BW 03/2022 - BRANCHEN

Himmlische Aussichten

Berlin zählt zu den Hotspots für Weltraumtechnik, die immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ein Geschenk des Himmels also für die Forschung – und die Wirtschaft
Mondfahrzeuge, Raketenantriebe oder Kleinsatelliten: Unternehmen und Forschungseinrichtungen aus Berlin erobern mit visionären Ideen den Weltraum. Dazu zählt die Planetary Transportation Systems GmbH (PTS) aus Alt-Hohenschönhausen. PTS verfolgt das Ziel, mit modernster Elektronik und Software die Kosten für die Nutzung des Weltalls drastisch zu senken.
Dabei unterstützt das Unternehmen große Raumfahrtprogramme als Zulieferer, plant aber auch eigene kommerzielle Missionen ins All. Momentan fokussiert sich PTS auf einen Großauftrag der europäischen Raumfahrtagentur Esa: die Fertigstellung der kompletten Bordelektronik und das Betriebssystem der Astris genannten Kick Stage des Programms „Ariane 6“. Die Kick Stage ist eine zusätzliche Raketenstufe, die es der Trägerrakete Ariane 6 ermöglicht, mehrere Nutzlasten sehr effizient in unterschiedlichen Orbits abzusetzen oder Satelliten mit einem Direkteinschuss in den Zielorbit zu bringen.

Standort mit exzellentem Ruf

Nicht nur dieses Beispiel zeigt: In der Raumfahrtwirtschaft steckt viel Potenzial für Wachstum und Beschäftigung. Das liegt unter anderem daran, dass satellitenbasierte Daten überhaupt erst die Voraussetzungen für Zukunftstechnologien wie Smart Farming, autonomes Fahren oder die Industrie 4.0 schaffen. Eine Studie im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) aus dem vergangenen Jahr sieht Berlin als einen der bundesdeutschen Hotspots in diesem Bereich. Insgesamt sorgen mehr als 70 Unternehmen und Forschungseinrichtungen in der Hauptstadt bereits heute für einen exzellenten Ruf des Standortes. Gerade die zunehmende Kommerzialisierung der Raumfahrt und ihre Vernetzung mit der Nicht-Raumfahrt-Industrie, genannt New Space, eröffnet den vielen kleinen und mittleren Unternehmen vielfältige Chancen, ist auch die IHK Berlin überzeugt.
Zu den Berliner Orten mit besonderer Strahlkraft im Bereich der Raumfahrtwirtschaft gehört der Standort in Adlershof. Hier entwickelt, fertigt und erprobt die Astro- und Feinwerktechnik Adlershof GmbH (Astrofein) Luft- und Raumfahrtkomponenten, insbesondere Lageregelungskomponenten und -systeme sowie komplexe Mechanismen für Satelliten, die Erdbeobachtungsdaten für den Umweltschutz liefern, zur Klimaüberwachung, zur Einschätzung von Naturkatastrophen und für andere gesellschaftliche Aufgaben. Für das Copernicus-Programm der Europäischen Kommission und der Europäischen Weltraumorganisation (Esa) liefert das Unternehmen die Reaktionsräder für die Ausrichtung und Orientierung der Satelliten im Weltall.
Mehr als 90 Prozent der Bestellungen beiAstrofein kommen aus dem Ausland, über 40 Prozent der Aufträge sogar von außerhalb der EU. „Astrofein ist damit ein wahrer Exportkönig, der seine Space-Produkte in den Westen bis zum Pazifik und in Richtung Osten bis hinter den Mount Fuji sendet“, so Geschäftsführer Dr. Sebastian Scheiding. „Nach dem Start geht es dann aber noch weiter: für manche Produkte bis in die Umlaufbahn vom Merkur oder vom Saturn.“
Weitere aus Adlershof operierende Akteure sind die Berlin Space Technologies GmbH (BST) und ein Ableger des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). BST zählt zu den Spezialisten für kleine Satellitensysteme und -technologien. Momentan treibt die Space-Firma im Rahmen eines Joint Ventures im Nordwesten Indiens den Aufbau einer Fabrik zur Herstellung kostengünstiger Satelliten voran. Das DLR Berlin-Adlershof ist als einer von 30 Standorten mit seinen rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer der besonders bedeutenden Raumfahrtstandorte des DLR mit einer erfolgreichen Geschichte: Bereits in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden hier Weltraumsensoren für sowjetische Missionen zur Venus, zum Mars und zum Merkur entwickelt.
Heute sind die DLR-Institute für Planetenforschung und für Optische Sensorsysteme an fast allen wichtigen Missionen in der Planetenforschung und der Erdbeobachtung beteiligt. Davon profitiert die gesamte Raumfahrtwirtschaft in der Metropolregion. „Besonders wichtig sind uns der Technologietransfer in die Wirtschaft und die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, das Sicherstellen flexibler Lieferketten innerhalb unserer Missionen und Projekte und die enge persönliche Zusammenarbeit, die durch die räumliche Nähe am Standort Adlershof besonders produktiv ist“, betont Melanie Wiese vom DLR.
Eines der wachstumsstärksten Felder im Bereich der Raumfahrtwirtschaft beschäftigt sich mit der Beobachtung der Erdoberfläche. Hochauflösende Satellitenbilder mit einer Auflösung von 50 Zentimetern pro Pixel sammeln essenzielle Geo-Informationen von jedem Flecken der Erde und machen Anwendungen zur Landvermessung, Verkehrsüberwachung oder die Beobachtung von Waldbeständen erst möglich.
Die präzisen Aufnahmen der Erdoberfläche nutzt zum Beispiel ein Berliner Start-up aus der New-Space-Szene für sein innovatives Geschäftsmodell. LiveEO überwacht mithilfe von künstlicher Intelligenz unterschiedliche Infrastruktursysteme und trifft Risikovorhersagen, aus denen sich konkrete Arbeitsanweisungen etwa für Forstmitarbeiter ableiten lassen. Zu den Kunden von LiveEO zählen die Deutsche  Bahn AG oder der Energiekonzern Eon. „Unser Ziel ist es, im Jahr 2025 die größten Infrastrukturnetzwerke der Welt mit unserer Technologie zu überwachen“, sagt Co-Gründer Sven Przywarra.„Frühe Profiteure aus anderen Industrien sind zum Beispiel Versicherungen, die dank unserer Analysen Objekte ortsunabhängig bewerten können“, so Przywarra. „Ich bin allerdings davon überzeugt, dass Insights aus Satellitendaten früher oder später für jede Wertschöpfungskette eine Rolle spielen werden.“
Auch das Kreuzberger Start-up nutzt die Stärken des Standortes Berlin. „Einerseits hat die Stadt eine starke Digitalbranche, wodurch hier die Talente leben, mit denen sich ein weltweit führendes Softwareunternehmen aufbauen lässt“, freut sich Przywarra. „Andererseits sind neben uns eine Reihe weiterer Weltraumunternehmen hier ansässig und mit der TU Berlin die Universität, die weltweit die meisten Satelliten im Orbit hat.“

von Jens Bartels