FOKUS

Grenzgänger

Bewegte Zeiten für exportorientierte Unternehmen: Um sich gegen internationale Krisen zu wappnen, suchen sie neue Märkte und Kooperationen. Die IHK Berlin hilft ihnen dabei.
Wenn Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey über Berlins Exporte spricht, darf eine Zahl nicht fehlen: Die hiesigen Industrieunternehmen erwirtschaften gut 45 Prozent ihres Umsatzes im Ausland. Das zeigt, wie wichtig die Ausfuhren für eine florierende Wirtschaft sind. Doch die schwierige Gesamtlage seit Ausbruch der Corona-Pandemie, seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und den damit verbundenen Auswirkungen auf die internationalen Lieferketten hinterlassen auch Spuren in der Außenhandelsbilanz. Im ersten Halbjahr 2023 sanken die Ausfuhren laut Amt für Statistik leicht um 0,4 Prozent auf 8,1 Mrd. Euro, während die Einfuhren in die Hauptstadt um 18,2 Prozent auf 9,9 Mrd. Euro kletterten. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr hatten die Exporte noch um rund vier Prozent zugelegt und die Importe um nahezu zehn Prozent.
Das dicke Plus bei den Einfuhren erklären Experten vor allem mit dem hohen Konsum der Berliner und dem weiter anhaltenden Zuzug. Im Sommer vermeldeten die Statistiker einen neuen Höhepunkt bei der Einwohnerzahl. 3,87 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner waren zum Stichtag 30. Juni dieses Jahres mit Hauptwohnsitz in der Stadt gemeldet. Das waren noch mal knapp 15.580 Menschen mehr als am 31. Dezember 2022.
Unter Berlins Außenhandels- partnern sind vor allem die USA und die EU-Märkte Zugpferde. „Die USA entfalten mit ihren Konjunkturprogrammen eine wirtschaftliche Dynamik, die sich bei den Ein- und Ausfuhren der Berliner Unternehmen positiv niederschlägt“, heißt es in einer Halbjahresbilanz der IHK Berlin. In Europa sind Polen und Italien mit jeweils zweistelligen Steigerungen Wachstumstreiber. Auf der Verliererseite steht China, hinter den USA zweitwichtigstes Abnehmerland. Nach steilen Zuwächsen in den Vorjahren gingen die Exporte in den ersten sechs Monaten gegenüber dem Vergleichszeitraum 2022 erstmals wieder zurück – um knapp 14 Prozent. Die Lage in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt ist nach Ende der Null-Covid-Politik noch sehr durchwachsen, vor allem wegen der Krise auf dem Immobilienmarkt, schwachen Exporten und einem niedrigen Konsum.

Exportschlager Motorrad

Zu den wichtigsten Exportgütern Berlins zählen laut Investitionsbank Berlin pharmazeutische Erzeugnisse, Fahrzeuge – darunter BMW-Motorräder aus Spandau – sowie Geräte zur Elektrizitätserzeugung und -verteilung. Wichtige Importgüter sind Datenverarbeitungsgeräte sowie elektronische und optische Erzeugnisse.
Leichter wird es für die Unternehmen nicht. Die seit Sommer 2022 stetig und deutlich gestiegenen Zinsen, die Investitionen und die Wirtschaftstätigkeit insgesamt bremsen, das Wegbrechen von Märkten wie Russland, die angespannte Lage in China, aber auch neue Gesetze wie das am 1. Januar 2023 in Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) stellen die Wirtschaft vor große Herausforderungen. Ziel des neuen Gesetzes ist es, den Schutz der Umwelt sowie der Menschenrechte entlang globaler Lieferketten zu verbessern. Bislang betrifft das LkSG zwar nur Firmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten. Von 2024 an gilt es aber schon ab einer Schwelle von 1.000 Mitarbeitern, sodass dann insgesamt 3.500 Firmen in Deutschland direkt betroffen sind. Indirekt gehören allerdings häufig auch kleinere Unternehmen dazu, die von ihren Großkunden aufgefordert werden, bei den Transparenzpflichten mitzuwirken. Und die EU plant, die Grenze auf 500 Angestellte zu senken. Stammt mindestens die Hälfte des Umsatzes aus Risiko- branchen wie Textil oder Metall, soll die Beschäftigtengrenze sogar noch einmal auf die Hälfte fallen. Spätestens dann ist das LkSG mittendrin im deutschen und im Berliner Mittelstand.
Für IHK-Präsident Sebastian Stietzel steht fest: „Trotz ihrer internationalen Erfolge ist unsere mittelständisch geprägte Wirtschaft gezwungen, sich an die neuen Realitäten anzupassen, neue Märkte und Kooperationen zu erschließen und sich insgesamt breiter aufzustellen im Auslandsgeschäft.“ Mit vielen Angeboten unterstützt die IHK Berlin ihre Mitglieder dabei, dieser Herausforderung gerecht zu werden. Dazu gehört der Austausch auf der jährlichen Außenwirtschaftskonferenz Berlin-Brandenburg mit Experten und rund 200 Teilnehmenden aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Das Event organisiert die Kammer gemeinsam mit den IHKs in Brandenburg.
Um einen wirtschaftspolitischen Kompass für den künftigen Umgang mit dem wichtigen Handelspartner China bereitzustellen, hat die Bundesregierung im Sommer dieses Jahres erstmals eine ressortübergreifende, umfassende China-Strategie beschlossen. Die IHK Berlin hat deshalb eine neue Website eingerichtet, die den Mitgliedern eine solide Informations- und Kontaktbasis sowie politische Orientierungshilfen durch EU, Bund und Land bieten soll, um Perspektiven im und mit dem Reich der Mitte ausloten zu können. Auch Delegationsreisen nach China wie zuletzt im Juni und Anfang November dieses Jahres sollen die Berliner Wirtschaft unterstützen.
Gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie der Berlin Partner für Wirtschaft und Technologie GmbH erkundet die IHK Berlin zudem weniger erschlossene Märkte. Im September dieses Jahres ging es deshalb nach Indonesien, wo neben der Eröffnung des Future City Hubs in Jakarta vor allem die Förderung von Wirtschafts-/Unternehmenskooperationen, die Entwicklungszusammenarbeit sowie die Vertiefung der Städtepartnerschaft Berlin-Jakarta auf der Agenda standen. Darüber hinaus sollte die Smart City Jakarta Impulse, Innovationen und aktuelle Entwicklungen für Berliner Unternehmen und Politik aufzeigen. Mit der weltweit viertgrößten Bevölkerung von 273 Millionen Menschen ist das Land von hohem wirtschaftlichem Interesse für Auslandsinvestitionen. Zu den Pluspunkten zählt auch die vorteilhafte Altersstruktur: Das Medianalter lag 2022 gerade einmal bei 29,7 Jahren.

Politik soll Chancen eröffnen

Sonja Jost, Geschäftsführerin und Mitgründerin des Start-ups für grüne Chemie DexLeChem sowie Vizepräsidentin der IHK Berlin, unterstreicht: „Die Berliner Wirtschaft stellt ihre Lieferketten neu auf, um nach den Corona-Jahren und wegen des Ukraine-Krieges ihr Auslandsgeschäft resilienter gegen internationale Krisen und Lieferengpässe zu machen. Von der Politik in der EU, im Bund und im Land Berlin brauchen die Berliner Unternehmen eine gleichsam stabilisierende und Chancen eröffnende Außenwirtschafts- und Handelspolitik, um angesichts der Transformationen auf den Weltmärkten bestehen zu können.“ Dafür müssten Hemmnisse im Außenhandel abgebaut und die EU-­Freihandels- abkommen mit Zukunftsregionen endlich zum Abschluss gebracht werden. Auch der Senat müsse seine Internationalisierungsstrategie und sein Förderprogramm für die Außenwirtschaft neu ausrichten.
„Berlin hat das Potenzial, mit seiner vielfältigen Unternehmenslandschaft sowie als relevanter Tech-Standort zu einer internationalen Marke für nachhaltige Transformation durch Innovation entwickelt zu werden“, so Jost weiter. „Wenn die Berliner Unternehmen erfolgreich ihre Produkte und Lösungen für nachhaltiges Wirtschaften in die Welt transferieren, leisten sie damit einen Beitrag zu den globalen Nachhaltigkeitszielen und gewinnen neue Geschäftspotenziale.“ Daraus resultiere eine Win-win-Situation für die Welt  und die Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts.
Von Eli Hamacher