WIRTSCHAFTSMAGAZIN · 1/2014
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AUFMACHER
Über Produktionstechnik
hinaus
Solche „smart factories“, wie es nun in
Grünberg eine gibt, fertigen „smart
products“. Und die können noch viel mehr,
als sich nur mit den Fertigungsmaschinen
auszutauschen. Die Idee, ein Produkt schon
während der Fertigung intelligent zu
gestalten und ihm darüber hinaus die
Möglichkeit zur Vernetzung zu geben, setzt
sich auch dann fort, wenn dieses Produkt
dieWerkhallen verlassen hat. Die Vernetzung
zum „Internet der Dinge“ ist der globale
Zusammenhang und Industrie 4.0 ist nur ein
Aspekt davon.
Beispiele hierfür geben Dr. Michael
Arndt, der bei Bosch Thermotechnik in
Lollar verantwortlich ist für die Entwicklung
vernetzter Systeme, und Thomas Pelizaeus,
Leiter der Unternehmenskommunikation.
2011
hätten sie begonnen, Heizungsanlagen
mit dem Internet zu verbinden. Mittels
Schnittstellen werden – sofern vom Kunden
gewünscht – Daten der Anlage gesammelt.
Installateure können diese Daten auswerten
und auf Störungen flexibel reagieren. „Ziel
ist es, dass der Installateur an der Tür
klingelt und sagt: Ihre Heizung hat ein
kleines Problem, das ich gern lösen würde“,
sagt Pelizaeus.
Noch weiter sei Skandinavien, sagt
Arndt. Dort ändere sich der Strompreis
stündlich. In den Wohnhäusern würden
Wärmepumpen eingesetzt, die den Preis
über das Internet abfragen. Die Pumpen
regulieren sich so selbst, dass zum einen der
gewünschte Komfort gehalten, zum anderen
aber auch auf einen günstigen Verbrauch
geachtet wird. „In Deutschland haben wir
dafür noch nicht die passenden
Rahmenbedingungen“, so Arndt.
Die Möglichkeiten der Entwicklung zum
Internet der Dinge und zur Industrie 4.0
bleiben also lange nicht bei der
Produktionstechnik stehen. THM-Professor
Heinz Kraus sieht auch Konsequenzen für die
Organisation der Arbeit, Geschäftsmodelle,
für die gesamte Wertschöpfung und alle
nachgelagerten Dienstleistungen. „Es ist ein
gesamtgesellschaftliches Phänomen“, sagt er.
Bei aller Euphorie über die Möglichkeiten,
zukünftig Maschinen und Produkte
miteinander zu vernetzen und so Fertigung
und Gebrauch zu steuern, bleibt das Thema
„
Industrie 4.0“ jedoch vielerorts noch
akademisch. Fragt man bei hiesigen
Unternehmen nach, hört man häufig: Klingt
toll, wollen wir auch mal machen. Möglichst
bald.
Vielleicht fehlt es bislang schlicht an
verlässlichen Berechnungen, welchen
betriebswirtschaftlichen Nutzen das Ganze
bringt. Es gibt auch Vorbehalte bezüglich
der Datensicherheit. Die jüngsten
Veröffentlichungen über Cyber-Spionage
werden dem Vertrauen der Verantwortlichen
in die Sicherheit von Daten, die in
Netzwerken gespeichert oder sogar im
Internet übertragen werden, nicht gerade
zuträglich sein. Dennoch scheint die
Entwicklung nicht mehr aufzuhalten.
Große Serien sind
Vergangenheit
Treibende Kraft könnte dabei auch die
Gewohnheit der Endverbraucher sein.
Sozialisiert mit digitalen Medien,
ausgestattet mit dem Wunsch, sich durch
Individualität von anderen zu unterscheiden,
und stets auf der Suche nach immer wieder
neuen Produkten, fordert der Käufer vom
Hersteller ein Maximum an Flexibilität. Die
großen Serien der Vergangenheit könnten
dabei irgendwann auf der Strecke bleiben.
Früher haben sich Produktionsplaner und
Arbeitsvorbereiter den Kopf darüber
zerbrochen, wie ein Prozess so stark
rationalisiert und standardisiert werden
kann, dass die anfallenden Stückkosten
möglichst gering ausfallen. Heute muss eine
Produktion in der Lage sein, jederzeit und
schnellstmöglich auf eine sich ändernde
Nachfrage zu reagieren. Wer heute ein Auto
bestellt, könne am Fließband noch die Farbe
wechseln lassen, erklärt THM-Professor
Kraus. „Früher hätte man sich acht Wochen
vorher festlegen müssen.“
Die IHK Gießen-Friedberg hat sich des
Themas Industrie 4.0 angenommen und
möchte bei den Mitgliedern Interesse
wecken. „Wir versuchen, Impulse zu setzen“,
sagt Freya Vogel-Weyh. Sie ist bei der IHK
unter anderem verantwortlich für die
Bereiche Unternehmensförderung und
Innovation. Im vergangenen November
veranstaltete der IHK-Verbund Mittelhessen
in Kooperation mit der THM und dem
Technologie Transfer Netzwerk Hessen
(
TTN-Hessen) einen Vortragsabend mit dem
Titel „Industrie 4.0 – Für die Zukunft
gerüstet sein!“ Rund 100 Vertreter heimischer
Unternehmen hatten an der Veranstaltung
im Gießener Rathaus teilgenommen. Das
zeige, dass ein grundsätzliches Interesse am
Thema existiere, so Vogel-Weyh.
Insgesamt sei das Feedback zum Thema
bislang jedoch „eher verhalten“. Was
vielleicht auch damit zusammenhängen
mag, dass der Terminus „Industrie 4.0“ von
der Politik geprägt wurde, um die
Entwicklungen unter einem einzigen Begriff
zu subsumieren. „Viele Unternehmen
können mit dem Begriff nichts anfangen“,
sagt Heinz Kraus. Dem stimmt Andrea Bette
vom TTN-Hessen zu. Die Unternehmen
kennen häufig das Label nicht, seien aber
dennoch dabei, sich in diese Richtung zu
entwickeln. „Die sind oft schon weiter, als
sie denken“, sagt Bette.
Es gebe auch gewisse Vorbehalte. So sei
nicht nur die Datensicherheit mit der Angst
vor Cyber-Attacken ein Grund zur Vorsicht
für manche Unternehmer, sondern auch die
Sorge um die Arbeitsplätze der eigenen
Mitarbeiter, sagt die TTN-Hessen-
Mitarbeiterin. Auch glaubten manche, dass
die Technik noch nicht ausgereift ist und
gerade kleinere Unternehmen schreckten
wegen der Investitionskosten vor Änderungen
zurück, so Bette. „Die warten erst mal ab.“
IHK und TTN wollen am Ball bleiben und
weiter Aufklärungsarbeit leisten. Noch in