ERKLÄRUNG DER BERLINER WIRTSCHAFT

Jetzt gemeinsam Fachkräftelücke schließen!

Der Fachkräftemangel hemmt die Wirtschaft in Berlin zusehends. Schon heute fehlen 90.000 Fachkräfte. Bis 2035 könnten laut IHK-Fachkräftemonitor 414.000 Stellen in Berlin unbesetzt bleiben. Dies hat gravierende Folgen nicht zuletzt auch für die Versorgungssicherheit und Lebensqualität am Standort. Es bedarf daher dringend ein dezidiertes und konzertiertes Handeln von Politik und Wirtschaft, um der Fachkräftelücke entgegenzuwirken. Hierzu müssen alle Potenziale für den Arbeitsmarkt genutzt und die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft intensiviert werden. 

Potenziale des Arbeitsmarktes nutzen

Der Berliner Arbeitsmarkt hat sich zu einem Bewerberinnen- und Bewerbermarkt entwickelt. Um dem entgegenzuwirken, steht die Berliner Wirtschaft bereit, gemeinsam mit dem Berliner Senat und den Arbeitsagenturen folgende Potenziale zu heben:  
  • 53.000 Berlinerinnen und Berliner befinden sich laut der Bundesagentur für Arbeit in Aktivierungsmaßnahmen und der beruflichen Eingliederung. Mehr als 182.000 Personen sind in Berlin arbeitslos gemeldet. Insgesamt gilt es, diese Personen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu führen und marktgerechte Eingliederungsmaßnahmen voranzubringen. 
  • Über die Hälfte der Arbeitslosen verfügt über keinen Berufsabschluss. Hier sind Maßnahmen erforderlich, die zielgerichtet zum Berufsabschluss führen. Wie: Teilzeitausbildung, Nachqualifizierung, Anpassungsqualifizierung und andere geförderte betriebliche Weiterbildungen. 
  • 122.000 Berlinerinnen und Berliner gehen ausschließlich einer geringfügigen Beschäftigung nach. Die gewöhnliche Wochenarbeitszeit aller Erwerbstätigen liegt bei Vollzeiterwerbstätigen deutschlandweit bei 41,1 Stunden pro Woche. Potenziale bestehen daher bei den geringfügig Erwerbstätigen. 
  • 165 Stunden pro Jahr hat eine arbeitnehmende Person in Berlin noch vor 20 Jahren mehr gearbeitet (12,5 Prozent) – die geleisteten Arbeitsstunden pro arbeitnehmende Person sinken seit Jahren. Dies ist ein Grund dafür, dass die Arbeitsproduktivität in Berlin weiterhin deutlich unterhalb der der anderen Metropolen wie Amsterdam oder Paris liegt.   
  • Von 508.481 Teilzeitbeschäftigungen werden rund zwei Drittel von Frauen wahrgenommen. Die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Teilzeit zu Vollzeit bietet daher noch Potenzial, sofern die Erwerbstätigkeit von Frauen strukturell gestärkt wird.  
  • Weniger als die Hälfte der unter Dreijährigen (44,1 Prozent) besucht derzeit in Berlin eine Kita und ein Drittel der Berliner Familien sind Alleinerziehende. Durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine stärkere Berücksichtigung von Community Spaces in der Quartiersentwicklung ließe sich insbesondere die Erwerbsquote von Frauen sowie die Vollzeitquote insgesamt erhöhen.  
  • Zwei Drittel des Aufbaus der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gehen seit 2019 auf Menschen ohne deutschen Pass zurück (81.906 der zusätzlichen 125.999 Beschäftigten seit Juni 2019 waren ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer). Jede achte internationale Fachkraft kommt zudem im Rahmen der Fachkräfteeinwanderung in Berlin an. Migration ist schon heute zentral und sollte künftig noch stärker als Chance begriffen werden.  
  • Rund ein Drittel der älteren Beschäftigten nutzt bundesweit im mittleren Einkommenssegment die „Rente mit 63“. Bei der Beschäftigung von Personen über 55 Jahre belegt Berlin momentan den vorletzten Platz im Bundesvergleich (Beschäftigungsquote von 52,8 Prozent). Hier können Angebote zum Verbleib im Erwerbsleben Fachkräftepotenzial erschließen. 
  • Derzeit gibt es rund 200.000 Studierende in der Stadt. Davon kommt eine beträchtliche Zahl aus allen Teilen Deutschlands. Zudem steigt der Anteil ausländischer Studentinnen und Studenten, dies sind gut 46.000. Diese sollten frühzeitig angesprochen werden, um möglichst viele nach dem Studium langfristig in der Hauptstadt zu halten.  
  • Von derzeit 8.000 Personen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung schafft jährlich nur rund ein Prozent den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt. Um hier Erwerbspotenzial stärker zu nutzen, muss besser auf Fördermöglichkeiten hingewiesen und die Transferkultur gestärkt werden.  

Wirtschaft baut Maßnahmen aus!  

Die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Berlin ist prioritär von der Verfügbarkeit von qualifizierten Fachkräften sowie zweitrangig von der Verfügbarkeit von Arbeitskräften für Basis-arbeiten abhängig. Hierfür ergreift die Wirtschaft folgende Maßnahmen:
Die Wirtschaft erhöht ihre Ausbildungsaktivitäten und wird es weiter tun: Die IHK verzeichnet aktuell mehr als 19.400 aktuelle IHK-Ausbildungsverhältnisse. Mit 7.700 betrieblichen Neuverträge ist das ein Plus von knapp 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit liegt die IHK inzwischen fast auf Vorkrisenniveau. Auch die Berliner Handwerksbetriebe schlossen im vergangenen Jahr mehr neue Ausbildungsverträge ab als noch ein Jahr zuvor. Insgesamt werden im Berliner Handwerk derzeit rund 8.800 junge Menschen ausgebildet. 
Die Berliner Wirtschaft investiert in Berufsorientierung, zum Beispiel durch den Aufbau des Talente Checks Berlin, das Projekt Ausbildungsbotschafterinnen und -botschafter sowie die Organisation verschiedener Praktikumsformate im Rahmen der Praktikumswoche 2023 mit den Berliner Arbeitsagenturen. 
Zum Berufseinstieg für Geflüchtete veranstalten IHK und Handwerkskammer gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Jobmessen. 2022 kamen mehr als 100 Unternehmen sowie insgesamt mehr als 2.500 Besucherinnen und Besucher. Darüber hinaus finanziert die Wirtschaft berufsbegleitende Sprachkurse für Ukrainerinnen und Ukrainer. Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) engagiert sich mit seinem Projekt „Einstieg zum Aufstieg“ in der Vermittlung von Menschen mit Fluchtgeschichte in den Berliner Arbeitsmarkt. Die Architektenkammer Berlin bietet den Lehrgang „Fachdeutsch für Architektinnen und Architekten“. 2022 startete eine Beratungshotline zur Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen als Kooperationsprojekt von Wirtschaft und Verwaltung.  
Die Berliner Betriebe schaffen mehr inklusive Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze – plus 20 Prozent seit 2010 – und fördern Menschen mit Schwerbehinderung. Darüber hinaus arbeiten sie aktiv an der Schließung des Gender Pay Gaps. Schon heute ist die Lohnlücke in Berlin mit nur noch 10 Prozent (eine Verringerung um 29 Prozent seit 2015) deutlich geringer als im Bundesschnitt.  
Mit Maßnahmen wie flexiblen Arbeitszeiten, -orten oder der Übernahme von Kitagebühren stärkt die Wirtschaft die Attraktivität und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Darüber hinaus werden künftig weitere Plätze zur betrieblichen Kinderbetreuung in Kooperation mit etablierten Trägern geschaffen. Die Wirtschaft wird zudem neue Arbeitsmodelle erproben. Um die Auswirkungen des Fachkräftemangels und das Engagement der Betriebe flächendeckend zu eruieren, werden die beteiligten Verbände in diesem Jahr eine Umfrage zur Situation und zu den Auswirkungen des Fachkräftemangels in Berliner Betrieben durchführen.  
Gemeinsam mit den Berliner Arbeitsagenturen wird die Berliner Wirtschaft Projekte erproben, um die oben genannten Potenziale auf dem Arbeitsmarkt zu erschließen und sowohl für Arbeitssuchende als auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Unterstützungsprozesse zu identifizieren und zu initiieren. 

Bessere Rahmenbedingungen durch richtige politische Hebel!  

Federführung bei Fachkräftesicherung zentralisieren: Fachkräftesicherung ist von Arbeit, Mobilität, Wirtschaft über Wohnungsbau bis Bildung in mindestens fünf Verwaltungen angedockt. Die Wirtschaft erwartet vom neuen Berliner Senat einen strategischen Rahmen, der die gesamte Fachkräftesicherung in den Blick nimmt. Um künftig besser steuern zu können, schlägt die Wirtschaft eine zentrale Ansprechstelle für Fachkräfte und ein besseres datenbasiertes Fachkräftemonitoring zum Beispiel über den Verbleib von Studienabsolventen der Berliner Hochschulen vor. 
Durch Zuwanderung langfristige Lücken schließen: Um die bundesweite Weiterentwicklung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes zu flankieren, sollten beim Landesamt für Einwanderung insge-samt 60 neue Stellen eingerichtet werden. Langfristig sollte der Business Immigration Service (BIS) zu einem zentralen Welcome Center für Fachkräfte ausgebaut werden, in dem alle Aktionen zur Einwanderung gebündelt werden. Ergänzend sollten digitale Willkommensangebote zur Verfügung gestellt werden. Um weiter als internationale Start-Up-Metropole zu bestehen, sollte das Land bereits vorhandenen Services für einwandernde Entrepreneure als „Berlin Tech Visa" vermarkten.  
Schulqualität und Berufsorientierung bis zur Ausbildung verbessern: Die (Jugend-)Arbeitslosigkeit könnte nachhaltig reduziert werden, wenn Berlin die Zahl der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher senkt, die Kompetenzen der Jugendlichen in Mathematik sowie in Deutsch verbessert und eine verbindliche Berufsorientierung für alle Schulen einführt, welche durch die Berliner Wirtschaft unter anderem mit Angeboten für Praktika unterstützen wird. Idealerweise startet die berufliche Orientierung bereits in der Grundschule wie bei dem Programm „Berliner Schulpate“ der Handwerkskammer. Ebenfalls unterstützen die 2000 ehrenamtlichen „Berliner Lesepaten“, die der VBKI mobilisiert und koordiniert, um Berlins Kindern und Jugendlichen neben dem Unterricht zusätzlich zu fördern. Darüber hinaus sollte die berufsbezogene Sprachförderung an den Berliner Oberstufenzentren praktikabel ausgebaut werden. 
Matching-Probleme reduzieren: Die Wirtschaft plädiert dafür, dass der Senat alle Arbeitsmarkt-maßnahmen der Jobcenter und Agenturen für Arbeit auf den Prüfstand stellt und auf Wirksamkeit prüft. Ziel muss sein, dass mehr Personen aus der Arbeitslosigkeit in den ersten Arbeitsmarkt reintegriert werden. Zudem müssen verbindlich Termine mit den Jugendlichen vereinbart und durchgeführt werden. Wirksame Berufsorientierung muss an allen Berliner Schulen (inkl. Gymnasien und Berufsschulen) mit entsprechenden Mindeststandards, konkreten Vermittlungsvorschlägen und bedarfsorientiertem Coaching im Bewerbungsprozess angeboten werden. 
Weiterbildung vorantreiben: Lange hat sich das Land Berlin hinter der Zuständigkeit des Bundes für Weiterbildung versteckt. Ziel sollte sein, dass die abgerufene Bundesmittel zur Förderung der beruflichen Weiterbildung wie das Qualifizierungschancengesetz bis Ende der Wahlperiode um ein Viertel ansteigen. Die Qualifizierung von Beschäftigten ist zentral, da laut OECD fast jeder zweite Arbeitsplatz in Berlin aufgrund von Automatisierung vor erheblichen Veränderungen steht.  
Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss stimmen: Eine quantitative und qualitative Aufwertung der Kinderbetreuung und Pflege Angehöriger würde gerade Frauen veranlassen, Arbeitszeit auszubauen. Um allen Berlinerinnen und Berlinern zeitnah die Möglichkeit einer höheren Erwerbsbeteiligung zu geben, fordert die Wirtschaft die Schaffung von 10.000 Kitaplätzen bis zum Ende dieser Wahlperiode. Um die hierfür benötigten zusätzlichen Fachkräfte zu gewinnen, empfiehlt die Wirtschaft dem Land ein Anreizsystem, um etwa durch die Einführung eines für zwei Jahre kostenlosen ÖPNV-Tickets für Kita-Fachkräfte eine zusätzliche Motivation für die Aufnahme einer Beschäftigung zu schaffen.  
Beschäftigung von Älteren steigern: Die zum 1.1.2023 in Kraft getretenen Änderungen zur Abschaffung der Zuverdienstgrenzen für Rentnerinnen und Rentner wird von der Wirtschaft als wirksames Mittel zur Attraktivitätssteigerung der Erwerbstätigkeit neben dem Rentenbezug begrüßt - schon jetzt steigt der Anteil der erwerbstätigen Rentner deutlich. 
Mehr neue Wohnungen für mehr neue Fachkräfte: Es bleibt dringend erforderlich, dass neuer und bezahlbarer Wohnraum in Berlin für zugezogene Fachkräfte geschaffen wird. Laut PWC beklagen rund zwei Drittel der Beschäftigten, dass die Mietpreise in Berlin zu hoch sind und es zu wenige freie Wohnungen gibt. Stärkungen und Erleichterungen des Wohnungsneubaus sind daher zwingend kurzfristig umzusetzen. Konzepte zur Förderung der nachbarschaftlichen Gemeinschaft können außerdem Lücken im Care-System auffangen und sollten innerhalb der Quartiersentwicklungen mitgedacht werden.   

Die Fachkräftelücke lässt sich nur gemeinsam schließen!  

Antworten auf den Fachkräftemangel in der Berliner Wirtschaft zu geben, ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Schließlich riskiert der Standort Berlin mit unbesetzten Stellen nicht nur Stilllegungen und Wegzüge von Betrieben, sondern auch, dass die kritische Infrastruktur und Versorgung der Bürgerinnen und Bürger nicht sichergestellt sind. Weichen, die heute nicht gestellt werden, werden morgen gravierende Folgen haben. Politik und Wirtschaft müssen diese Verantwortung annehmen, gemeinsam an Lösungen arbeiten und diese jetzt umsetzen!