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WIRTSCHAFTSMAGAZIN · 6/2014
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AUFMACHER
N
ur wenige Worte aus der Welt des
Fußballs haben eine ähnliche Wir-
kung wie „Maracanã“, der Name
eines Stadions in Rio de Janeiro. Das Estádio
Municipal do Maracanã ist ein Mythos für
jeden Fußball-Fan und steht zugleich für ein
nationales Trauma in dem fußballverrück-
ten Land am Amazonas. Ob in den Favelas
der Metropolen oder im tiefsten Hinterland
auch heute noch kennt jeder kleine Junge
die Geschichten um das verlorene Spiel der
Seleção, der brasilianischen Nationalmann-
schaft. Es gibt sogar ein eigenes Wort für
dieses Ereignis: „Maracanaço“, was soviel
heißt wie „Schock von Maracanã“.
Ein Land löst sich von
der Vergangenheit
Mit der Fußball-Weltmeisterschaft steht in Brasilien der
vorläufige Höhepunkt eines jahrelangen wirtschaftlichen
Aufschwungs ins Haus.
Es war der 16. Juli 1950. Zum vierten
Mal richtete die Fifa (Fédération Internatio-
nale de Football Association) die Fußball-
Weltmeisterschaft der Männer aus, zum
ersten Mal in Brasilien. In dem südamerika-
nischen Land erwartete jeder den Titelge-
winn der Heimmannschaft. Dafür wurde in
Rio de Janeiros Stadtteil Maracanã ein Sta-
dion gebaut, das rund 200 000 Menschen
Platz bot. Es war das größte Stadion der
Welt.
Am besagten Tag im Juli stand die ent-
scheidende Partie für die Selecao an. Die
Mannschaft aus Uruguay war der letzte
Gegner in dem Turnier, in dem es kein rich-
tiges Finale gab. Vielmehr war es schlicht
das letzte Spiel und beide Mannschaften
konnten Weltmeister werden. Brasilien
benötigte dazu nur ein Remis, Uruguay
musste gewinnen. Das Spiel endete 1:2. Elf
Uruguayer holten vor über 200 000 Brasilia-
nern den Titel. Es war die Geburt eines Trau-
mas.
Totenstille nach dem
zweiten Tor
Was sich damals auf den Tribünen und in
ganz Brasilien abspielte, ist Stoff für viele
Geschichten. „Uruguay hat getroffen“, wie-
derholte ein völlig entgeisterter brasiliani-
scher Radioreporter siebenmal hintereinan-
der, als das 2:1 fiel. Der Siegtorschütze, Uru-
guays Alcides Ghiggia, erinnerte sich in
einem Interview an die Momente nach sei-
nem Schuss: „Es war totenstill.“ Außer ihm
selbst sei es nur noch dem Papst und Frank
Sinatra gelungen, dass Maracanã zum
Schweigen zu bringen, sagte er. Noch Stun-
den nach dem Abpfiff saßen tausende Men-
schen unter Schock auf den Rängen. Bei den
Aufräumarbeiten wurden vier Leichen ent-
deckt; drei Besucher waren an einem Herz-
infarkt gestorben, ein vierter hatte sich von
einer Tribüne gestürzt.
Als Uruguays Torschütze Ghiggia fünfzig
Jahre später nach Brasilien einreiste, fragte
ihn eine junge Zöllnerin, ob er der Ghiggia
sei. Der Uruguayer versuchte die
Dame zu beschwichtigen, das
Spiel liege doch schon ein hal-
bes Jahrhundert zurück.
Wir spüren diesen
Moment noch heute“,
antwortete die Zoll-
beamtin.
Wenn am 12. Juni
zum zweiten Mal
eine Fußball-WM in
Brasilien angepfiffen
wird, spielt die
Seleção auch, um das
Land aus dem nun
Grafik: Lyonn Redd