Leitlinien des BWIHK zum Thema Wasserstoff

Relevanz für die baden-württembergische Wirtschaft

Der BWIHK begrüßt den politischen Willen der baden-württembergischen Landesregierung, Baden-Württemberg zu einem führenden Standort für Wasserstofftechnologien (nicht barrierefrei, PDF-Datei · 330 KB) zu entwickeln, ausdrücklich. Wasserstoff als Zukunftstechnologie eröffnet den baden-württembergischen Unternehmen neue Chancen und Geschäftsfelder. Langfristiges Ziel sollte die ausschließliche Nutzung von grünem Wasserstoff sein. Dies sichert die Wettbewerbsfähigkeit der Südwestwirtschaft und trägt zur Wertschöpfung des Landes bei. Damit birgt die Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie große wirtschaftliche Potenziale. Laut einer vom Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft BW in Auftrag gegebene Roland-Berger-Studie können baden-württembergische Unternehmen im Jahr 2030 einen Umsatz von bis zu 9 Milliarden Euro und eine Bruttowertschöpfung von bis zu 2,3 Milliarden Euro erwirtschaften. Damit können etwa 16.500 Arbeitsplätze einhergehen.

Wasserstoff als Rohstoff und Energieträger kann für Unternehmen zudem eine wichtige Schlüsseltechnologie auf dem Weg zur Klimaneutralität darstellen, denn die Bundesregierung und Europäische Union streben bis Mitte des Jahrhunderts Treibhausgasneutralität an. Die ambitionierten klimapolitischen Ziele stellen die baden-württembergischen Unternehmen vor große Herausforderungen und erfordern einen tiefgreifenden Umbau des Energiesystems. Unternehmen benötigen neben der Nutzung erneuerbaren Stroms und Erhöhung der Energieeffizienz weitere Optionen, um die CO2-Emissionen ihrer Geschäftstätigkeit zu reduzieren. Denn die CO2-Bepreisung hat einen erheblichen Einfluss auf die Energiekostenstruktur und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Besonders betroffen sind hiervon Unternehmen, deren Produktionsverfahren energieintensiv sind und deren Produkte oder Dienstleistungen zugleich unmittelbar oder mittelbar einem intensiven internationalen und europäischen Wettbewerb ausgesetzt sind.

Wasserstoff kann damit einen wichtigen Beitrag für den Klimaschutz leisten und den Industriestandort in Baden-Württemberg voranbringen. Mit Blick auf die vielen hochspezialisierten und renommierten Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau sowie Fahrzeugbau und führenden Forschungsinstitutionen im Bereich der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie verfügt Baden-Württemberg über eine hervorragende Ausgangslage, um den erwarteten nationalen und internationalen Markthochlauf der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie mitzugestalten und wirtschaftlich auch als Exporteur von Technologien und Anlagen von diesem zu profitieren. Damit diesen Unternehmen der Einstieg in die Wasserstofftechnologie erleichtert wird, sollten frühzeitig die hierfür notwendigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Infrastruktur geschaffen werden.

Infrastruktur

Grundvoraussetzung für die Entstehung eines wettbewerblichen Wasserstoffmarktes ist die Investitionsbereitschaft von Unternehmen. Prämisse sollte daher sein, wettbewerbliche Marktstrukturen zu fördern und für die Marktteilnehmer einen vorhersehbaren und fairen Rechtsrahmen für den Geschäftsverkehr zu schaffen. Damit der Transport von reinem Wasserstoff und dessen Speicherung schnellstmöglich zu einer real verfügbaren Option wird, müssen bereits heute die Infrastrukturen vorbereitet werden. Rechtliche Unsicherheiten bezüglich des Auf- und Ausbaus von Wasserstoffinfrastruktur sind in Anbetracht langer Vorlaufzeiten bei Infrastrukturmaßnahmen frühzeitig zu verringern, um den Markthochlauf nicht zu gefährden, beispielsweise durch Anpassung des Landesentwicklungsplans. Aufgrund der Eigenschaft von Wasserstoffnetzen als natürliche Monopole sollte der bestehende Regulierungsrahmen des Gassektors Anwendung finden. Dieser gewährt eine grundsätzliche Trennung der Erzeugung von leitungsgebundenen Energieinfrastrukturen und deren diskriminierungsfreien Zugang, sodass sich Innovationen und neue Produkte in der Energiewirtschaft entwickeln können. Auch die Gasinfrastruktur gilt es weiterzuentwickeln, um die Potenziale von Power-to-X zu erschließen. Entsprechend ist ein Rechtsrahmen für die Umstellung von Erdgas- in Wasserstoffnetze und die regulatorische Berücksichtigung der „H2-Readiness“ der Gasnetze zu schaffen. Die Bestimmung des Bedarfs an Infrastruktur, die aus- und neugebaut werden muss, sollte analog zu den Strom- und Gasnetzen über eine Bedarfsplanung erfolgen. Hierbei können dezentrale Erzeugungsstandorte in unmittelbarer Nähe zu Abnehmern den Infrastrukturbedarf minimieren.

Parallel zur Netzinfrastruktur bedarf es eines dualen Marktes, der den bilanziellen Bezug von CO2-neutralem Wasserstoff ermöglicht, da dieser vielerorts mangels Infrastruktur physisch vorerst nicht möglich sein wird. Das heißt Unternehmen können über diesen Markt mittels Bilanzkreisen und Herkunftsnachweisen zertifizierten CO2-neutralen Wasserstoff ohne physische Lieferung beziehen. Zum Beispiel kauft ein Unternehmen ein Zertifikat für klimaneutralen Wasserstoff, bezieht aber bis zum Anschluss an das Wasserstoffnetz weiterhin Erdgas. Verbraucht wird der Wasserstoff dann an anderer Stelle, beispielsweise im Verkehr. Auf diese Weise erhalten Unternehmen bereits CO2-neutralen Wasserstoff, bevor eine umfassende Netzinfrastruktur errichtet wurde, beispielsweise um ihre Klimaziele zu erreichen. Auch erfolgt der Netzausbau kundengetrieben und damit prioritär dort, wo bilanziell bereits genügend Bedarf vorhanden ist.

Herkunftsnachweise und eine international einheitliche technologieoffene Definition für CO2-neutrale Gase ebnen den Weg für einen effizienten und grenzüberschreitenden Wasserstoffhandel. Hierbei sollte sich die Einstufung von Wasserstoff als CO2-neutral an der CO2-Bilanz statt an der eingesetzten Technologie und der genutzten Rohstoffe orientieren. Ein gemeinsamer Ansatz in der Europäischen Union kann auf diese Weise zur Entwicklung eines europäischen Marktes für Wasserstoff beziehungsweise klimafreundliche Gase beitragen. Gleichzeitig sichert der Aufbau frühzeitiger strategischer Partnerschaften mit Exportländern das Angebot an Wasserstoff in Baden-Württemberg – dabei sollten sowohl der Standort als auch die Erzeugung genauer betrachtet werden. Denn aufgrund des hohen Industrialisierungsgrades und vergleichsweise geringen Potenzials an erneuerbaren Energien wird Baden-Württemberg zu den Nettoimporteuren zählen.

Erzeugung

Damit Wasserstoff für Betriebe in der Produktion oder zur Energiegewinnung attraktiv wird und die Verbreitung der Anwendungstechnologien zügig vorangetrieben wird, sollte der Markthochlauf kosteneffizient und nachfrageorientiert gestaltet werden. Zentrale Triebfedern hierbei sind die CO2-Bepreisung und Technologieoffenheit, sodass Wasserstoff preislich mit fossilen Alternativen konkurrieren kann. Das bedeutet, dass übergangsweise in der ersten Phase des Markthochlaufs auch konventionell beziehungsweise CO2-arm erzeugter Wasserstoff berücksichtigt werden sollte, um die für Erprobungszwecke erforderliche „kritische Menge“ schnellstmöglich zu erreichen. Insbesondere vor dem Hintergrund des derzeitigen und zu erwartenden Wasserstoffbedarfs in Baden-Württemberg, der aus Kosten- und Mengengründen mittel- bis langfristig nicht CO2-neutral hergestellt werden kann. Ansonsten besteht aus Sicht des BWIHK keine Möglichkeit, zeitnah eine Vielzahl an Anwendungsfeldern zu erschließen, vor allem im Bereich der industriellen und energetischen Nutzung. Auch verzögert dies die Dekarbonisierung und damit die Erreichung der klimapolitischen Ziele beispielsweise im Bereich der Hochtemperaturerzeugung, da alternative Technologien fehlen und die Nutzungsdauer solcher Anlagen in der Regel bis zu 20 Jahre beträgt.

Voraussetzung für den deutlichen Zubau an industriellen Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff sind zügigere und unbürokratischere Genehmigungsverfahren. Durch die vermehrte Herstellung von Produktionsanlagen lassen sich Skaleneffekte
erzielen und die Kapitalkosten senken. Mit zunehmender Anlagengröße werden die Herstellungskosten stärker durch die variablen Kosten, das heißt die Kosten für den erneuerbaren Strom, bestimmt. Damit die Herstellung von CO2-neutralem Wasserstoff deutlich günstiger wird, müssen die Stromgestehungskosten sowie Nebenkosten bei Windkraft- und Photovoltaikanlagen weiter sinken. Ferner bedarf es einer Anpassung des regulatorischen Rahmens, insbesondere des Steuer-, Umlage- und Abgabensystems, um international wettbewerbsfähig zu sein. Dieses sollte bei Umwandlungen von Energieformen keine zusätzliche Belastung darstellen und umfasst unter anderem die Reduzierung der Stromsteuer auf das europarechtlich zulässige Mindestniveau sowie die Befreiung jeder strombasierten Wasserstofferzeugung von der EEG-Umlage. Auf diese Weise wird der Sektorenkopplung Rechnung getragen und eine möglichst kostengünstige Produktion von Wasserstoff und synthetischen Kraftstoffen gewährleistet.

Nutzung in der Industrie

Baden-württembergische Industrieunternehmen investieren bereits massiv in die Umstellung ihrer Energieversorgung und Produktionsverfahren, um den Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die Verwendung von Wasserstoff als klimafreundlicher Energieträger und Rohstoff bietet vor allem der energieintensiven Industrie große Potenziale. Zum Beispiel können synthetische Kraftstoffe auf Basis von Wasserstoff in der Zementindustrie zur Treibhausgasminderung eingesetzt wer-den. Für die Verwendung in der Industrie sind Rahmenbedingungen notwendig, die Investitionsanreize setzen und Hemmnisse abbauen. Denn der Aufbau einer CO2-neutralen Wasserstoff-Wertschöpfungskette trägt zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen wie der Grundstoffindustrie bei, die wiederum die CO2-Bilanz nachgelagerter Wertschöpfungsketten beeinflussen. Darüber hinaus eröffnet die Brennstoffzellen- und Wasserstofftechnologie unter anderem neue Absatzmärkte im In- und Ausland für den Maschinen- und Anlagenbau sowie Fahrzeugbau und deren Zulieferern. Anpassungen der regulatorischen Rahmenbedingungen können durch die Einführung von Experimentierklauseln im Rahmen von Demonstrationsprojekten erfolgen. Konsistente Bepreisungssysteme wie der europäische Emissionshandel schaffen die Grundlage für einen effizienten Klimaschutz und Investitionsentscheidungen. Zusätzliche überlappende Maßnahmen konterkarieren hingegen die Wirksamkeit von CO2-Bepreisungsmechanismen.

Nutzung im Bereich Mobilität

Wasserstoff bietet im Verkehrssektor vielseitige Anwendungsfelder und kann einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der klimapolitischen Ziele leisten. Mit Hilfe der Brennstoffzellen lässt sich Wasserstoff effizient in elektrische Energie umwandeln (zum Beispiel in Pkw, Lkw, Bussen und Zügen). Auch kann Wasserstoff als Kraftstoff für Ver-brennungsmotoren eine Brückentechnologie beim Strukturwandel der Automobilwirtschaft darstellen. Unterschiedliche Anforderungen an die Antriebsleistung und Reichweite von Verkehrsmitteln erfordern einen Mobilitätsmix verschiedener Antriebstechnologien. Im Gegensatz zu batterieelektrischen Antrieben erfüllt die Brennstoffzelle zum Beispiel die Anforderungen von schweren Nutzfahrzeugen im Fernverkehr hinsichtlich der notwendigen Reichweite, Motorleistung und kurzen Betankungszeit, da schwere batteriebetriebene Lkw große Entfernungen nur mit Ladestopps schaffen. Aber auch für die Umstellung von Busflotten auf emissionsfreie Antriebe stellt die derzeit am Markt verfügbare Batteriekapazität die größte Herausforderung dar. Hier kann Wasserstoff als Energieträger eine wichtige Schlüsseltechnologie auf dem Weg zur Klimaneutralität darstellen. Neben der Elektromobilität kommen damit auch der Brennstoffzelle und synthetischen Kraftstoffen eine größere Bedeutung zu, zum Beispiel die Herstellung von E-Fuels für Flugzeuge und Schiffe. Dies gilt besonders für die Dekarbonisierung all jener Sektoren, die nicht direkt elektrifiziert werden können. Voraussetzung für eine breite Marktdurchdringung ist eine verbesserte Wirtschaftlichkeit der Technologie durch Skaleneffekte.

Analog zu den vorgenannten Bereichen sollte auch für den Verkehrsbereich ein technologieneutraler Ansatz verfolgt werden und Anreize für alternative Antriebe oder Kraftstoffe geschaffen werden, indem CO2-arme Kraftstoffe wie E-Fuels und CO2-armer Wasserstoff auf das Erneuerbare-Energien-Ziel im Verkehrssektor sowie auf die Treibhausgasminderungsquote und Flottengrenzwerte für Pkw und leichte Nutzfahr-zeuge angerechnet werden können sollen. Einseitige Verbote, Einschränkungen oder Verteuerungen wie die Diesel-Fahrverbote sollten hingegen vermieden werden. Darüber hinaus eröffnet ein dichteres Tankstellennetz eine breitere Anwendung von Wasserstoff im Verkehrssektor und beschleunigt den Markthochlauf.

Forschung und Weiterbildung

Derzeit sind Wasserstofftechnologien noch nicht wettbewerbsfähig und bedürfen Anreize und der Ausgestaltung eines Förderrahmens, der einen Markthochlauf unterstützt. Dazu zählen substanzielle Förderungen von Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Brennstoffzellen- und Wasserstofftechnologie. Denn wegweisende Forschungs- und Demonstrationsprojekte können entscheidend zur Vorreiterrolle und Innovationskraft des Landes beitragen. Auch können regionale Initiativen einen erheblichen Effekt auf die Marktdurchdringung entwickeln. Diese ermöglichen es, die Potenziale der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie sichtbar zu machen und eine wachsende Nachfrage sowie ein erhöhtes Interesse am Energieträger Wasserstoff auszulösen. Ebenso leisten Anschubfinanzierungen im Rahmen von Demonstrationsprojekten entlang der gesamten Wertschöpfungskette oder Pilotprojekten zur Technologieerprobung im Industriemaßstab einen wichtigen Beitrag zur Marktdurchdringung. Förderprogramme wie diese sollten entsprechend intensiviert werden.

Transparenz über geförderte Leuchtturm- und Forschungsprojekte sowie eine stärkere begleitende Vernetzung unterschiedlicher Modellregionen und enges Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Forschung fördert den Wissenstransfer und generiert SpilloverEffekte, die den Markthochlauf in Baden-Württemberg insgesamt beschleunigen. Zum Beispiel können Wasserstoff-Cluster den Aufbau einer nachhaltigen Wertschöpfungskette fördern, indem auch der exzellent aufgestellte Mittelstand die Möglichkeit erhält, sich mit seinem Know-how einzubringen. Zudem können im Rahmen der Cluster Gründungs- und Innovationszentren als Keimzelle für Neugründungen und Geschäftsmodelle dienen.

Parallel zum Markthochlauf müssen frühzeitig zusätzliche Forschungskapazitäten sowie Ausbildungs- und Studienplätze im Bereich der Wasserstofftechnologien geschaffen werden, um Fachkräfte auszubilden. Zusätzlich können wissensvermittelnde Projekte zur Wasserstofftechnologie und Anwendungen die Akzeptanz in der Bevölkerung steigern.