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Vorsicht bei passgenauer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen – und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
18. Dezember 2023
Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten beschäftigt. Er legte am Montag, dem 2. Mai 2022, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Mit Schreiben vom 2. Mai 2022, das dem Kläger am 3. Mai 2022 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022. Mit Folgebescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 wurde Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. Mai 2022 und bis zum 31. Mai 2022 (einem Dienstag) bescheinigt. Ab dem 1. Juni 2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf.
Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Dem widersprach der Kläger, weil die Arbeitsunfähigkeit bereits vor dem Zugang der Kündigung bestanden habe.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) ist jedenfalls für den Zeitraum vom 7. bis zum 31. Mai 2022 der Argumentation der Beklagten gefolgt. Zwar könne ein Arbeitnehmer die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit mit ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nachweisen, aber es bestehe zugunsten des Arbeitgebers die Möglichkeit deren Beweiswert zu erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlege und gegebenenfalls beweise, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben.
Eine solche Erschütterung kann auch dann gegeben sein, wenn sich der Arbeitnehmer im Anschluss an eine vom Arbeitgeber erhaltene Kündigung krankmeldet oder das Attest passgenau bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgestellt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um eine Kündigung des Arbeitnehmers oder eine Kündigung des Arbeitgebers handele. Allerdings sei stets eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände erforderlich.
Bezüglich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 hält das BAG den Beweiswert für erschüttert. Zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestanden und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen habe. Dies habe zur Folge, dass nunmehr der Arbeitnehmer für die Zeit vom 7. bis zum 31. Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch trage.
Da das Landesarbeitsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hatte, hat das BAG die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückverwiesen.
Quelle: BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023, Az.: 5 AZR 137/23

Markus Würstle
Bereich: Unternehmen und Standort
Themen: Arbeitsrecht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Insolvenzrecht