Interview mit Tarek Al-Wazir und Marc Dassler

„Wir müssen den Braindrain stoppen“

Staat und Land haben ihre Programme zur Gründungsförderung in den vergangenen Jahren deutlich ausgebaut. Doch gerade für junge Unternehmen, die anfangs eine geringe Ertragskraft, aber überdurchschnittliches Wachstumspotenzial aufweisen, greifen diese Instrumente oft zu kurz. Und weil viele deutsche Firmen das Investitionsrisiko scheuen, kommt das für die Wachstumsphasen dieser Start-ups dringend benötigte Wagniskapital überwiegend aus dem Ausland. Das könnte am Ende fatale Folgen für den Wirtschaftsstandort haben. Wie lässt sich dieses Problem lösen? Um diese Frage zu diskutieren, brachten wir den hessischen Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und den Startup-Gründer Marc Dassler zusammen.
Autor: Stephan Köhnlein, 9. Februar 2022
IHK: Herr Dassler, Sie sind Geschäftsführer des schnell wachsenden Start-ups Energy Robotics aus Darmstadt. Ihr Team entwickelt Software für autonome Roboter, die mit künstlicher Intelligenz (KI) selbstständig Industrieanlagen inspizieren und künftig auch reparieren sollen. Wie haben Sie in der Gründungsphase Ihr Geschäftsvorhaben finanziert?
Marc Dassler: Wir hatten 2017 die Idee und haben uns 2018 über das „Exist“-Förderprogramm des Bundeswirtschaftsministeriums von der TU Darmstadt ausgegründet. In der Anfangsphase haben wir uns auf wenige Kunden konzentriert und mit ihnen Lösungen erprobt, um diese dann an den Markt zu bringen. 2019 gründeten wir eine GmbH. Ende 2020 haben wir die Finanzierung über Wagniskapital durch sogenannte Earlybird Ventures in Höhe von zwei Millionen Euro aufgenommen und noch einige Business Angels dazugeholt. Im Moment arbeiten wir an der nächsten Finanzierungsrunde. Dafür spreche ich praktisch jeden Tag mit Investoren.
Wir haben noch nicht einmal einen Dispokredit, weil man uns für zu risikoreich hält, obwohl wir das Who is who der deutschen Großunternehmen als Kundschaft haben. Viele Banken verstehen das Start-up-Geschäft schlicht nicht.

Marc Dassler

IHK: Warum ist Wagniskapital so wichtig für Unternehmen wie Ihres?
Marc Dassler: Wir brauchen die Freiheit, die solche Finanzierungsmöglichkeiten bieten. Die Teilnahme an einem Regierungsförderprogramm ist sehr schwierig, wenn man in einer Größenordnung wie wir unterwegs ist. Da muss man in einem eng abgesteckten Korridor agieren, um finanzierbar zu sein, und es ist nicht sicher, ob man letztlich das Geld bekommt. Banken kann man quasi ausschließen. Wir haben noch nicht einmal einen Dispokredit, weil man uns für zu risikoreich hält, obwohl wir das Who is who der deutschen Großunternehmen als Kundschaft haben. Viele Banken verstehen das Start-up-Geschäft schlicht nicht.
IHK: Häufig kommt das Wagniskapital aus dem Ausland. Das sehen Sie äußerst kritisch. Warum?
Marc Dassler: In Deutschland gibt es für größere und risikoreichere Investitionen nur wenige Anbieter. Da ist man schnell auf die USA oder China angewiesen, denn hier sitzen die großen Fonds, die über ein entsprechendes Volumen verfügen. Wer bei uns Wagniskapital investiert, hat nicht diese Finanzierungsmöglichkeiten. In den USA können auch die Pensionsfonds über Wagniskapitalfonds in Unternehmen investieren. Das können wir hier in diesem Ausmaß nicht mal im Ansatz. Doch wenn die Amerikaner große Beträge in ein Unternehmen investieren, wird am Ende auch ein großer Teil der Wertschöpfung in den USA passieren. Da droht ein massiver Braindrain, also der Abfluss von Know-how ins Ausland. Deshalb halte ich diese Entwicklung für extrem problematisch.
IHK: Herr Minister, sehen Sie das ebenso als problematisch an?
Tarek Al-Wazir: Ja und nein. Es stimmt, dass es in Deutschland lange kaum Anbieter von Wagniskapital gab. Aber wir haben mittlerweile viel dafür getan, um das Schritt für Schritt zu verbessern. Wir haben uns um die Talente an den Hochschulen gekümmert. Wir haben uns gefragt, wie wir die klassischen Gründer und wie wir Start-ups besser fördern können, die auf schnelles Wachstum ausgerichtet sind. Da ist in den vergangenen Jahren einiges passiert, auch um diese Szene zu vernetzen und um sichtbarer zu machen, was wir in Hessen schon alles erreicht haben. Wenn es um hohe Millionenbeträge geht, haben wir hier aber noch ein Problem, da stimme ich Ihnen, Herr Dassler, zu. Wir müssen diese Investitionen zu uns nach Hessen holen. Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, wenn das Geld dafür aus dem Ausland kommt. Aber es ist natürlich ein Problem, wenn die ganze Firma dann ins Ausland verschwindet und dort die Erträge geerntet werden. Denn schließlich haben auch wir da oft schon viel investiert– angefangen bei den Hochschulen bis hin zu den verschiedenen Gründer- und Förderprogrammen.
IHK: Die Bundesregierung hat einen Zukunftsfonds angelegt, um mit privaten und öffentlichen Partnern Risikokapital zu mobilisieren. Kann dieser Fonds helfen, das Problem zu lösen?
Tarek Al-Wazir: Der Zukunftsfonds ist aus meiner Sicht etwas sehr Gutes. Wir haben ein Volumen von bis zu 30 Milliarden Euro – verteilt auf unterschiedliche Bereiche. Allerdings hoffe ich, dass nicht von überall die Häme über den Staat hereinbricht, wenn einmal etwas schiefgehen sollte. Das Wesen von Risikokapital ist, dass es auch mal weg sein kann. Deswegen verstehe ich auch ihre Kritik, Herr Dassler, dass das Antragsverfahren so schwierig ist. Aber diejenigen, die über die Gelder entscheiden, müssen am Ende auch sagen können, dass die Vergabe nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt ist.
Marc Dassler: Da bin ich grundsätzlich bei Ihnen. Aber das Problem ist, dass die Entscheider in der Regel Buchhalter und Controller sind, die sich maximal absichern und schon bei kleinen Beträgen Privatbürgschaften von den angehenden Unternehmern verlangen. Wir sind an diesem Punkt viel zu bürokratisch. Gerade in den oberen Finanzierungsbereichen, wo wirklicher langfristiger Mehrwert für den Standort Deutschland und Europa geschaffen wird, wandern dann von außereuropäischen Wagniskapitalgebern finanzierte Unternehmen oft ins Ausland ab. Das müssen wir möglichst unterbinden. Deswegen sollten wir zum Beispiel in Deutschland Rentenfonds ermöglichen, in Wagniskapitalfonds zu investieren. Und das ist eine politisch-regulatorische Entscheidung.
Ich selbst habe lange dafür gekämpft, dass man Teile der Rentenversicherung auch am Kapitalmarkt aktiv werden lässt, wie das beispielsweise in Schweden gemacht wird. Das ist jetzt auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung enthalten.

Tarek Al-Wazir

IHK: Herr Minister, was halten Sie von dem Vorschlag, die Regeln für Kapitalgeber zu lockern, sodass deutsche Pensionskassen und Versicherungen das Risiko bei ihrer Geldanlage breiter streuen dürfen und so verstärkt auch in Aktien, Beteiligungen und Start-ups investieren können?
Tarek Al-Wazir: Klar ist, dass wir relativ strenge Regulierungskriterien haben, weil wir sicher sein wollen, dass die Altersvorsorge dann auch tatsächlich mit einer bestimmten Mindestverzinsung kommt. Deswegen muss man schauen, wie weit man sich in diesem Bereich öffnet. Ich persönlich glaube, da können wir Stück für Stück etwas lockern. Ich selbst habe lange dafür gekämpft, dass man Teile der Rentenversicherung auch am Kapitalmarkt aktiv werden lässt, wie das beispielsweise in Schweden gemacht wird. Das ist jetzt auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung enthalten.
Marc Dassler: Wir brauchen in Deutschland aber auch mehr Mut zum Risiko. Wenn ich sehe, wie sehr Kunden im Ausland Risikobereitschaft zeigen und damit Türen zur Innovation aufstoßen … da muss man gar nicht bis in die USA gehen, das fängt schon in den Niederlanden an.
IHK: Wie sehen Sie das, Herr Minister – haben wir in Deutschland zu viel Angst vorm Scheitern?
Tarek Al-Wazir: Ja, manchmal schon. Wir sehen bei jungen Menschen wieder ein wachsendes Interesse an einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst, was ein gewisses Sicherheitsbedürfnis bei manchen zeigt. Zudem sind wir eine alternde Gesellschaft. Die ist nicht so innovationsfreudig wie eine Gesellschaft, die einen hohen Anteil junger Menschen aufweist. Einen Satz noch zur Regulierung: Klare Regeln sind manchmal anstrengend, aber nicht nur ein Nachteil. Was manchmal als Bürokratie abgetan wird, schafft auch Rechtssicherheit. Ich habe das zum Beispiel beim Brexit erlebt. Da haben die Franzosen viel versprochen und wenig gehalten. Wir haben wenig versprochen und alles gehalten. Am Ende haben sich mehr Banken in Frankfurt angesiedelt, weil sie wissen, worauf sie sich an diesem Standort verlassen können.
Wenn wir es jetzt nicht schaffen, bei KI und Robotik mitzuspielen, werden KIs aus anderen Ländern unsere Gesellschaft maßgeblich prägen. Und die funktionieren nicht mit unseren Regularien, sondern mit denen, die in den USA oder China den KIs beigebracht wurden.

Marc Dassler

IHK: Gehen wir einmal weiter zum Thema KI. Die EU-Kommission plant, den Einsatz der Technologie stärker zu regulieren. Was löst das bei einem Start-up wie Ihrem mit KI-basiertem Geschäftsmodell aus, Herr Dassler?
Marc Dassler: Ganz ehrlich, das gesamte Paket ist doch aus Angst geschrieben. Hier werden Chancen schon ausgeschlossen, bevor man anfängt, sie zu verstehen und zu entwickeln. Wir haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten in Europa jedes größere Schlachtfeld der neuen Technologien verloren: Chip-Produktion, Suchmaschinen, Social Media oder auch Cloud Computing. Wenn wir es jetzt nicht schaffen, bei KI und Robotik mitzuspielen, werden KIs aus anderen Ländern unsere Gesellschaft maßgeblich prägen. Und die funktionieren nicht mit unseren Regularien, sondern mit denen, die in den USA oder China den KIs beigebracht wurden. Das kann jetzt schon jeder an seiner vorgefilterten Social-Media-Blase sehen. Hier sind es amerikanische KIs, die entscheiden, was wir in Europa sehen und was nicht. Die Big Player wie Amazon, Google, Facebook und Co. wird das ohnehin nicht aufhalten, wie wir an deren mangelnder Umsetzung der DSGVO sehen. Die EU-Pläne zur KI würden bedeuten, dass wir sofort einen Nachteil im internationalen Rennen hätten: Wir starten den 100-Meter-Sprint mit einem schweren Rucksack und laufen nach der Konkurrenz los. Wenn das kommt, müssen wir überlegen, ob wir mit Energy Robotics Deutschland oder sogar Europa verlassen. Wir sind jetzt schon überreguliert. So war die DSGVO die größte Bremse der Digitalisierung in den vergangenen Jahren. Jetzt verdienen ausländische Unternehmen Geld mit unseren Daten. Wenn wir den gleichen Fehler bei der KI machen, werden wir auch diesen Kampf um Hochtechnologie verlieren.
Tarek Al-Wazir: Ich stimme zu, dass beim Datenschutz manche Kritik gerechtfertigt ist. Aber unsere informationelle Selbstbestimmung und ein guter Standard beim Datenschutz sind in manchen Bereichen auch ein Wettbewerbsvorteil. Dass wir so viele Rechenzentren in Frankfurt/Rhein-Main haben, hängt auch damit zusammen, dass die Firmen darauf Wert legen, dass ihre Daten in Deutschland liegen und nicht anderswo. Bei KI habe ich zu Beginn der Legislaturperiode Verbesserungen angeschoben, weil wir sicher sind, dass auf diesem Gebiet viel passieren wird. Deswegen fördern wir zum Beispiel umfassend das Projekt „Hessian AI“ in Darmstadt. Auch treiben wir zusammen mit Unternehmen, Universitäten und staatlichen Einrichtungen in zwei Konsortien den Aufbau eines Datentreuhänders, EuroDaT, voran, der zeigen und austesten soll, wie KI, Big Data und Datensouveränität unter den geltenden und kommenden Regeln in Europa in Einklang gebracht werden können. Denn die Frage ist ja, wie wir für Sicherheit sorgen, wenn die KI-Erkenntnisse in kritischen Infrastrukturen – etwa im IKT-Sektor, der Energieversorgung oder im Finanz- und Versicherungswesen – angewendet werden. Die Grundidee aus Brüssel kann ich gut verstehen. Jetzt ist die Frage, was wir in den nächsten Monaten daraus machen. In Hessen haben wir den Anspruch, den Prozess mitzugestalten.
Marc Dassler: Ich befürchte, dass wir hier nicht von den nächsten Monaten, sondern den nächsten Jahren sprechen. Wir haben jetzt schon Kunden, die wegen der Pläne der EU-Kommission mit ihren Investitionen warten. Wenn wir KI mit einer Angstprämisse regulieren, wird das dazu führen, dass uns andere überholen.
IHK: Von Europa wieder zurück nach Hessen. Herr Minister, wie sehen hier die idealen Rahmenbedingungen aus, um technologieorientierte Start-ups noch besser zu fördern?
Tarek Al-Wazir: Wir haben uns hier bereits auf den Weg gemacht – angefangen bei den geplanten Gründerstipendien über Beteiligungen bis hin zu Millioneninvestitionen. Wir wollen als Land sichtbarer werden und zeigen, was wir in Hessen können. Wenn Innovationen laufen und anfangen zu fliegen, müssen wir dafür sorgen, dass die anschließende Wertschöpfung auch hier passiert. Wir werben deshalb auch bei vermögenden Privatpersonen um entsprechende Mittel. Aber auch der Bundesfonds wird dabei helfen. Grundsätzlich müssen wir noch mehr Lust aufs Gründen und Unternehmertum machen.
Wir haben uns hier bereits auf den Weg gemacht – angefangen bei den geplanten Gründerstipendien über Beteiligungen bis hin zu Millioneninvestitionen. Wir wollen als Land sichtbarer werden und zeigen, was wir in Hessen können.

Tarek Al-Wazir

IHK: Herr Dassler, was möchten Sie dem Minister auf den Weg geben, damit Start-ups wie Ihres in Hessen gut gedeihen können?
Marc Dassler: Für mich sind die großen Finanzierungsrunden wichtig, in denen es um Beträge von mehr als 50 Millionen Euro geht. Ich möchte, dass wir mit unserem Unternehmen an unserem Standort bleiben können, denn ich bin überzeugter Europäer. Wir müssen den Braindrain stoppen. Die Politik kann da an vielen Punkten helfen, indem sie beispielsweise einen einfachen Zugang zu Geldern schafft oder die Attraktivität von Wagniskapital für Investoren erhöht. Denn diese Investoren sorgen dafür, dass aus einem Start-up ein Unternehmen wird. So entsteht das nächste Bosch oder Siemens. Und am Ende entsteht so auch ein Mehrwert für die Gesellschaft.
Dieses Interview ist zuerst erschienen im Mitgliedermagazin "Wirtschaftsdialoge", Ausgabe 1-2022.

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