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WIRTSCHAFTSMAGAZIN · 6/2014
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AUFMACHER
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Jahre währenden Trauma zu befreien.
Für die Brasilianer ist es vielleicht der letzte
symbolische Schritt aus einer Vergangen-
heit, von der sie sich in den letzten Dekaden
immer weiter entfernt haben. Raus aus der
postkolonialen Ära, hinein in eine vermeint-
lich prosperierende Zukunft. Auf diesem
Weg wurde auch vor Heiligtümern nicht
Halt gemacht. Das Maracanã-Stadion wurde
für über 300 Millionen Euro umgebaut.
73 531
Zuschauer fasst die Arena nun noch.
Investitionen flankieren
rasanten Aufschwung
Nicht nur das „Maracanã“ hat sich ver-
ändert, sondern das ganze Land. Zwar hat
Brasilien auch unter der globalen Finanzkri-
se gelitten. Unterm Strich hat sich das Land
in den vergangenen Jahrzehnten jedoch
rasant entwickelt. Das Bruttoinlandsprodukt
pro Kopf stieg laut Bundeszentrale für poli-
tische Bildung (BPB) zwischen 2002 und
2012
um 28 Prozent. Rund 200 Millionen
Menschen leben in dem Amazonas-Land,
und seit 2003 wurden dort 19 Millionen
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze
geschaffen. Die Exporte haben sich seit
2002
vervierfacht, die Importe sogar ver-
fünffacht. Aus einer Veröffentlichung der
BPB geht zudem hervor, dass Brasilien 2012
bei den ausländischen Direktinvestitionen
weltweit auf dem dritten Platz lag, hinter
den USA und China. 60 Milliarden US-Dol-
lar flossen aus der ganzen Welt in das Land.
Für den Aufschwung machen Experten
vor allem den Binnenmarkt verantwortlich.
Als Luiz Inácia da Silva (kurz: Lula) am 1.
Januar 2003 seine erste Amtszeit als Präsi-
dent Brasiliens antrat, prophezeiten Wirt-
schaftsvertreter eine dunkle Zukunft. Lula
ist Mitbegründer der „Arbeiterpartei“ und
dem politisch linken Spektrum zuzurechnen.
Die Befürchtungen stellten sich in den dar-
auffolgenden Jahren weitgehend als unbe-
gründet heraus, unter Lulas Präsidentschaft
verzeichnete die brasilianische Wirtschaft
enorme Wachstumsraten.
Teil der Bevölkerung
im Abseits
Lulas Politik setzte Schwerpunkte in der
Reduzierung der Armut, dem sozialen Fort-
schritt und dem Wachstum der Wirtschaft.
Erfolge führten allerdings auch zu neuen
Problemen. Obgleich immer mehr Menschen
in Brasilien Arbeit fanden, bedrohen massi-
ve Einkommensunterschiede den sozialen
Frieden des Landes. Die Unzufriedenheit
jener, die vom Aufschwung wenig oder gar
nicht profitieren, entlädt sich seit einiger
Zeit in Unruhen. Die anstehenden Großer-
eignisse – zwei Jahre nach der Fußball-WM
findet in Rio de Janeiro die Sommer-Olym-
piade statt – teilt die Bevölkerung. Denn so
mancher Brasilianer ist der Meinung, dass
das Geld, das in diese Mega-Events inve-
stiert wird, an anderer Stelle besser aufgeho-
ben wäre.
Die Mittelschicht ist in den Jahren des
Aufschwungs stark gewachsen, kauft aber
auf Pump. Laut Bundeszentrale für politi-
sche Bildung haben sich in diesem Jahrtau-
send die Konsumkredite in Brasilien ver-
achtfacht. Dieses Geld kommt der Binnen-
wirtschaft zugute, treibt die positive Ent-
wicklung auf dem Arbeitsmarkt an, was
auch zu einer wachsenden sozialen Mobili-
tät führt.
Der Außenhandel ist enorm gewachsen,
Brasilien ist mittlerweile der drittgrößte
Nahrungsmittel-Exporteur auf der Welt.
Kein anderes Land stellt mehr Zucker,
Früchte, Tabak, Kaffee, Rind- und Hühner-
fleisch her. Auch bei Soja, Mais und Zellulo-
se gehört Brasilien zu den drei Top-Produ-
zenten. Deutschland ist für den größten
südamerikanischen Staat ein wichtiger,
wenngleich nicht der wichtigste Partner.
Germany Trade and Invest (GTAI), die
Gesellschaft der Bundesrepublik Deutsch-
land für Außenwirtschaft und Standortmar-
keting, veröffentlichte eine Statistik, die
zeigt, dass Deutschland 2012 bei den
Hauptabnehmerländern Brasiliens auf dem
sechsten Platz lag; lediglich drei Prozent der
brasilianischen Ausfuhren wurden hierher
geliefert, vor allem Rohstoffe und Nah-
rungsmittel.
Anders sieht es laut GTAI bei den Liefe-
ranten aus: 6,4 Prozent der brasilianischen
Importe kommen aus Deutschland. Lediglich
China, die USA und Argentinien haben grö-
ßere Anteile. Es sind vor allem Maschinen
und chemische Erzeugnisse, die deutsche
Unternehmen in den Amazonas-Staat
exportieren. Die Autobranche liegt schon
deutlich schwächer auf dem dritten Rang.
Wenig Konter gegen
Bürokratie
Für die nähere Zukunft sieht GTAI für
deutsche Unternehmen Chancen vor allem
in den Bereichen Informations- und Kom-
munikationstechnik (IKT) sowie Medizin-
technik. Die IKT-Branche wächst auch in
Brasilien durch die Trends zur Digitalisie-
rung und Mobilität. Bei der Medizintechnik
sieht Germany Trade and Invest einen gro-
ßen Nachholbedarf, durch die gewachsene
Kaufkraft der Bevölkerung dürften die
Importe hier stark ansteigen. Die Chancen
am für deutsche Unternehmen so wichtigen
Markt der Umwelttechnik werden von GTAI
eher durchwachsen eingeschätzt. Zwar gebe
es viele Förderprogramme, die der Branche
zugute kommen sollen. Leider sei das Umfeld
jedoch schwierig und stark bürokratisiert.
Und so führte GTAI in einer Analyse zum
Jahreswechsel 2013/2014 die Bürokratie in
Brasilien als eine gravierende Schwäche und
erheblichen Nachteil für die wirtschaftliche
Entwicklung des Landes auf. Auch das kom-
plexe Steuersystem und nicht zuletzt die
marode Infrastruktur würden die Zukunfts-
aussichten belasten, so die Gesellschaft.
Zum gleichen Schluss kommt auch „The
Economist“ in einer Veröffentlichung vom
28.
September 2013. Das Magazin stellte die
Frage „Has Brazil Blown it?“ („Hat Brasilien
es vergeigt?“) und legte dar, dass die Infra-
struktur in dem Land nur 16 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes wert sei,