BW 04/2021 – Agenda

Klimapolitik als Chance

Der Start des digitalen Politikgesprächs mit Bettina Jarasch illustrierte schon recht gut eines der Problemfelder, das, sollte sie im Herbst Regierende Bürgermeisterin werden, auf sie wartet: Die Spitzenkandidatin der Grünen verspätete sich um ein akademisches Viertel, da der Berliner Verkehr sich wieder einmal als in jeder Hinsicht schwer zu durchdringende Materie erwiesen hatte. Doch kaum hatte Jan Eder, Gastgeber und IHK-Hauptgeschäftsführer, die gebürtige Augsburgerin dem Publikum vorgestellt, bewies Jarasch, dass Kleinigkeiten wie die Berliner Rushhour sie nicht aus dem Konzept bringen: In einem inhaltlich dichten, empathischen Vortrag zur Transformation Berlins zeichnete sie ihre Perspektive für den Weg raus aus der Krise, rein in ein neues Wachstum.
Über allem prangte die Klammer des Klimawandels, der als Menetekel der Welt und Berlin die Richtung vorgebe. Die Grüne gab selbstbewusst zu verstehen, dass Klimapolitik für sie zugleich Wirtschaftspolitik sei. Und sie appellierte an die Unternehmerschaft, darin die größte denkbare Chance zu erkennen – Berlin sei, da wenig belastet von der Industrie des 20. Jahrhunderts, prädestiniert, als klimaneutrale Metropole voranzuschreiten. Darüber müsse sich viel verändern – das klassische Messegeschäft sah Jarasch unabhängig von Corona ebenso unter Transformationsdruck wie den Tourismus, den sie sich nachhaltiger und weniger massenorientiert wünscht. Digitalisierung müsse Chefinnensache, die Metropolregion gemeinsam mit Brandenburg entwickelt und die autofreie Innenstadt mit der besseren Anbindung des Stadtrandes verbunden werden. Jarasch führte durch zahlreiche Themenfelder. Die anschließende Diskussion mit Jan Eder und dem Publikum, dessen Fragen über einen Chat eingespielt wurden, entwickelte sich zur erwarteten Tour d’Horizon.
Eingangs zur gegenwärtigen Corona-Politik befragt, lobte Bettina Jarasch das kooperative Handeln der Zivilgesellschaft, vermisste jedoch in der Politik die notwendige Entscheidungsfreudigkeit. Zu sehr sei man daran interessiert, sich bis ins letzte Detail abzusichern. Auch für die Verwaltung wünscht sich die Politikerin eine „Ermöglichungskultur“, die Ermunterung, ungewohnte Wege zu beschreiten. Im anschließenden Diskussionsteil ging es um die grüne Wirtschaftspolitik. Auf Eders Frage, ob gegenwärtig Mut- und Ideenlosigkeit die Verkehrsplanung hemmten, stellte Jarasch ihre Pläne, die Stadtrandlagen besser anzubinden, in den Raum. Dies müsse Priorität haben. U-Bahn-Bau schloss sie nicht aus, ließ aber durchblicken, dass sie die damit verbundenen Kosten für bedenklich hält.
Kritisch sieht Jarasch auch die A100. Das Projekt sei aus der Zeit gefallen, womöglich wären teilweiser Rückbau oder Umwandlung der Fläche die bessere Option. Vielleicht lasse sich eine Spur als Radspur nutzen. Mehr als von Autobahnen verspricht sie sich vom Ausbau des ÖPNV entlang des Siedlungssterns, den sie in enger Abstimmung mit Brandenburg weiterentwickeln möchte, auch um weiterer Zersiedlung vorzubeugen. Mit Brandenburg kann sich Jarasch darüber hinaus eine engere Zusammenarbeit vorstellen als bisher. Vor allem Wirtschaftsförderung und Marketing des Metropolraums sähe sie gern durch gemeinsame Einrichtungen umgesetzt. Mehr noch interessierten sich die Gäste dafür, wie sie das Zuständigkeitswirrwarr innerhalb der Berliner Verwaltung zu bändigen gedenke. Jarasch gab sich so diplomatisch wie überzeugt, dass eine klare Trennung zwischen Senats- und Bezirksverantwortlichkeiten vorzunehmen sei, wobei sie den Bezirken erheblichen operationellen Raum zugestehen möchte. Immer wieder betonte sie, wie wichtig ihr das Gespräch mit allen Akteuren sei, auch in Hinblick auf die Digitalisierung der Verwaltung. Keinen Zweifel ließ sie daran, dass sie dieses Thema ins Rote Rathaus ziehen würde.
Abschließend und die anderen Themen überragend kam die Diskussion auf die Wohnungspolitik. Jarasch wandte sich gegen den Eindruck, sie befürworte vorbehaltlos die Enteignung großer Immobilienunternehmen, allerdings betonte sie auch, dass sie hinsichtlich Ziel und Analyse mit dem Enteignungs-Volksbegehren weitgehend übereinstimme. Wie allerdings die von ihr präferierten sozialen und qualitativen Voraussetzungen für eine Enteignung beschaffen sein sollten, blieb offen. Einigkeit herrschte darin, dass der Berliner Immobilienmarkt nicht mit einem Instrument, sondern mit einem umfangreichen Instrumentenkasten entwickelt werden muss. Über dessen Inhalte allerdings wird noch viel zu reden sein.
von Christian Nestler