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Mit Abi in die Ausbildung

Der Ausbildungsmonitor 2023 zeigt, dass in Berlin manches anders ist als im Bund. Im Interview erläutert Bildungsforscher Dr. Dieter Dohmen die Ergebnisse.
Der Ausbildungsmonitor 2023 untersucht die Entwicklung der Zahl der Ausbildungsverhältnisse in den letzten zehn Jahren und zieht Schlussfolgerungen für die Bildungschancen junger Menschen in Deutschland. Dabei geht es vor allem auch um die Frage, wie die duale Ausbildung attraktiver werden kann und wie die Weichen dafür bereits in der Schule gestellt werden können.
Die von Dr. Dieter Dohmen, Direktor des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie, und seinem Team vorgelegten Ergebnisse für Deutschland und Berlin zeigen, dass die Zahl der Ausbildungsverträge in den letzten zehn Jahren zurückgegangen ist (Bund -12,5 Prozent, Berlin -6 Prozent). Wie die Auswertung der IHK Berlin erfreulicherweise zeigt, ist die Corona-Delle überwunden und die Vertragszahlen der betrieblichen Ausbildung steigen seit 2021 wieder.
Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet hinsichtlich der gemeldeten betrieblichen Stellen in Berlin einen kontinuierlichen Anstieg von 10.012 im Jahr 2009 zu 15.917 im Jahr 2019 (Ausnahme 2017:-1,6 Prozent).  In Berlin konnte die schulische Ausbildung dagegen ein Plus von 17 Prozent verzeichnen (Bund + 1 Prozent).  Bei den Abiturienten erfährt besonders die Duale Berufsausbildung einen Zuwachs. Knapp die Hälfte eines Abiturjahrgangs (55 Prozent) strebt eine berufliche Ausbildung an (Bund 47 Prozent).
Anders sieht es bei den Schulabgängern mit Hauptschulabschluss (in Berlin: Berufsbildungsreife) aus: Hier sind die Übergangsquoten (ÜGO) sowohl in die Duale als auch in die schulische Ausbildung deutlich gesunken. 2021 betrugen sie jeweils 45 Prozent und 36 Prozent in Berlin (Bund: 68 und 20 Prozent). Bei Schulabgängern mit mittlerem Schulabschluss betrugen die ÜGO in die Duale Berufsausbildung 2021 in Berlin 40 Prozent und in die schulische 62 Prozent (Bund: 68 Prozent und 20 Prozent). Die niedrigsten ÜGO verzeichnen die Schulabgänger ohne Abschluss. Diese lagen in Berlin bei 27,3 Prozent und im Bund bei 30 Prozent im Jahr 2021.
von Yvonne Meyer
Über die Ergebnisse des Ausbildungsmonitors haben wir mit Dr. Dieter Dohmen gesprochen. Er ist auch Mitglied im Ausschuss „Bildungsstarke Stadt“ der IHK Berlin.

Berliner Wirtschaft: Herr Dr. Dohmen, welche wesentlichen Unterschiede zwischen Berlin und Bund haben Sie festgestellt?

Dr. Dieter Dohmen: Die Gesamtzahl der beruflichen, also der dualen und schulischen Ausbildungsverträge in Berlin, ist über die letzten knapp 15 Jahre um rund zehn Prozent gesunken, bundesweit waren es fast 20 Prozent. Konkret: Von 32.000 Verträgen 2007 ging es runter auf 30.000. In der Zeit der Pandemie wurden noch mehr als 28.000 Verträge unterschrieben. Während die Zahl der Ausbildungsverträge im dualen System von 22.000 auf unter 14.000 sank, zeigt sich in der schulischen ein Anstieg von 10.000 auf fast 15.000 – auch dies ist ein Unterschied. Das schulische Ausbildungssystem ist in Berlin somit mittlerweile größer als das duale! Dies führt zu einer starken Konkurrenz zwischen beiden Teilbereichen, vor allem bei Jugendlichen mit MSA. Und gerade hier hat das schulische System die Nase vorn.

Welche Rolle spielte die Pandemie bei der Entwicklung der Vertragszahlen?

In Berlin lagen sie zuletzt zumindest in einigen Branchen wieder annähernd auf dem Vor-Corona-Niveau. Während der Pandemie ist in Berlin die Zahl der neuen Ausbildungsverträge im dualen System um fast 2.000 auf unter 14.000 abgesunken und im schulischen Bereich weiter angestiegen. Auch wenn es vereinzelt positive Entwicklungen beziehungsweise ein Aufholen gab, bleiben die langfristigen Trends bestehen – und hier hat das duale System keine derzeit allzu guten Karten. Das dürfte aber auch an der Wirtschaftsstruktur liegen, die weniger auf berufliche Ausbildung als auf Akademikerinnen und Akademiker setzt.

Ist möglicherweise auch ein Hauptschulabschluss im süddeutschen Raum mehr wert?

Die Schul- und Ausbildungsstrukturen in den Ländern sind schwer vergleichbar, was für Bayern gilt, gilt in Baden-Württemberg noch lange nicht. Und eine Metropole wie Berlin ist mit dem sehr ländlich geprägten Bayern nicht vergleichbar, schon der Anteil an Migrantinnen und Migranten ist in Berlin deutlich höher. Baden-Württemberg hat gerade einen Absturz beim IQB-Bildungstrend hinter sich. Bayern hat ein Ausbildungssystem, in dem Jugendliche mit Hauptschulabschluss sehr gute Chancen haben, Absolventen mit Abitur aber weniger vertreten sind. In Berlin ist es umgekehrt: Hier liegt der Anteil an Abiturientinnen und Abiturienten, die eine berufliche Ausbildung beginnen, bei etwa 55 Prozent, das heißt, rechnerisch geht mehr als die Hälfte des Abiturientenjahrgangs in berufliche Ausbildung. In Baden-Württemberg sind es zehn Prozentpunkte, in Bayern gar 20 Punkte weniger.

Muss man also nicht eigentlich die Schulen ­besser machen, vor allem in Berlin?

Ganz grundsätzlich: Natürlich haben zu viele Jugendliche am Ende der Schulzeit unzureichende Kompetenzen in Lesen, Schreiben, Rechnen. Wir haben unser Schulsystem verkommen lassen, und nun kriegen wir – nicht nur in Berlin – die Quittung dafür. Das wirft natürlich die Frage auf, was in Kita und Schule anders werden muss, damit sich das nachhaltig verändern kann. Mögliche Lösungsansätze lassen sich aber nicht in drei Sätzen formulieren. Aber ein wichtiger Punkt ist dabei, dass die Schulen mehr Freiheiten bekommen, den Unterricht so zu gestalten, dass ihre Schülerinnen und Schüler die wichtigsten Dinge auch lernen können. Mit Frontalunterricht im Stundentakt ist das nicht zu schaffen. Und: Alle Kinder müssen in die Kita!

Unternehmen suchen händeringend Auszubildende und hören oft, dass sie auch schwächeren Bewerbern eine Chance geben sollen – für die aber in vielen Fällen die Berufsschule ein Problem ist. Muss die Politik eine Reform des Berufsschulsystems vorantreiben?

Und gleichzeitig hätten viele Jugendliche gerne einen Ausbildungsplatz, finden aber keinen! Die beiden Welten der Unternehmen und der Jugendlichen liegen zunehmend weiter auseinander. Das Reden über „Mismatch“ oder Passungsprobleme verdeckt die tiefer liegenden Herausforderungen – hier braucht es eine fundierte, differenzierte und ehrliche Analyse und keine weiteren Oberflächenanalysen. Und ja, wir brauchen auch in den Berufsschulen Veränderungen, wo sich die veralteten Lehr- und Lernformen der allgemeinbildenden Schulen ebenso fortsetzen wie der Lehrermangel. Und wie in den anderen Schulen müssen wir auch hier der zunehmenden Heterogenität gerecht werden.  
Dr. Dieter Dohmen hat vor 30 Jahren das FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie gegründet. Auch sonst engagiert er sich für das Thema, etwa im IHK-Ausschuss „Bildungsstarke Stadt“