Geschichte zum Nachlesen

Festschrift zum 150-jährigen Bestehen der IHK Darmstadt

Über die Festschrift

Wie es zur Gründung der Handelskammer Darmstadt kam, mit welchen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen die Kammer im Laufe der Geschichte umgehen musste, und was aus ihr bis heute geworden ist – das alles ist in einer Festschrift zum Jubiläum nachzulesen. Die fast 300 Seiten umfassende Arbeit mit dem Titel „Von den Anfängen der Industrialisierung zur Engineering Region“ wurde am Montag, 11. Juni 2012, offiziell vorgestellt. Herausgeber ist der Leiter des Hessischen Wirtschaftsarchivs, Dr. Ulrich Eisenbach; er hat die Quellen erschlossen und für die Autoren aufbereitet.
In sieben wissenschaftlichen, lebendig erzählten und reich bebilderten Aufsätzen wird die regionale Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert beleuchtet. Zu den Autoren gehören neben Herausgeber Dr. Ulrich Eisenbach unter anderen die Historiker Professor Dr. Christof Dipper und Professor Dr. Dieter Schott von der Technischen Universität (TU) Darmstadt sowie Dr. Volker Merx, Hauptgeschäftsführer der IHK Darmstadt in den Jahren 1986 bis 2004.
Die Festschrift kostet 29,90 Euro und ist im örtlichen Buchhandel oder über die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt erhältlich.

Bibliografische Angaben zur Festschrift

Von den Anfängen der Industrialisierung zur Engineering Region : 150 Jahre IHK Darmstadt Rhein Main Neckar / Ulrich Eisenbach (Herausgeber). Darmstadt : WBG, 2012. - 288 Seiten : illustriert, 29,90 Euro
ISBN 978-3-534-25504-7
In unserer Zeitschrift "IHK-Report" wurden Zusammenfassungen der in der Festschrift enthaltenen Aufsätze veröffentlicht. Diese können Sie hier teilweise nachlesen.

Aus dem Inhaltsverzeichnis

  • Zwischen wirtschaftlicher Interessenvertretung und öffentlich-rechtlichem Auftrag – Zur Geschichte der IHK Darmstadt
    Autor: Ulrich Eisenbach
  • Die Frühindustrialisierung in Darmstadt und der Provinz Starkenburg (1806 – 1871)
    Autor: Rainer Maaß
  • Die Provinz Starkenburg im Zeitalter der Hochindustrialisierung (1871 – 1914)
    Autor: Dieter Schott
  • Die südhessische Wirtschaft im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (1914 – 1933)
    Autor: Peter Engels
  • Die südhessische Wirtschaft in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg (1933 – 1945)
    Autor: Christof Dipper
  • Vom Wiederaufbau zum  Wirtschaftswachstum (1945 – 1973)
    Autor: Gerd Hardach
  • Südhessen auf dem Weg zur Engineering Region Rhein Main Neckar
    Autor: Volker Merx
  • Ausblick

Erst aufs Feld, dann in die Zigarrenfabrik: Die Jahre 1871 - 1914

Noch bis weit ins 19. Jahrhundert bietet Südhessen das Bild eines Agrarlandes. Die Grundlagen für seinen industriellen Aufschwung werden jedoch bereits von der Gründung des Großherzogtums Hessen in den Jahren 1805/1815 an bis zur Gründung des Deutschen Reiches 1871 geschaffen. Dazu zählen die Liberalisierung der Wirtschaft, die Aufhebung des Zunftwesens, Gewerbefreiheit und die   Beseitigung von Zollgrenzen. Der Siegeszug der industriellen Entwicklung ist nicht aufzuhalten, auch vom deutsch-französischen Krieg 1870/71 nicht. Schon kurz nach Ende der Kriegshandlungen 1871 meldet die Handelskammer Darmstadt euphorisch „fortwährenden Aufschwung in Handel und Industrie, sowie eine Vermehrung der Etablissements aller Art“, zitiert Dr. Dieter Schott, Professor für Neuere Geschichte an der TU Darmstadt, aus dem Jahresbericht der Kammer. Als Motor der Region erweist sich die Stadt Darmstadt: Um 1890 zählt man dort 107 Fabrikbetriebe mit zusammen 4.680 Arbeitskräften. Schwerpunkt mit knapp 20 Betrieben ist der Maschinenbau. Das Chemisch-Pharmazeutische Werk von E. Merck entwickelt sich zum Großunternehmen. 

Adam Opel schreibt Erfolgsgeschichte

Kristallisationspunkt wird außerdem der nördliche Kreis Groß-Gerau. Die 1862 gegründete Nähmaschinenfabrik von Adam Opel in Rüsselsheim boomt. Seit den 1880er-Jahren produziert Opel zusätzlich Fahrräder, seit 1899 Automobile. In Gustavsburg erwächst 1873 aus dem Bau einer Eisenbahnbrücke über den Rhein ein Zweigwerk der Süddeutschen Brückenbau AG, das 1884 von der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) übernommen wird. In Groß-Gerau entstehen eine Zucker- und eine Konservenfabrik, es gibt Zigarrenfabriken im südlichen Ried, Zündholzindustrie in Pfungstadt und Kammfabriken in Ober-Rammstadt. Bahnstrecken schaffen die nötige Infrastruktur, zudem fungieren sie als wichtige Betriebe und Arbeitgeber: zum einen die Main-Neckar-Bahn als Nord-Süd-Achse, zum anderen die Hessische Ludwigs-Bahn als Ost-West-Verbindung (Mainz-Darmstadt-Aschaffenburg). Der Wachstumsprozess wird auch von der „Gründerkrise“ nicht aufgehalten. Ab Mitte der 1890er-Jahre konstatiert die Handelskammer wieder „flotten Absatz“ und gute Beschäftigungslage. Auffallend ist jedoch ein genereller Mangel an Arbeitskräften; zwischen Industrie, Steinbrüchen und Landwirtschaft herrscht stete Konkurrenz um Beschäftigte. Die Zigarrenfabriken reagieren und entwickeln bemerkenswert moderne Lösungen. Flexible Arbeitszeitmodelle ermöglichen es Frauen, morgens später in die Fabrik zu kommen oder abends früher zu gehen – um „nebenher“ die Felder bewirtschaften zu können. Der Kriegsbeginn 1914 bedeutet eine Zäsur; die Kriegswirtschaft beendet den Liberalismus und lässt den Unternehmen kaum noch Spielraum.
Den vollständigen Aufsatz über diese Zeit lesen Sie in der Festschrift auf den Seiten 71 bis 102, verfasst von Professor Dr. Dieter Schott, Historiker an der TU Darmstadt.

Die südhessische Wirtschaft im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik

Von weiterem Wachstum und einer „noch besseren Entwicklung für die Zukunft“ schwärmte Darmstadts Oberbürgermeister Wilhelm Glässing im Juli 1914. Die aufstrebende Flugzeug- und Motorenindustrie, der 1912 eingeweihte Hauptbahnhof, die Betriebsstätten der Preußisch-Hessischen Eisenbahnen, nicht zuletzt auch die elektrotechnische Industrie ließen den Rathauschef ein rosiges Bild der Region Südhessen malen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs kaum vier Wochen später holte die Realität diesen Wunschtraum ein. Dies beschreibt der Leiter des Stadtarchivs Darmstadt, Dr. Peter Engels, in der Festschrift zum 150-jährigen Jubiläum der IHK Darmstadt. Die Unternehmen waren auf den Krieg nicht vorbereitet, traditionelle Absatzmärkte gingen abrupt verloren. Vor allem Darmstädter Betriebe hatten von Handelsbeziehungen ins Ausland profitiert – jetzt verloren etwa die Chemieunternehmen Merck sowie Röhm & Haas ihre Firmen in den USA.
Die Töchter wurden zu unabhängigen amerikanischen Gesellschaften. Die Eisengießerei und Maschinenfabriken der Firma Schenck beklagten den Verlust der Beziehungen zu Frankreich und Russland, notiert Engels in seinem Aufsatz. Dafür stieg das Inlandsgeschäft mit Waagen, Transportanlagen und Wuchtmaschinen für Rüstungsbetriebe; zudem stellte Schenck ab 1915 Granathülsen her. Frauen und französische Kriegsgefangene ersetzten die zum Militär eingezogenen Arbeiter. Merck lieferte Arzneimittel für Armeepferde sowie Fotochemikalien für die Luftwaffe, die Herdfabrik Roeder versorgte das Heer mit Feld- und Lazarettküchen. In Rüsselsheim baute Opel Flugzeugmotoren. Mit Hilfe der Rüstungsproduktion konnten Umsatzeinbußen vielerorts aufgefangen werden.

Dem Ruin nahe 

Nach dem Krieg hielt Glässing im Juli 1919 eine Rede vor den Stadtverordneten, und der Gegensatz zu seiner Euphorie vor fünf Jahren konnte größer kaum sein. Die Kommune war dem Ruin nahe. Mit der Besetzung des Ruhrgebiets im Januar 1923 durch französische Truppen begann die Hyperinflation: Der Stundenlohn eines Arbeiters bei Merck erreichte gigantisch anmutende 500 Milliarden Mark. Erst in den Jahren 1926 bis 1928 sprang die Konjunktur vorübergehend wieder an. Durch einen langen Bergarbeiterstreik in England erholte sich die deutsche Kohlen- und Eisenindustrie, mit positiven Folgen für andere Wirtschaftsbereiche.
Die Weltwirtschaftskrise 1928 bis 1932 indes forderte ihren Tribut. Weil US-amerikanische Anleger Guthaben aus Deutschland und Europa abzogen, kam es zu einer Bankenkrise. Die Darmstädter und Nationalbank (Danatbank) musste im Juli 1931 als erste große deutsche Bank ihre Schalter schließen. 1932 bezogen fast 30 Prozent der Berufstätigen in Darmstadt Arbeitslosengeld. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte dazu, dass sich viele Menschen von den demokratischen Parteien abwandten. Anfang 1933, als sich die Weltwirtschaft bereits wieder zu erholen begann, übernahmen die Nationalsozialisten die Macht – und verbuchten den Aufschwung als eigenen Erfolg.
Den vollständigen Aufsatz über diese Zeit lesen Sie in der Festschrift auf den Seiten 103 bis 136, verfasst von Dr. Peter Engels, Leiter des Stadtarchivs Darmstadt.

Meilensteine auf dem Weg an die Spitze

Mit dem Ende des Nationalsozialismus brach die Planwirtschaft der Kriegszeit zusammen. Aber auch bei den Alliierten wurde die Wirtschaft straff reglementiert, denn Güter waren knapp. Die Menschen hungerten und waren von Zuteilungen abhängig. Nachdem 1948 die harte Währungsreform verordnet worden war, ergriff der „Direktor der Verwaltung für Wirtschaft“ in der amerikanisch-britischen Zone, Honorarprofessor Ludwig Erhard, die Initiative. Ohne die Besatzungsmächte zu fragen, verkündete er im Radio, dass von nun an der Wettbewerb Vorrang vor staatlicher Regulierung habe. Der amerikanische General Lucius D. Clay schäumte ob dieser Eigenmächtigkeit und zitierte Erhard in sein Hauptquartier, das Frankfurter IG-Farben-Haus. Die Unterredung ist legendär. „Ich habe die Vorschriften nicht geändert“, soll Erhard gesagt haben, „ich habe sie abgeschafft.“ Clay erwiderte, dass alle seine Berater Erhards Vorgehen für unsinnig hielten. „Meine Berater sind auch dagegen“, so Erhard unerschüttert.
Drei historischen Meilensteinen ist es zu verdanken, dass sich die Region Südhessen in der Folge zu einem führenden Wissenschaftsstandort entwickeln konnte. Professor Dr. Gerd Hardach erinnert in der IHK-Festschrift an die Rolle des 1949 geschaffenen Posttechnischen und Fernmeldetechnischen Zentralamts. 1963 wurde das Europäische Datenzentrum für Raumfahrt gegründet, das spätere European Space Operations Centre (ESOC), und 1969 eine von Bund und Land geförderte Großforschungseinrichtung, die Gesellschaft für Schwerionenforschung. Dort wurden mehrere neue Elemente entdeckt, eines davon erhielt die Bezeichnung „Darmstadtium“. Mit Technischer Universität, Fachhochschulen, Technologie-Instituten und IT-Wirtschaft ist die Engineering Region heute exzellent aufgestellt.

Tradition und dynamische Modernität

Diese Entwicklung hat sich als Motor für die südhessische Wirtschaft insgesamt erwiesen: Konnte deren Leistungsfähigkeit noch vor 40 Jahren als allenfalls durchschnittlich bezeichnet werden, so kam es zu einem Strukturwandel „hin zu wissensorientierten, vorbereitenden, entwickelnden, koordinierenden, beratenden Tätigkeiten“, wie Autor Dr. Volker Merx in der Festschrift analysiert. Dies hatte auch eine Verschiebung zwischen den Wirtschaftsbereichen zur Folge. Von Industrie, Handwerk und Baugewerbe ging es hin zu Dienstleistungen, innerhalb der Industrie weg von arbeitsintensiven Niedriglohnbranchen zu hochproduktiven Betrieben und zu Dienstleistungen von Unternehmen für Unternehmen.
Als Quelle für den Aufstieg nennt Merx Tradition und dynamische Modernität. Hervorragende Vertreter dieser Maxime sind die „hidden champions“ Merck mit Flüssigkristallen, die Software AG mit Infrastructure-Software für Unternehmen, Schenck Process für Probleme beim Wägen und Dosieren sowie R-Biopharm für Lebensmittel- und Futtermittelanalytik. „Es wird darauf ankommen, diese Verbindungen zu stärken, um alle Reserven in dem unbarmherzigen Wettbewerb um Arbeitsplätze zu stärken“, folgert der Autor.
Das Kapitel „Südhessen auf dem Weg zur Engineering Region Darmstadt Rhein Main Neckar“ ist auf den Seiten 201 bis 234 erschienen. Autor ist Dr. Volker Merx. Er war von 1986 bis 2004 Hauptgeschäftsführer der IHK Darmstadt.