren. Umdenken ist gefragt: Wir dürfen nicht weiter einem Machbarkeitswahn verfallen und eine Siegertreppchenmentalität verfolgen.
 „Du kannst alles schaffen“ – das ist doch das Credo etlicher Motivationstrainer.
Diese Tschakka-Mentalität ist aber letztlich nur eine flache Pseudo-Motivation, die ein falsches Bild verspricht. Das erzeugt bei vielen Menschen manchmal das Gegenteil, nämlich Druck statt Gestaltungslust. Wirklich erfolgreich sind doch letztlich die, die mutig Wagnisse eingehen und bereit sind, Zukunft zu gestalten.
Wie also sollen Unternehmen ihre Mitarbeiter motivieren?
Statt starrer Zielvorgaben sollten Unternehmen auf bewegliche Ziele setzen, Kreativräume schaffen, wo Menschen sich mutig ausprobieren können und experimentieren. Wer etwas wagt und sich auf Neues einlässt, wird allerdings früher oder später auch verfehlen. Das ist ganz normal. Wenn wir der Angst vor Fehlern und dem Scheitern den bitteren Beigeschmack nehmen und sie gesellschaftlich aus der Tabuzone holen, stärken wir den Mut, eigenverantwortlich Gestaltungsaufgaben zu übernehmen. Das heißt aber auch, Fehler müssen folglich nicht nur einkalkuliert werden, sondern als Teil des Erfolges betrachtet werden. Was sich so leicht sagt, ist allerdings ein Kulturwandel, der Zeit benötigt.
Das heißt, ein „Tschakka, wir kommen raus aus der Krise!“ ist gar nicht der richtige Impuls zurzeit?
Nein. Krisen sind disruptive Zustände, sie tragen das Neue und damit die Zukunft schon in sich. Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt für Aufbruch, für Veränderung. Und dazu ist echter Mut gefragt.
Aber würde ein kräftiges „Tschakka“ nicht vielen Menschen die Ängste nehmen, gerade jetzt?
Statt „Tschakka“ braucht es echten Mut, nur der trägt uns durch Unsicherheit und auch durch die Angst. Vorbilder spielen da eine große Rolle. Sie geben uns Hoffnung und Zuversicht. „Wenn du das schaffst, dann kann ich das auch.“ Ich nenne es Mutanstiftung. Mut macht in jedem Fall neuen Mut, das heißt, wenn ich, mein Team oder mein Unternehmen mutig Neues wagen, dann stiften wir damit gleichzeitig andere an. Das ist doch großartig.
Wirklich erfolgreich sind die, die mutig Wagnisse eingehen und bereit sind, Zukunft zu gestalten.
Warum sind denn manche Menschen mutiger als andere? Anders: Wie geht Mut?
Zunächst bedeutet Mut: handeln trotz der Angst und durch sie hindurch. Mut ist eine Haltung, die auf innerer Stärke beruht. Dieses „Mindset“ können wir lernen. Wir können es Stück für Stück trainieren, denn Mut dehnt sich wie ein Muskel aus. Ich habe rund 100 Menschen interviewt und zum Thema Mut befragt. Im Ergebnis hatte ich nicht nur Podcastinterviews, sondern jede Menge Stoff für eine Essenz des Mutes. In meinem Buch beschreibe ich sieben Mutquellen, die unseren Mut stärken, wenn wir sie reflektieren:  Fokus, Vertrauen, Verantwortung, Resilienz, Risikokompetenz, Demut und Joyfear.
Beginnen wir mit dem Fokus.
Kein Mut ohne Fokus, denn Energie folgt grundsätzlich unserem Fokus. Worauf richte ich meine Aufmerksamkeit? Sind es die Dinge, die nicht gehen, die fehlen, die Angst oder blicke ich auf das, was sein könnte und entwerfe starke motivierende Zukunftsbilder.
Das Vertrauen.
Wenn ich mir trauen kann, dann bin ich bereit, etwas zu wagen. Ich weiß um meine Eigenstärke und Standfestigkeit. Traue ich mir das zu? Ohne Vertrauen in uns, andere und das Leben können wir keine Unsicherheit tragen. Dann landen wir in der Sicherheitsfalle, statt mutig vorwärts zu gehen.
Die Verantwortung.
Wenn etwas nicht funktioniert, blicken wir schnell auf andere, suchen einen Schuldigen oder kehren auch mal was unter den Teppich. In der Gesellschaft sind es dann schnell „die da oben“, im Unternehmen sind es die Führungskräfte oder andere Abteilungen. Wer Verantwortung abgibt, landet in der Opferrolle. Vielmehr dürfen wir fragen: Was hat das Ganze mit mir, mit uns als Team zu tun? An welcher kleinsten Einheit können wir Veränderung bewirken? Raus aus der Opferhaltung, rein in die Selbstverantwortung. Karl Lagerfeld hat es so beschrieben: „Nein, ich bin kein Opfer, ich bin nur Opfer von mir selbst.“
Kommen wir zur Resilienz.
Resilienz scheint zwar gerade Modewort zu sein, doch sie ist wichtig, um stark durch Krisen, Verfehlen und Scheitern zu kommen. Menschen und Unternehmen, die resilient sind, verfügen über Eigenstärke. Sie haben die Kompetenz der Stehaufmännchen und lernen aus Fehlern. Diese Kraft ist ein Mutbooster.
Nächste Mutquelle ist die Risikokompetenz.
Wir sollten aufhören, unsere Welt sicher machen zu wollen. Stattdessen gilt es, Risiken kompetent zu bewerten und Komplexes „bewusst“ zu reduzieren. Stellen Sie sich Fragen wie: Was sind unsere Kriterien für eine gute Entscheidung? Wieviel Daten- und Zahlenmaterial brauche ich wirklich? Welche Szenarien gibt es? Aber auch Fragen wie: Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Bin ich in der Lage, darauf zu reagieren? Finger weg vom Plan B. Risikokompetenz heißt „erst wägen, dann wagen“, damit Mut nicht zu Übermut wird.
Und die Demut?
In unserer Erfolgswelt haben wir die Demut aus dem Auge verloren. Das Leben ist ein Spiel aus Veränderungen, Entwicklungen und damit aus Höhen und Tiefen. Wir sind letztlich alle endlich und begrenzt wie das Leben selbst. Nehmen wir uns also nicht so wichtig und hören wir auf, uns zu maskieren. Perfektion anzustreben bleibt letztlich nur ein Versuch, die Angst vor dem Verfehlen abzuwehren und uns nicht verletzlich zu zeigen. In Demut dagegen trauen wir uns, etwas zu probieren und können die Freiheit der Gestaltung leben.
Und mit Joyfear, also Freude an der Furcht, kommen wir dorthin?
Joyfear lässt uns letztlich in die Veränderung springen. Man könnte glauben, die beiden Begriffe passen nicht zueinander. Ganz im Gegenteil! Sie sind die Essenz von Mutausbrüchen. Wenn wir über unsere Komfortzone gehen, ist es ganz normal, dass es kurz ruckelt. Veränderung darf auch mal Angst machen. Respekt vor dem Neuen und Unbekannten zu haben ist angebracht. Joyfear lässt uns nochmal kurz abrufen, „ist es okay, was ich da wage?“ Dann übernimmt eine von Neugier getragene Begeisterung und wir wagen den mutigen Sprung.
Interview: Carolin George
IHK Lüneburg-Wolfsburg
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