Handel mit Großbritannien

Brexit-Bilanz für den Wirtschaftsstandort Hessen

Seit dem 1. Januar 2021 ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil des EU-Binnenmarkts sowie der Zollunion und gilt als Drittstaat. Wie die Bilanz nach einem Jahr Brexit ausfällt, hängt stark von der Perspektive ab. Ein Gastbeitrag von Mark Weinmeister, Staatssekretär für Europaangelegenheiten in Hessen.
Autor: Mark Weinmeister, 28. Dezember 2021
Ein Jahr nach dem Brexit sind die Folgen für die EU und Großbritannien sehr unterschiedlich. In Deutschland und Hessen stellen wir fest, dass der Brexit bisher keine wirtschaftliche Krise ausgelöst hat. Viele Befürchtungen, insbesondere für die deutsche Wirtschaft, haben sich nicht bewahrheitet. Zwar mussten sich Unternehmen und Bürger umstellen und sich wieder mit bürokratischen Hürden herumschlagen. Im Großen und Ganzen aber blieben die Handelsumsätze mit dem Vereinigten Königreich (UK) auf hohem Niveau.
Dass es so gekommen ist, liegt nicht nur an dem Pragmatismus vieler Unternehmen, sondern auch daran, dass die hessische Landesregierung den Brexit-Prozess von Beginn an intensiv begleitet hat. So wurde eine Arbeitsstruktur aus mehreren Ministerien, Wirtschaft und Verbänden geschaffen, um für die Unternehmen wichtige Informationen bereitzustellen und bei den Vorbereitungen auf den Brexit zu unterstützen.
Damit war auch die Grundlage gelegt, dass Hessen in einigen Bereichen sogar vom Brexit profitieren konnte. Ein Fokus liegt dabei sicherlich auf dem Finanzplatz Frankfurt. Unter anderem haben sich dort 33 Banken, 30 Finanzdienstleistungsunternehmen und 60 Neuansiedlungen von Niederlassungen der Finanz- und Realwirtschaft niedergelassen.

Für manche Branchen in Deutschland hat sich der Brexit gerechnet

Es gibt aber auch andere Branchen, für die sich der Brexit wirtschaftlich gerechnet hat. Hessen verfügt zum Beispiel über eine sehr starke Logistikbranche. Viele internationale Unternehmen meiden seit dem Brexit häufige Grenzübertritte zwischen der EU und Großbritannien. Die Folge ist, dass größere Lagerkapazitäten in der EU benötigt werden. In diesem Bereich haben viele hessische Unternehmen deshalb ihre Geschäftsaktivitäten ausgebaut und so von den veränderten Marktumständen profitiert.
Für die nahe Zukunft wird sich zeigen, wie sich veränderte Lieferketten auf die Handelsbeziehungen auswirken. Auch die Corona-Pandemie kann dafür gesorgt haben, dass weitreichende Unternehmensentscheidungen bisher nicht umgesetzt wurden. Die Bilanz nach einem Jahr Brexit kann deshalb aus deutscher Sicht nur eine Momentaufnahme sein.

Großbritannien verzeichnet bisher mehr Nachteile als Vorteile

Für Großbritannien auf der anderen Seite hat der Brexit bisher mehr Nachteile als Vorteile gebracht. Die Exporte in die EU sind erheblich zurückgegangen und vielerorts gab es Bilder von Versorgungsengpässen. Dies war nicht nur bei Konsumgütern der Fall, sondern Teil der Brexit-Kampagne war auch eine oft harsche Kritik an der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Dies rächt sich nun, denn im Zuge des Brexit sind viele Arbeitnehmer wieder zurück in ihre Herkunftsländer gegangen. Seit dem Brexit fehlen dem Vereinigten Königreich deshalb Kraftfahrer, Krankenschwestern und Servicepersonal, was sich erheblich auf ganze Branchen auswirkt.
Die erste Jahresbilanz nach dem Brexit hängt deshalb von der Perspektive ab. Bisher scheinen die wirtschaftlichen Auswirkungen für Hessen gering und teilweise profitiert Hessen sogar vom Brexit. Auf der anderen Seite müssen wir beobachten, dass sich unser politischer Partner Großbritannien immer weiter von uns entfernt. Das beginnt bei kleineren technischen Standards und endet bei großen politischen Fragen.
Hessen hat ein starkes Interesse daran, Großbritannien eng an der Europäischen Union zu halten. Als Wirtschaftspartner, aber auch als Partner in wichtigen politischen Fragen. Im September 2021 hat Hessen deshalb eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, die nicht nur fordert, die Chancen des Brexit für Deutschland besser zu nutzen, sondern auch das klare Ziel formuliert, ein weiteres Auseinanderdriften zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zu vermeiden. Der Schlüsselsatz, der am 5. November 2021 vom Bundesrat beschlossenen Initiative, lautet daher für mich: Aus Sicht des Bundesrates sollte der Weg zurück in die EU für Großbritannien immer möglich sein.


Mark Weinmeister ist seit 2014 Staatssekretär für Europaangelegenheiten in Hessen und somit für die operative Gestaltung der hessischen Europapolitik verantwortlich. Zu seinem Kerngeschäft gehört es, in der Hessischen Landesvertretung in Brüssel vor Ort Gespräche mit europäischen Entscheidungsträgern zu füh
ren. Als Europastaatssekretär begleitet er zahlreiche Veranstaltungen und Gäste zu politisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich bedeutenden Themen und Fragestellungen. Durch kontinuierliche Gespräche und den Aufbau von Netzwerken in Brüssel wie auch in Straßburg können Positionen des Landes Hessen in die relevanten Entscheidungsgremien und Prozesse eingebracht werden.
„Der britische Markt bleibt für deutsche Unternehmen spannend“
Mit Dr. Ulrich Hoppe, Geschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer (AHK London), sprachen wir nach einem Jahr Brexit über die bilateralen Handelsbeziehungen, den regulativen Rahmen und wichtige Fristen, die Unternehmen beachten sollten.

 
Axel Scheer
Teamleiter
Bereich: Unternehmen und Standort
Themen: Team International
Jovana Stojkoski
Bereich: Unternehmen und Standort
Themen: Enterprise Europe Network, Export, Import