Agenda

Bündel von Anstrengungen

Zu Gast bei der IHK: Die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, ließ keinen Zweifel daran, dass die Fachkräftesicherung eine Herkulesaufgabe ist.
Der Fachkräftemangel ist bundesweit eines der größten Probleme für die Wirtschaft. So auch in Berlin. Derzeit fehlen den Unternehmen in der Hauptstadt rund 90.000 gut ausgebildete Menschen, im Jahr 2035 werden es fast 400.000 sein. Darauf verwies IHK-Präsident Sebastian Stietzel beim Wirtschaftspolitischen Frühstück mit Andrea ­Nahles. Stietzel und rund 200 Unternehmerinnen und Unternehmer wollten deshalb bei der Veranstaltung im Ludwig Erhard Haus von der Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit (BA) wissen, welche Lösungen es geben könnte.
Nahles machte anhand vieler Fakten schnell klar, dass sich der Fachkräftemangel und andere Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht mit ein oder zwei Maßnahmen beheben lassen. Vielmehr bedürfe es eines ganzen Bündels von Anstrengungen, die Wirtschaft für die Zukunft personell gut auszustatten. Dabei seien die Rahmenbedingungen gegenwärtig alles andere als rosig. Zum einen steige die Arbeitslosigkeit, andererseits verschärfe sich der Mangel an Fachkräften. Zudem bremse die Inflation die Bereitschaft der Betriebe, Personal einzustellen, insbesondere im Bereich der Helferstellen. Gerade deshalb unternehme die Bundesagentur für Arbeit zusätzliche Anstrengungen, die Lage zu verbessern. Aber: „Ich mache die Gesetze nicht, ich setze sie um“, bremste ­Nahles überzogene Forderungen.
Das gilt zum Beispiel für die Anwerbung von Fachkräften aus Drittstaaten, ein Terrain, das die BA erst seit Kurzem auch international beackern darf. Hier plädierte die BA-Chefin dafür, Bürokratie zurückzufahren, Prozesse zu vereinfachen und zu digitalisieren. Es könne nicht sein, dass ihre digitalisierte Behörde mit den Ausländerämtern etlicher Kommunen per Fax kommuniziert. Dies sei „real existierende Satire“. Wie notwendig hier Fortschritte seien, verdeutliche die Tatsache, dass die steigenden Beschäftigtenzahlen in Deutschland allein ausländischen Beschäftigten ohne deutschen Pass zu verdanken seien. Die Schilderungen von Nahles wurden auch von Veranstaltungsteilnehmern bestätigt. Der Vorstand der Berliner Krankenhausgesellschaft, Marc Schreiner, verwies darauf, dass es im Schnitt 17 Monate dauert, bis der Berufsabschluss einer angeworbenen ausländischen Pflegekraft bestätigt ist und die Person arbeiten darf.
Aber auch auf anderen Feldern sieht die BA-Chefin dringenden Handlungsbedarf. Dieser beginnt schon in den Schulen und Elternhäusern. Es müsse gelingen, mehr junge Leute in Ausbildung zu bringen. Unter den Ungelernten gebe es eine Arbeitslosenquote von 19,8 Prozent, so Nahles. Bei Personen mit Abschlüssen seien es 2,8 Prozent. Und Potenzial gebe es auch bei Studierenden, von denen im Durchschnitt 28 Prozent ihr Studium abbrechen, bei den sogenannten MINT-Fächern sogar 45 Prozent. Die BA versuche, mit diversen Projekten gegenzusteuern – von digitalen Elternabenden zur Berufswahl über Praktika-Kampagnen, Messen und Matching-Börsen. Speziell für Frauen mahnte Nahles von den Unternehmen mehr Flexibilität an. Wünschenswert wäre es, wenn die Betriebe es Frauen initiativ ermöglichen würden, 30 statt wie so oft 20 Wochenstunden zu arbeiten.

„Anreizsysteme“ für ältere Fachkräfte

Potenzial für den Fachkräftemarkt sieht Nahles auch bei der älteren Generation. Das reale Renteneintrittsalter habe sich stetig erhöht, auf nunmehr durchschnittlich 64,2 Jahre. Gegenwärtig würden 1,3 Millionen Menschen nach ihrem Renteneintritt noch freiwillig arbeiten, davon eine Million sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Hier müsse es weitere „Anreizsysteme“ geben, forderte die BA-Chefin. Denn eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters würde nicht automatisch zu mehr Beschäftigung führen.
Vor dem Hintergrund der von ­Nahles geschilderten Arbeitsmarktprobleme verwies IHK-Hauptgeschäftsführer Jan Eder auf die Anstrengungen der Berliner Wirtschaft, ausreichend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu ­stellen. Inzwischen gebe es viel mehr Ausbildungsplätze als potenzielle Bewerber, betonte er. Es gebe für einige Berufe aber keine Nachfrage. Dass der Berliner Senat dennoch über eine Ausbildungsplatzabgabe nachdenkt, sei nicht nachvollziehbar. Die BA-Chefin sagte dazu, Unter- ­nehmen sollten auch Bewerbern eine Chance geben, die auf den ersten Blick nicht ins Profil ­passen. Am „Matching“ – der Besetzung einer Stelle mit dem passenden Bewerber – müsse gearbeitet werden.
Von Holger Lunau