Interview

„In Darmstadt gibt es sehr viel von dem, was ein Unternehmen derzeit in Deutschland in Sachen Digitalisierung erwarten kann“

Die Digitalstadt Darmstadt soll als Modellstadt zeigen, wie mithilfe intelligenter Technologien neue, smarte Dienste für Bürger, Unternehmen und die Verwaltung geboten werden können. Oberbürgermeister Jochen Partsch spricht im Interview mit der IHK Darmstadt über den Projektfortschritt und darüber, was wir künftig an Services erwarten dürfen.
Autorin: Veronika Heibing, 1. Februar 2021
IHK: Eine digitale Stadt mit internationaler Strahlkraft – was muss die ihren Bürgern sowie ihren ansässigen Unternehmen bieten können, Herr Partsch?
Jochen Partsch: Beide angesprochenen Attribute, Digitalisierung und Internationalisierung, sind wichtiger und wesentlicher Teil unserer Stadtentwicklungsstrategie. Und beide Faktoren sind zudem wichtige Entscheidungskriterien für die ansässigen Unternehmen, da sie deren Entfaltungsmöglichkeiten beeinflussen. In der Digitalisierung sind wir durchaus Spitzenreiter: Erst kürzlich hatten gleich zwei unabhängige Städte-Rankings die Wissenschafts- und Digitalstadt Darmstadt auf Platz 4 der smartesten Städte Deutschlands gekürt. Auf dieser Position spielen wir also im Reigen der Großstädte Hamburg, Köln und München mit und in Hessen sind wir sogar auf Platz 1. In Darmstadt gibt es also sehr viel von dem, was ein Unternehmen derzeit in Deutschland in Sachen Digitalisierung erwarten kann.
Um konkreter zu werden: Wir digitalisieren in 14 städtischen Bereichen mit kompetenten Kooperationspartnern, darunter auch Projekte im Bereich Handel und lokale Industrie. So bietet das IHK Kompetenzzentrum 4.0 beispielsweise weitreichende Info- und Schulungsseminare für Unternehmer an, die die „neue“ Industrie 4.0 und die Digitalisierung der Unternehmensprozesse adressieren. Hinzu kommt, dass wir mit dem digitalen Schaufenster einen Online-Marktplatz geschaffen haben, auf dem lokale Einzelhändler und Gastronomen kostenlos auf sich aufmerksam machen können. Gerade im Lockdown war und ist dies eine effektive Digitalisierungsmaßnahme für unsere Lokalwirtschaft. Und funktioniert diese, so stellt sich früher oder später auch die wachsende Internationalisierung ein. Florierende Städte ziehen Menschen und Unternehmen aus aller Welt an … Und natürlich haben wir unsere Forschungseinrichtungen, die ohnehin internationales Publikum adressieren und beheimaten.
IHK: Und wie weit ist Darmstadt auf dem Weg zur Smart City?
Jochen Partsch: Wir haben in den städtischen Bereichen, die wir digitalisieren, viele verschiedene Projekte auf den Weg bringen können. Sie alle machen insgesamt Darmstadt smarter. Viele dieser Digitalisierungsprojekte sind bereits abgeschlossen und zugleich in kontinuierlicher Entwicklung − so etwa LoRaWAN (Long Range Wide Area Network), ein kostengünstiges, energiesparendes und reichweitenstarkes Funknetz, das speziell für Anwendungen des Internets der Dinge (Internet of Things, kurz IoT) konzipiert wurde. Das Netz wird bereits von großen Darmstädter Unternehmen für die eigene Logistik auf dem Betriebsgelände verwendet und die städtischen Unternehmen, wie etwa der Zoo Vivarium, der Abfallwirtschaftsbetrieb EAD und Weitere nutzen LoRAWAN ebenso als digitale Infrastruktur. Zugleich gibt es aber noch jede Menge Unternehmen, die LoRAWAN noch nicht in Betracht gezogen haben, um ein ‚eigenes‘ IoT zur Digitalisierung ihres Portfolios oder ihrer Prozessketten zu etablieren. Das Zusammenspiel aller urbanen Akteure, ob aus Wirtschaft, Wissenschaft, dem Gesundheitswesen, der Politik, Verwaltung und vielen weiteren in Sachen Digitalisierung macht letztendlich das, was gemeinhin als Smart City angenommen wird, erst möglich. Die Digitalstadt Darmstadt ist hier als koordinierende Einheit hochproduktiv und erfolgreich.
IHK: Auf welche Projektfortschritte sind Sie besonders stolz und welche davon sind insbesondere für Unternehmen von Vorteil?
Jochen Partsch: Ich bin auf jedes einzelne Projekt der Digitalstadt Darmstadt sehr stolz. Und da alle Digitalisierungsprojekte im Hinblick auf den unmittelbaren Nutzen für die Bürger konzipiert und evaluiert werden, sind sie prinzipiell auch allesamt für die Unternehmer nützlich. Aber um ganz konkret zu werden: Neben den bereits erwähnten Projekten wie IoT und Handelsplattform sowie weiteren städtischen Apps werden die Unternehmen künftig wohl auch stark von unserer ersten städtischen Datenplattform profitieren. Sie zeigt seit diesem Jahr in Echtzeit Daten aus dem städtischen Alltag. Diese Visualisierungen sind für Start-ups und deren neue Geschäftsmodelle ebenso interessant wie für alteingesessene Unternehmer, die beispielsweise ihre Lieferkette durch die Innenstadt optimieren möchten. Und in Bezug auf die Mobilität in Darmstadt möchte ich unser hochmodernes und beispielhaftes Verkehrsmanagement erwähnen. Wir sind in Darmstadt in der Lage, in Echtzeit und auf Basis einer Netzwerktechnologie einige wichtige Verkehrsströme adaptiv und intelligent zu lenken. Mittels eines innovativen Sensorennetzes messen wir zeitgleich die Luftgüte an elementaren Verkehrsknotenpunkten der Stadt. Unternehmen können in Darmstadt also sehr viele ökologische, ökonomische als auch soziale Digitalisierung finden und davon profitieren: Vorteile ergeben sich daraus auf ganz vielen Ebenen. Für Mitarbeiter, für die eigene Produktivitätskette, für die Innovationsfähigkeit des Unternehmens und mehr. 
IHK: Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz auf dem Weg zur Stadt der Zukunft?
Jochen Partsch: KI ist eine Schlüsseltechnologie der Zukunft und natürlich sind auch wir mit dem Thema in der Digitalstadt Darmstadt beschäftigt. Kaum ein Ortungssystem oder eine mobile, digitale Sprachanwendung verzichtet auf die intelligenten Algorithmen, mittels derer die Software lernt und sich selbst verbessert. Wir haben mehrere Apps im Angebot, die beispielsweise Navigationsleistung erbringen. Den öffentlichen Nahverkehr der Heag mobilo kann man sich via App in Echtzeit darstellen lassen und so optimale Verbindungen organisieren, ein Ampelphasen-Assistent stützt ebenso auf Wunsch Autofahrer. Die Füllstände in Abfallbehältern werden künftig automatisiert überprüft und deren Leerung bei Bedarf veranlasst und die Datenplattform mit Echtzeitdarstellungen bestimmter städtischer Daten ermöglicht zudem Einblick in bestimmte Wirtschaftskreisläufe. Diese Services werden, wenn denn gut genutzt und weiter nachgefragt, stetig ausgebaut und so wird KI in der Stadtentwicklung weiter an Bedeutung gewinnen. Zudem haben wir an der TU Darmstadt den Hauptsitz des Hessischen Zentrum für Künstliche Intelligenz und somit die renommiertesten KI-Informatiker aus 13 Hochschulen greifbar. Und da wir mit den hiesigen Hochschulexperten in verschiedenen Gremien unter anderem auch Stadtentwicklung diskutieren, wird die KI sicherlich immer wieder thematisiert. Übrigens beantworten unsere KI-Forscher diese Frage etwas reservierter: KI steckt noch in den Kinderschuhen und es gibt jede Menge Forschungsbedarf.
IHK: Welche digitalen Dienstleistungen dürfen Bürger und Unternehmen ab 2021 erwarten?
Jochen Partsch: Digitalisierung von Verwaltung ist eine wichtige und zugleich komplexe Aufgabe, die Absprachen mit Behörden und Ämtern auf Landes- und Bundesebene einfordert und vielen daher nicht schnell genug geht. Dabei haben wir bereits vergleichsweise viele Online-Services  im Angebot. Diese gilt es 2021 weiter und auszubauen, was auch durch das beschlossene Online-Zugangsgesetz verstärkt forciert wird. Ein Beispiel wird die digitale Umsetzung der sogenannten OLAV-Leistungen sein. Dabei handelt es sich um Online-Vorgänge aus dem Melde- sowie Pass- und Personalausweisrecht. Auf diese Weise arbeiten wir uns also mit Bund und Land sukzessive immer weiter vor in Richtung digitaler Rundum-Verwaltungsservice. Zudem können die Bürger gespannt sein auf die Projektfortschritte und -aktivitäten der Digitalstadt Darmstadt. So wird etwa das Digitale Stadtlabor als neues Projekt aus der Taufe gehoben. Dieses Projekt richtet sich direkt an alle interessierten Darmstädter, ob groß oder klein, und stellt sich quasi als Begegnungsstätte der Darmstädter Digitalisierung dar. Jeder, der Digitalisierung bei uns erleben oder mitmachen will, der sollte nach den Aktivitäten dieses neuen Digitalisierungsprojektes Ausschau halten.
Digitale Modellstadt mit internationaler Strahlkraft

Im Wettbewerb „Digitale Stadt“ des Digitalverbands Bitkom und des Deutschen Städte- und Gemeindebunds konnte sich Darmstadt 2017 durchsetzen. Seit 2018 unterstützt ein breites Bündnis aus mehr als 20 Partnerunternehmen den Ausbau Darmstadts zur digitalen Modellstadt pro bono mit Produkten und Dienstleistungen in zweistelliger Millionenhöhe. Zusätzlich fördert das Land Hessen die Digitalstadt mit fünf Millionen Euro, damit Darmstadt mithilfe intelligenter Technologien neue, smarte Dienste für Bürger, Unternehmen und Verwaltung anbieten und so als Blaupause für andere Städte und Regionen dienen kann. Darüber hinaus erhielt Darmstadt im vergangenen Jahr den Zuschlag für die Förderlinie „Modellprojekte Smart Cities“ des Bundesministeriums des Inneren, Bau und Heimat. Damit steht ihr eine finanzielle Förderung in Millionenhöhe aus dem Bundeshaushalt 2020 zur Verfügung, um sich über eine Förderlaufzeit von sieben Jahren zur vernetzten Smart City weiterzuentwickeln.

www.digitalstadt-darmstadt.de
„Wirtschaftsdialoge“ mit Schwerpunkt „Künstliche Intelligenz“
Welche Potenziale bietet künstliche Intelligenz (KI) der südhessischen Wirtschaft und wie können KMU die Schlüsseltechnologie für sich nutzen? Das ist Schwerpunktthema der Ausgabe 1-2021 der Mitgliederzeitschrift „Wirtschaftsdialoge“. Sie sind Mitglied und erhalten das Magazin noch nicht? Schreiben Sie eine Mail an redaktion@darmstadt.ihk.de mit dem Betreff „Magazin-Abo“ und Sie erhalten das Magazin sechsmal im Jahr kostenfrei.
Dr.Daniel Theobald
Geschäftsbereichsleiter
Bereich: Unternehmen und Standort