Werte & Marke

„Wer sind wir und wo wollen wir hin?”

Vom Erfolg der Darmstädter »Lilien« profitieren Stadt und Region. Der zweite Aufstieg in die Erste Fußball-Bundesliga innerhalb von acht Jahren folgt einem Plan, zu dem auch eine wichtige Positionsbestimmung des Vereins zählt: 2021 hat der SV Darmstadt 98 ein Leitbild verabschiedet, das auch dazu animiert, mutig in die Zukunft zu blicken. Der Claim »Aus Tradition anders« läuft aus. In den Vordergrund rücken andere Werte.
Text: Patrick Körber, Oktober 2023
Als Darmstadt-98-Präsident Rüdiger Fritsch auf der Sponsoren­veranstaltung der »Lilien« Anfang August die vorzeitige Vertragsverlängerung mit Trainer Torsten Lieberknecht verkündete, war das noch mehr als das starke Bekenntnis zu dem Erfolgscoach, der die »Lilien« zurück in die Erste Bundesliga führte. Es war ein weiterer Beleg für die langfristige und nachhaltige Planung, die der Verein verfolgt. Für die Erfolgsgeschichte, die mit dem Durchmarsch von der Dritten in die Erste Liga mit der Saison 2013/14 begann, gibt es verschiedene Erfolgsfaktoren. Als wesentlichen Faktor nennt »Lilien«-Geschäftsführer Michael Weilguny die Konstanz bei den handelnden Personen: »Unser Präsidium ist in der heutigen Konstellation seit über zehn Jahren zusammen.«
Porträt von Michael Weilguny
Michael Weilguny ist seit 2012 kaufmännischer Geschäftsführer der »Lilien«. © SV Darmstadt 98
Auch Weilguny selbst gehört zu den starken Konstanten und ist bereits seit 2010 Geschäftsführer. Seit drei Jahren unterstützt ihn der ehemalige Fußballprofi Martin Kowalewski als Geschäftsführer mit dem Schwerpunkt Marketing und Vertrieb.
In seine Zeit fällt der Leitbild-Prozess, den sich der Verein verordnet hat. Ein weiterer wichtiger Pfeiler in der Strategie und Weiter­entwicklung des Vereins. »Wir haben viele ­Mitarbeiter*innen, die schon sehr lange bei uns sind. Es sind aber in den letzten Monaten und Jahren auch viele neue Mitarbeiter*innen zu uns gestoßen. Jeder hatte etwas anderes im Kopf, was Darmstadt 98 ist«, beschreibt Kowalewski die Ausgangslage. »So ergab sich das Bedürfnis einer Positionsbestimmung: Wer sind wir und wo wollen wir hin? Wo stehen wir in der Wachstumsphase zwischen ‚Altes bewahren‘ und gleichzeitig den Blick nach vorne zu richten? Für uns war das ein interessanter Prozess, festzuschreiben, wohin die Reise geht.«

Der Markenkern ist »Wir Lilien«

Der Doppel-Claim »Wir Lilien. Aus Tradition anders« enthielt zudem zwei Botschaften und war damit nicht eindeutig. Deswegen hat man sich bewusst dagegen entschieden, ihn konsequent fortzuführen und in das Leitbild zu übernehmen. »Inhaltlich haben wir das Gefühl, dass ›Wir Lilien‹ den Markenkern des Vereins besser erfasst. Darin stecken Gedanken wie Toleranz oder die Kraft der Gemeinschaft«, sagt Kowalewski.
 »Wichtig war uns, dass die Mitarbeiter*innen eingebunden sind«, blickt Michael Weilguny auf den Leitbild-Prozess zurück. »Ehrenamtler, Fans, Mitglieder, Präsidium, Mitarbeiter*innen, Trainer und Trainer­­team saßen gleichberechtigt an einem Tisch.« Sie zusammen, also alle relevanten Gruppen des Vereins, haben das gemeinsame Vereinsleitbild entwickelt. Es fußt auf den Vereinswerten »verlässlich und aufgeschlossen« (Haltung), »eigenständig und ambitioniert« (Leistung) sowie »mitreißend und mutig« (Stil). Was sowohl in der Vision als auch in der Mission des Vereins deutlich heraussticht: »Wir wollen uns mit wirtschaftlicher Stabilität langfristig in der Spitzengruppe der Zweiten Bundesliga etablieren und die Top 20 im deutschen Profifußball herausfordern.«
Uns ist wichtig, dass potenzielle Mitarbeiter*innen wissen, wofür der Verein steht. Sie müssen mit unserer Kultur zusammenpassen, sonst fällt uns das später wieder auf die Füße.

Michael Weilguny

Genau hier stehen die »Lilien« heute. In seiner Mission unterstreicht der Verein außerdem »die gesellschaftliche Verankerung innerhalb unseres Vereinslebens«, was zum Beispiel die Breitensportsparte einschließt. Und ebenso ist festgeschrieben, dass man für gesellschaftliche Offenheit und Toleranz kämpft und sich »an den Interessen unserer Mitglieder und Fans« ­orientiert. Auch hier ist zu erkennen, dass der Leitsatz »Wir Lilien« Verein und Umfeld umfasst. Der Claim und das Leitbild greifen damit eine Haltung auf, die dem Verein immer schon wichtig war und die sich auch im Tun der »Lilien« erkennen lässt. So beispielsweise die Sozialkampagne »Im Zeichen der Lilie«, die bereits seit 2012 läuft: Mittlerweile kommen jährlich sechsstellige Spendenbeträge zusammen, mit denen Projekte in der Region unterstützt werden.

Fokus auf Nachhaltigkeit

Zur selbst erklärten Vorbildfunktion gehört für den Verein auch das Thema Nachhaltigkeit, das Martin Kowalewski besonders wichtig ist. »Wir verstehen Nachhaltigkeit als sinnvolle Vernetzung von Sozialem, Ökologischem und Ökonomischem in all unseren abteilungs- und vereinsübergreifenden Aktivitäten«, heißt es im Leitbild. Die Vereine der Bundesliga haben sich darauf verständigt, den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (SDGs – Sustainable Development Goals) zu folgen. Die »Lilien« fokussieren sich im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie, die im Leitbild verankert ist, auf Verbesserungen in den Bereichen Mobilität, Energie, Soziales, Bildung und Fair Trade.
»Es war ein völlig offener Prozess«, resümiert der kaufmännische Geschäftsführer Weilguny die Entwicklung des Leitbilds. Damit das neue Leitbild nicht abstrakt bleibt, hat jede Abteilung des Vereins die wichtigsten Passagen daraus für sich übersetzt. »Was heißt ›ambitioniert‹? Das meint zum Beispiel, dass sich jede Abteilung auch ein ganz konkretes Ziel setzt«, sagt Kowalewski.
Was heißt ,ambitioniert‘? Das meint zum Beispiel, dass sich jede Abteilung auch ein ganz konkretes Ziel setzt.

Martin Kowalewski

Damit das Leitbild stets präsent bleibt, ist es unter anderem Teil der regelmäßigen Onboarding-­Veranstaltungen für neue Mitarbeiter*innen der 98er. Ohnehin sehen beide Geschäftsführer das Leitbild als wichtigen Teil des Employer Branding. »Auch wir stehen vor der Herausforderung, dass es schwieriger wird, Fachkräfte zu gewinnen«, sagt Michael Weilguny. Die Zahl der Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen sei zurückgegangen. »Hier hilft das Leitbild, unsere Werte zu erklären«, sagt er. »Uns ist wichtig, dass potenzielle Mitarbeiter*innen wissen, wofür der Verein steht. Sie müssen mit unserer Kultur zusammenpassen, sonst fällt uns das später wieder auf die Füße. Jeder, der unterschreibt, kennt auch unser Leitbild.« Und was die Zahl der Mitarbeiter*innen angeht, sind die »Lilien« mit rund 110 festen Mitarbeiter*innen wie ein mittelständisches Unternehmen aufgestellt, auch wenn sie nach wie vor – als eine der wenigen Ausnahmen der Liga – noch rein als Verein organisiert sind. Jahr für Jahr wächst der Verein um zwei bis drei Angestellte.
Um beim Personal zu bleiben, fügt sich das eine zum anderen: »Unser Trainer Torsten Lieberknecht passt als Typ perfekt zu unserem Leitbild«, sagt Weilguny. »Er ist die Idealkonstellation. Jeder träumt von einem Trainer, der sich so seinem Verein verschreibt«, meint Kowalewski.
All die sportlichen Ambitionen im Profisport hängen daran, dass der Verein – wie im Leitbild beschrieben – nachhaltig erfolgreich wirtschaftet. Je mehr der Verein erwirtschaftet, desto mehr gibt er der Region zurück: »Wir sind integraler Bestandteil unserer Heimatstadt und unserer Heimatregion. Vor allem zur Stadt stehen wir von Anbeginn in einer symbiotischen Beziehung«, heißt es unter »Unsere Mission« im Leitbild. Es lässt sich nicht alles in Heller und Pfennig übersetzen, was die »Lilien« für die Stadt und die hiesige Wirtschaft »wert« sind. Doch hat eine vom Verein beauftragte Studie im Jahr 2017 die wirtschaftliche Wertschöpfung herausgearbeitet. Die »Economic Impact Analyse« von ValuMedia beurteilt beispielsweise »bei den wirtschaftlichen Effekten die direkten Effekte, wie etwa die Personal- und Sachausgaben sowie die zusätzlichen Arbeitsplätze und Steuerabgaben, die es ohne den Verein nicht geben würde«.

Hohe Wertschöpfung durch Erste Liga

Dazu spielten aber auch die sogenannten Umwegrentabilitäten eine wichtige Rolle. »Denn durch Ausgaben jeder Art – vom Verein wie von Besuchern – die im Zu sammenhang mit dem Spielbetrieb entstehen, profitiert die Region auch ›auf Umwegen‹ von dem Fußballverein. Denn jeder Euro zusätzliches Einkommen löst multiplikative Effekte in einer Volkswirtschaft aus«, so die Studie. Die errechnete Wertschöpfung für die Erste Liga liegt demnach bei 17,63 Millionen Euro für eine Saison. Den größten Anteil sieht die Untersuchung bei den Personalausgaben des Vereins, die zu einem konsumwirksamen Zusatz­einkommen privater Haushalte in Höhe von 13,41 Millionen Euro führen. Die Sachausgaben machen 0,53 Millionen Euro aus. Und die Besucher­ausgaben haben einen ökonomischen Effekt von 3,69 Millionen Euro. Diese Werte dürften sich in dieser Saison verbessern, weil der Verein durch seine neue Haupttribüne, seine Eventflächen und Logenbereiche ganz neue Vermarktungsmöglichkeiten hat – auch außerhalb der Spieltage. So kann man heute für Firmen- oder andere Feiern fast das ganze Stadion mit komplettem Catering buchen. Auch die weitere Professionalisierung des Vereins, etwa durch Digitalisierung, wird Effekte durch Kosten­effizienz und neue Vermarktungspotenziale zeigen.
An einem Spieltag arbeiten rund 500 Personen, meist über Dienstleister, für den Verein (Technik, Catering, Gebäudereinigung, Security usw.). Hier entsteht Wertschöpfung genauso wie im Rahmen des Stadionumbaus. Natürlich musste hier ausgeschrieben werden, doch viele Aufträge seien auch bei Betrieben aus der erweiterten Region angekommen, sagt der kaufmännische Geschäftsführer Michael Weilguny.
Die Geschäftsführerin der städtischen Marketinggesellschaft, Anja Herdel, verweist auf eine noch ältere Studie aus dem Jahr 2015, als die »Lilien« gerade ins Oberhaus der Bundesliga eingezogen waren. Es wurden Einnahmen der Tourismusindustrie in Darmstadt von rund sechs Millionen Euro pro Saison berechnet. »Den größten Gewinn verzeichnete dabei der Gastronomi­ebereich mit mehr als vier Millionen Euro Umsatz. Im Transportsektor waren 1,5 Millionen Euro Umsatz auf den Fußball zurückzuführen, im Übernachtungsgewerbe gut eine halbe Million Euro Umsatz«, berichtet Herdel. Insgesamt erwirtschafte die Tourismusindustrie in Darmstadt jährlich einen Umsatz von rund 460 Millionen Euro. Gegenüber der Zweiten Bundesliga erwartet Thilo Hanke, Vorsitzender des Dehoga-Stadt- und Kreisverbandes Darmstadt, jedoch keinen weiteren Zuwachs an Übernachtungsgästen. Es gelte: »Je weiter entfernt, desto mehr Übernachtungsgäste.«
Auch die öffentliche Hand profitiert. »Schon der Aufstieg von der Dritten in die Zweite Bundesliga hatte einen leicht positiven Effekt für den städtischen Haushalt zur Folge. Ein deutlich verstärkter, positiver Effekt hat sich in den Jahren der Zugehörigkeit zur Ersten Bundesliga und auch noch im ersten Jahr nach dem Abstieg in die Zweite Bundes­­liga bemerkbar gemacht«, berichtet der Kämmerer der Wissenschaftsstadt Darmstadt, André Schellenberg. Die Stadt geht davon aus, dass sich der positive Effekt des jüngsten Aufstiegs zeitnah wiederholen wird. »Bei einer Zugehörigkeit des Vereins zur Ersten Bundesliga über einen mehrjährigen Zeitraum hinaus könnten die positiven Effekte für den städti­schen Haushalt eine Größenordnung erreichen, die eine vollständige Kompensation des städtischen Zuschusses zur Sanierung des Stadions am Böllenfalltor ermöglicht«, setzt Schellenberg ein Ausrufezeichen.

Werbeäquivalenz von 33,7 Millionen Euro

Und dann ist da noch die Aufmerksamkeit, die Darmstadt durch den Verein erhält, die in Geld kaum zu bemessen ist. »Als wichtiger Imageträger nimmt der SV Darmstadt 98 eine bedeutende Funktion für die Stadt ein und verfügt über ein außerordentlich großes Potenzial auch für das Stadtmarketing. Der Verein verfügt aber auch über eine sehr hohe Strahlkraft in andere Branchen hinein und stärkt damit die regionale Wertschöpfung«, sagt Darmstadts Oberbürgermeister Hanno Benz. Die Geschäftsführerin des Stadtmarketings Anja Herdel ergänzt: »Der Fußballclub SV 98 gehört zur Darmstädter DNA. Durch sein sportliches Engagement und seine jüngsten großen Erfolge fungiert der Verein als identitätsstiftender Faktor für die Wissenschaftsstadt Darmstadt und die ganze Region. Damit spielt der SV Darmstadt 98 selbstverständlich auch eine wichtige Rolle im Stadt- und Touristikmarketing.« Ähnlich sieht es auch der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga: »In jedem Fall ist es ein Aufmerksamkeitsbonus, der über Imagekampagnen kaum zu schaffen ist, und wir sind dankbar für die Chance«, sagt Vorsitzender Thilo Hanke.
Und nimmt man die mediale Präsenz der »Lilien« im untersuchten Zeitraum der Studie von ValuMedia, entsteht für die Stadt Darmstadt über eine Saison ein Werbeäquivalenzwert von etwa 33,7 Millionen Euro. Anders gesagt: Um die mediale Präsenz Darmstadts ohne die Berichterstattung über die »Lilien« zu erreichen, müsste die Stadt 33,7 Millionen Euro für Werbung ausgeben.
Die Potenziale sind längst noch nicht ausgeschöpft. Unter anderem bei touristischen Angeboten, neuen Synergien zwischen Wirtschaft und Verein oder als Vorbild für den Breitensport sieht Marketingexpertin Herdel viele neue Möglichkeiten, die sich aus dem Erfolg der »Lilien« ergeben. »Das Crossmarketing müsste deutlich ausgebaut werden«, meint Thilo Hanke vom Dehoga und regt eine Studie der Hochschule dazu an.
Patrick Körber
Geschäftsbereichsleiter, Pressesprecher
Bereich: Kommunikation und Marketing