Scheinselbständigkeit
Mit Beschluss vom 23.12.2002 hat der Bundestag im „Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt” u.a. eine Neuregelung zur Beurteilung des Vorliegens von „Scheinselbständigkeit” verabschiedet. Die im Dezember 1999 eingeführten Kriterien, wurden mit Wirkung zum 1. Januar 2003 ersatzlos aus dem Gesetzestext gestrichen. Vorteile dieser neuen Regelung sind, die Klarstellung der Geltung des Amtsermittlungsprinzips sowie der Maßgeblichkeit der Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls.
Nach wie vor gilt es zwischen „Voll-Scheinselbständigen” (§ 7 Abs. 1 SGBIV), die allen Zweigen der Sozialversicherung unterliegen (Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) und sog. „arbeitnehmerähnlichen Selbständigen” (§ 2Nr. 9 SGB VI), die lediglich rentenversicherungspflichtig sind, zu differenzieren.
1. Prüfungsschritt: Liegt Scheinselbständigkeit vor?
Amtsermittlungsgrundsatz
Die Prüfung, ob eine als „selbständig” bezeichnete Tätigkeit ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis darstellt, erfolgt vorrangig nach dem sog. Amtsermittlungsgrundsatz. Das heißt, dass die Sozialversicherungsträger vor einer Anwendung der sog. Vermutungskriterien zunächst die für und gegen ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis sprechenden Tatsachen unter Mithilfe der Betroffenen ermitteln müssen. Die Einordnung des Beschäftigungsverhältnisses hat dann im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu erfolgen. Für eine Sozialversicherungspflicht spricht dabei eine Tätigkeit nach Weisungen unter gleichzeitiger Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Weisungen können dabei insbesondere die Zeit, den Ort und die Dauer der Tätigkeit betreffen. Anhaltspunkte geringeren Aussagegehalts können z.B. die Bezeichnung des Vertragsverhältnisses oder die Mitgliedschaft in einer Berufskörperschaft sein.
Indizien, die für eine Scheinselbständigkeit sprechen könnten
- Die Person beschäftigt im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, dessen Arbeitsentgelt aus diesem Beschäftigungsverhältnis regelmäßig im Monat 400 Euro übersteigt;
- sie ist auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig;
- ihr Auftraggeber oder ein vergleichbarer Auftraggeber lässt entsprechende Tätigkeiten regelmäßig durch von ihm beschäftigte Arbeitnehmer verrichten;
- ihre Tätigkeit lässt typische Merkmale unternehmerischen Handels nicht erkennen;
- ihre Tätigkeit entspricht dem äußeren Erscheinungsbild nach der Tätigkeit, die sie für denselben Auftraggeber zuvor aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hatte.
Zu den Indizien:
„regelmäßig keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer”
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Das Indiz ist nicht schon dann erfüllt, wenn lediglich kurzzeitig kein Arbeitnehmer beschäftigt wird.
Als das Kriterium ausschließende Arbeitnehmer kommen auch Familienangehörige in Betracht. |
„auf Dauer und im Wesentlichen für einen Auftraggeber tätig”
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Erforderlich ist die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit, für mehrere Auftraggeber tätig zu werden.
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„Fehlen unternehmertypischen Handelns”
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Indizien unternehmertypischen Handelns:
- werbendes Auftreten am Markt; Firmenschilder, Briefkopf, Briefpapier, Visitenkarten - freiwillige Übernahme des Unternehmerrisikos - Ausgewogenheit zwischen unternehmerischen Chancen und Risiken - branchenspezifische Kataloge des Sozialversicherungsträger |
2. Prüfungsschritt:
Besteht trotz Selbständigkeit eine Rentenversicherungspflicht?
Kann nach den zuvor gemachten Ausführungen von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen werden, gilt es in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der„Nicht-Scheinselbständige” ein sog. „arbeitnehmerähnlicher Selbständiger” ist und in dieser Eigenschaft der Rentenversicherungspflicht unterliegt. Arbeitnehmerähnlich selbständig sind Personen, die im Zusammenhang mit ihrer selbständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, dessen Arbeitsentgelt aus diesem Beschäftigungsverhältnis regelmäßig 400 Euro im Monat übersteigt, und die auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind (§ 2 Satz 1 Nr. 9 SGB VI).
Besteht danach eine Rentenversicherungspflicht können arbeitnehmerähnliche Selbständige sich auf Antrag in mehreren Fällen befreien lassen (§ 6 Abs. 1 aSGB VI):
Erstmalige Existenzgründer
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- Befreiungsmöglichkeit für drei Jahre ab Aufnahme der selbständigen Tätigkeit
- Gilt auch für Selbständige, die sich vor dem 01.01.1999 selbständig gemacht haben, soweit nach der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit noch nicht drei Jahre vergangen sind. - Befreiungswirkung: ab dem Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen, wenn der Antrag innerhalb von drei Monaten nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt wurde, sonst erst ab Antragseingang |
Existenzgründer, zweiter Versuch
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Befreiungsmöglichkeit für weitere drei Jahre ab Aufnahme der zweiten selbständigen Tätigkeit; gilt nicht, wenn die erste Tätigkeit lediglich umbenannt wird bzw. keine wesentliche Veränderung des Geschäftszwecks vorliegt.
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Vollendung des 58. Lebensjahres
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generelle Befreiungsmöglichkeit, wenn bereits selbständig tätig gewesen und erstmals als arbeitnehmerähnlicher Selbständiger versicherungspflichtig. Befreiungswirkung: ab dem Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen, wenn der Antrag innerhalb von drei Monaten nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt wurde, sonst erst ab Antrageingang
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Geboren vor dem 02.01.1949
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Befreiungsmöglichkeit, wenn bereits am 31.12.1998 eine selbständige, damals nicht versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt wurde. Antragsfrist: ein Jahr nach Eintritt der Versicherungspflicht; endete jedoch nicht vor dem 30.06.2000
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gleichwertig Versicherte
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unter den gleichen Voraussetzungen und Antragsfristen wie 4.; gleichwertig versichert ist, wer vor dem 10.12.1998 eine Lebens- oder Rentenversicherung abgeschlossen und diese bis spätestens zu 30.06.2000 so ausgestaltet hat, dass Leistungen für Invalidität, Alter und Hinterbliebene erbracht werden. Die Beiträge müssen in der Höhe mindestens der Rentenversicherung nach dem SGB VI entsprechen.
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vergleichbare Altersvorsorge
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Voraussetzungen und Fristen wie 5.; Als vergleichbar gelten vorhandenes oder aufgrund einer auf Dauer angelegten vertraglichen Ansparverpflichtung noch zu erwerbendes Vermögen, dessen wirtschaftlicher Wert nicht hinter dem einer Lebens- oder Rentenversicherung der Kategorie 5 zurückbleibt.
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betriebliche Altersversorgung
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unter den gleichen leistungs- und aufwandsbezogenen Voraussetzungen und Fristen wie Kategorie 5.
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Der nicht befreiungsberechtigte arbeitnehmerähnliche Selbständige hat sich sofort beim zuständigen Rentenversicherungsträger anzumelden und die Beitrage vollumfänglich selbst zu zahlen.
Sonderfall: Vom Arbeitsamt geförderte Existenzgründer
Für Personen, die für eine selbständige Tätigkeit einen Zuschuss nach § 421 l SGB III beantragen, wird widerlegbar vermutet, dass sie in dieser Tätigkeit als Selbständige tätig sind. Für die Dauer des Bezugs des Zuschusses gelten diese Personen als selbständig Tätige (§ 7 Abs. 4 SGB IV).
Gemäß § 2 Satz 1 Nr. 10 SGB VI sind diese Personen jedoch rentenversicherungspflichtig. Eine Möglichkeit zur Befreiung von der Rentenversicherungspflicht als Existenzgründer (§ 6 Abs. 1 a Nr. 1 SGB VI) besteht erst nach Ende der Bezuschussung der selbständigen Tätigkeit durch das Arbeitsamt. Positiv ist, die rentenversicherungspflichtige Zuschusszeit als Existenzgründer wird nicht auf den möglichen Höchstbefreiungszeitraum von drei Jahren ab Aufnahme der selbständigen Tätigkeit angerechnet.
Gemäß § 2 Satz 1 Nr. 10 SGB VI sind diese Personen jedoch rentenversicherungspflichtig. Eine Möglichkeit zur Befreiung von der Rentenversicherungspflicht als Existenzgründer (§ 6 Abs. 1 a Nr. 1 SGB VI) besteht erst nach Ende der Bezuschussung der selbständigen Tätigkeit durch das Arbeitsamt. Positiv ist, die rentenversicherungspflichtige Zuschusszeit als Existenzgründer wird nicht auf den möglichen Höchstbefreiungszeitraum von drei Jahren ab Aufnahme der selbständigen Tätigkeit angerechnet.
Verfahren: neu zu schließendes Vertragsverhältnis
Im neu eingeführten sog. Anfrageverfahren (§ 7 a SGB IV) können Beteiligte eines neu zu schließenden Vertragsverhältnisses bei der BfA innerhalb eines Monats nach der Aufnahme der Tätigkeit eine für alle Sozialversicherungsträger verbindliche Statusentscheidung beantragen. Für den Fall, dass der Beschäftigte dem zustimmt und für den Zeitraum zwischen der Aufnahme der Beschäftigung und der Entscheidung eine Absicherung gegen das finanzielle Risiko von Krankheit und zur Altersvorsorge getroffen hat, die ihrer Art nach den Leistungen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung entspricht, tritt die Versicherungspflicht erst mit dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung ein. Entsprechend wird der Sozialversicherungsbeitrag auch erst in dem Moment fällig, in dem eine unanfechtbare Entscheidung der BfA vorliegt. Dabei ist wichtig, dass Widerspruch und Klage nach der neuen gesetzlichen Regelung aufschiebende Wirkung zukommt.
Bereits bestehendes Vertragsverhältnis
Hierbei wird die Versicherungspflicht erst nachträglich festgestellt (z.B. im Rahmen einer Betriebsprüfung), tritt die Versicherungspflicht ebenfalls erst ab der Bekanntgabe der Entscheidung ein, wenn der Beschäftigte dem zustimmt, für den Zeitraum zwischen der Aufnahme der Beschäftigung und der Entscheidung eine den oben genannten Grundsätzen entsprechende Absicherung getroffen hat und dazu die Beteiligten weder grob fahrlässig noch vorsätzlich von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen sind (§ 7 b SGB IV).
Arbeitsrecht
Grundsätzlich bedingt die Einordnung eines Beschäftigungsverhältnisses als sozialversicherungspflichtig nicht gleichzeitig, dass der Beschäftigte als Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsrechts gilt. Insbesondere können die Vermutungsregeln dort nicht angewandt werden. Das Arbeitsgericht entscheidet anhand der bisherigen Kriterien der Rechtsprechung über den Arbeitnehmerstatus.
Steuerrecht
Die Veränderungen der Verhältnisse können auch steuerliche Konsequenzen haben. Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben dann die neue Situation gegebenenfalls steuerlich nachzuvollziehen. Da dies Einzelfallbetrachtungen sind, empfiehlt es sich, einen Steuerberater hinzuzuziehen und sich mit dem zuständigen Finanzamt abzustimmen. Scheinselbständige müssen beachten, dass sie als Arbeitnehmer den lohn-/einkommenssteuerlichen Regelungen unterliegen und durch ihre Tätigkeit künftig keine Einnahmen aus Gewerbebetrieb mehr erzielen dürften. Darüber hinaus schuldet der vermeintliche Auftragnehmer gegebenenfalls die auf seinen bisherigen Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer nach § 14 Abs. 3 UStG, während ein Vorsteuerabzug für den Auftraggeber (der ja in diesem Fall wie ein Arbeitgeber zu behandeln ist) nicht in Betracht kommt. Aufgrund europarechtlicher Vorgaben ist jedoch eine Berichtigung der Steuerschuld möglich, soweit der Aussteller des Abrechnungspapiers die Gefährdung des Steueraufkommens beseitig hat. Hier sind zum weiteren Verfahren koordinierte Ländererlasse abzuwarten.
Für rentenversicherungspflichtige arbeitnehmerähnliche Selbständige hat die Änderung der Rahmenbedingungen keine steuerlichen Auswirkungen.
Gewerberecht
Mit der Feststellung der Scheinselbständigkeit endet zugleich die unternehmerische Tätigkeit für das betriebene Gewerbe. Das Gewerbe müsste abgemeldet werden. Damit endet auch die gesetzliche Zugehörigkeit zur Industrie- und Handelskammer sowie die gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der Berufsgenossenschaft.
Tipps: Vermeidung von Beitragsnachforderungen:
Bei neu zu schließenden Vertragsverhältnissen, durch Einleitung des Anfrageverfahrens.
Existenzgründer sollten sich innerhalb von drei Monaten nach der Aufnahme der Geschäftstätigkeit an die BfA wenden und einen Antrag auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht stellen. Wenn Unklarheiten über die Qualität eines Beschäftigungsverhältnisses bestehen, sollte innerhalb eines Monats ein Antrag auf Feststellung durch die BfA gestellt werden.
Existenzgründer sollten sich innerhalb von drei Monaten nach der Aufnahme der Geschäftstätigkeit an die BfA wenden und einen Antrag auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht stellen. Wenn Unklarheiten über die Qualität eines Beschäftigungsverhältnisses bestehen, sollte innerhalb eines Monats ein Antrag auf Feststellung durch die BfA gestellt werden.