BW 06/2022 - Schwerpunkt

„Viele Jugendliche sind heute überfordert“

Auch für Mittelständler aus der Industrie ist es mittlerweile schwer, Auszubildende zu finden. Jürgen Stegger, Geschäftsführer der Borsig GmbH, nimmt die Herausforderung an
Borsig ist ein 185 Jahre altes Traditionsunternehmen, das einst der größte europäische Hersteller von Lokomotiven war. Heute bietet das Unternehmen weltweit Produkte für vielfältige industrielle Anwendungen. Eine eigene Ausbildung ist für Borsig wichtig, um über gut qualifizierte Fachkräfte für den Bau der Hochpräzisionsapparate verfügen zu können. Geschäftsführer Jürgen Stegger will jetzt noch konsequenter daran arbeiten, dass sein Unternehmen als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen wird.

Berliner Wirtschaft: Finden Sie noch genug Auszubildende?

Jürgen Stegger: In den vergangenen Jahren ist es uns nicht immer gelungen, alle offenen Stellen zu besetzen. Wir wollen am Standort Berlin jährlich sieben Azubis einstellen, zwei Industriekaufleute und fünf Anlagenmechaniker für Apparate- und Schweißtechnik – früher bekannt unter der Bezeichnung Schlosser und Schweißer. Bei den Anlagenmechanikern konnten wir früher aus 600 Bewerbungen auswählen, heute läuft der gesamte Auswahlprozess ganz anders und hat sich faktisch umgedreht. Zuletzt konnten wir uns bei 200 Kandidaten bewerben, die ihr Interesse an den Berufsfeldern auf Portalen hinterlegt hatten. Mit acht Interessenten konnten wir Termine für Bewerbungsgespräche vereinbaren. Davon sind drei gekommen, einen konnten wir schließlich einstellen.

Woran liegt das?

Das hat viele Gründe. Zum einen gibt es aufgrund des demografischen Wandels einfach weniger Jugendliche, die die Schule jedes Jahr verlassen. Zum anderen machen immer mehr Schülerinnen und Schüler Abitur und wollen anschließend studieren. Das Interesse an technischen Ausbildungsberufen ist – so sehen wir das – in den letzten Jahren stetig gesunken. Hinzu kommt, dass viele Jugendliche mit den Berufen des Anlagenmechanikers Einsatzgebiet Apparatebau oder Schweißtechnik nichts anfangen können. Sie verwechseln das mit dem Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Daher glaube ich, dass unsere Ausbildungsberufe generell klarer und einfacher kommuniziert werden müssen. Das gilt auch für die Ausbildungsprofile, da müssen wir schärfer und verständlicher werden.

Welche Rolle spielt bei Ihnen die Ausbildung?

Wir wollen in diesem Bereich mit unserem Engagement eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Wenn nicht ausgebildet wird, werden später natürlich auch die Fachkräfte fehlen. Und ohne genug Fachkräfte werden wir unseren Wohlstand nicht auf diesem Level bewahren können. Wir bilden daher zur eigenen Fachkräftesicherung aus. Wir liefern hochwertige Komponenten, die mit sehr anspruchsvollen Schweißverfahren hergestellt werden. Bei einigen Produkten sind wir Weltmarktführer. Unsere Reputation bei Kunden ist in starkem Maße auf die Arbeit in unserer Fertigung, das heißt auf unserer Fachkräfte, zurückzuführen. Hier gilt noch „Made in Germany“ als absolutes Qualitätsmerkmal. Unsere Azubis werden so ausgebildet, dass sie diesen hohen Qualitätsansprüchen gerecht werden. Damit sorgen auch sie dafür, dass unser Unternehmen eine gesicherte Zukunft hat. Daher treffen uns die fehlenden Bewerberinnen und Bewerber besonders.

Wie gehen Sie mit der Situation um?

Wir müssen als Unternehmen reagieren und unsere eigenen Prozesse hinterfragen. Zugleich haben wir ein internes Programm gestartet, um unsere Marke als Arbeitgeber zu stärken. Wir müssen für Auszubildende und auch für zukünftige Mitarbeitende attraktiver werden.

Worauf wollen Sie dabei den Fokus legen?

Wir haben kein Schema F, das garantiert, dass Jahr für Jahr neue Auszubildende zu uns kommen. Generell bemühen wir uns intensiv um jede einzelne Interessentin und jeden einzelnen Interessenten. Wir werden in Zukunft außerdem in unserer Kommunikation die Fakten stärker in den Vordergrund stellen, die für potenzielle Azubis ausschlaggebend sind, um sich für uns zu entscheiden. Wir wollen dahin kommen, dass man mit Stolz sagen kann: Wir arbeiten für Borsig, und Borsig hat seit 185 Jahren die richtigen Lösungen zur richtigen Zeit.

Wie können Ihrer Ansicht nach noch mehr Jugend­liche für die duale Berufsausbildung begeistert werden?

Wer Abitur macht, will in der Regel studieren und stellt sich gar nicht die Frage, ob eine duale Ausbildung infrage kommen könnte. Doch nicht jedem liegt ein Studium. Viele kommen mit der starken Fokussierung auf theoretisches Wissen nicht zurecht. Es fehlt ihnen der Praxisbezug. Das ist auch der Grund, warum wir immer mal wieder ehemalige Studierende einstellen, die dann bei uns zu sehr guten Anlagenmechanikern ausgebildet werden. Aber ich denke, es ist andersherum besser: erst eine duale Ausbildung, danach besteht immer noch die Möglichkeit, ein Studium anzuschließen. Viele unserer Auszubildenden machen das und bleiben bei uns.

Könnten die Schulen mehr für die Berufs­orientierung machen?

Das wäre wünschenswert, schließlich muss man Maßnahmen ergreifen, wenn man sieht, dass der Fachkräftemangel immer weiter zunimmt. Das kann man nicht nur den Unternehmen überlassen. Ich würde es begrüßen, wenn ab der siebten Klasse ein Fach zur Berufsförderung eingerichtet wird. Schon in diesem Alter lassen sich Neigungen intensiv fördern. Eine spätere Berufswahl wäre deutlich einfacher, wenn man sich seiner Stärken und Schwächen bewusst wäre. Heute sind viele Jugendliche überfordert. Sie erhalten vom Arbeitsamt wie vor 40 Jahren ein dickes Buch mit allen Ausbildungsberufen. Digital können sie sich ein paar Videos zu den Ausbildungsberufen ansehen. Aber das reicht nicht. Es gibt so viele Berufe, die die Jugendlichen aus Unkenntnis einfach nicht auf dem Schirm haben. Da muss dringend etwas passieren.

von Michael Gneuss