BW 04/2021 – Agenda

Warmlaufen im Wahlkampf

Weniger Ideologie, mehr Pragmatismus. Zumindest darin waren sich die Teilnehmer der digitalen Diskussionsrunde zur „Wirtschaftspolitik im Zeichen von Corona – Was braucht die Wirtschaft jetzt von ihrer Politik?“ einig. Sechs Monate vor der Berlin-Wahl hatte die IHK die Fraktionsvorsitzenden aus dem Abgeordnetenhaus Mitte März zu einer Frühstücksrunde ins Ludwig Erhard Haus eingeladen. Fast genau ein Jahr nach dem ersten Lockdown diskutierten Silke Gebel (Grüne), Anne Helm (Linke), Sebastian Czaja (FDP), Burkard Dregger (CDU), Georg Pazderski (AfD) und Jörg Stroedter (SPD), der Raed Saleh vertrat, wie die Krise überwunden und ein Re-Start der Berliner Wirtschaft gelingen könne.

Wirtschaft braucht Perspektiven

IHK-Präsidentin Dr. Beatrice Kramm begrüßte die Gäste mit einer Rede, in der sie deutlich machte, was die Berliner Unternehmen aktuell bewegt: „Zermürbt von monatelanger wirtschaftlicher Untätigkeit und nur zäh fließenden staatlichen Hilfen, wächst die Ungeduld.“ Was die Wirtschaft jetzt brauche, sind Perspektiven. „Deshalb ist es so wichtig, klug, vorausschauend und gleichzeitig pragmatisch Wege aus der Krise zu planen.“ Danach erklärte IHK-Hauptgeschäftsführer und Moderator Jan Eder den Fraktionsspitzen sowie den rund 150 zugeschalteten Zuschauern des „Frühstücks-TV“ die Spielregeln: Nach einem Einstiegsstatement gebe es zwei Themenblöcke mit jeweils einer Frage, auf die jeder Politiker 60 Sekunden Zeit für eine Antwort habe. Wer die Redezeit überschreite, müsse die nächste Runde aussetzen – ein Fall, der dank der Disziplin der Teilnehmer nicht eintrat.
Los ging’s mit der Einstiegsfrage nach den wirtschaftspolitischen Plänen, wenn die eigene Partei den neuen Regierenden Bürgermeister stellen würde. Hier gab es weitgehenden Konsens, dass die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung unbefriedigend für die Wirtschaft seien, da diese bei den Unternehmen nur teilweise oder nicht rechtzeitig ankämen. Jörg Stroedter hob hervor, dass Berlin es mit der „Neustarthilfe Berlin“ und dem Bürgschaftsprogramm zur Zwischenfinanzierung besser gemacht habe. Alle Parteien vereinte die Auffassung, dass Berlin dringend neue Maßnahmen brauche, damit sich die Wirtschaft nachhaltig erholen könne. Dies ginge nur mit langfristigen Investitionen, vor allem in die Digitalisierung. Diesbezüglich verwies Burkard Dregger auf das E-Government-Gesetz, welches nun endlich umgesetzt werden müsse.

Öffnungsmodelle im Fokus des Publikums

„Wie kann Berlin wieder zurück auf die Überholspur finden?“ Mit dieser Frage beschäftigte sich der erste Themenblock. Stroedter mahnte eine Öffnungsperspektive an, „auch in der Außengastronomie“, während Silke Gebel betonte, dass man ein flächendeckendes Virus-Screening brauche. „Weil dies das Einzige ist, was den betroffenen Branchen hilft, wieder aus dem Trümmerfeld rauszukommen.“ Mit Überleitung zur Wohnungspolitik diagnostizierte Anne Helm: „Wir müssen im Bestand dafür sorgen, dass die Mieten nicht weiter so immens steigen. Das werden wir alleine mit Neubau nicht erreichen.“
Sebastian Czaja forderte die Abschaffung von Doppelzuständigkeiten: „Wenn wir mit dem Allgemeinen Zuständigkeitsgesetz dafür sorgen, dass nicht mehr vier Verwaltungen dafür zuständig sind, ein Berliner Schulklo zu sanieren, dann beschleunigen wir vieles.“ Das Publikum, das sich via Chat beteiligen konnte, bewegte unter anderem die Frage nach Öffnungsmodellen. Czaja dazu: Man müsse von dem „einen Inzidenzwert“ wegkommen. Durch die Verknüpfung von Impfstatus, Nachverfolgung und Teststrategie mit Hygienekonzepten könne es wieder zur schrittweisen Öffnung kommen – auch bei steigender Inzidenz.
Es folgte eine thematisch freie Runde, in der Burkard Dreggers Ausführungen zur Innovations- und Unternehmensfreundlichkeit in Berlin einigen Schwung in den Schlagabtausch brachten: „Wir haben eine beispiellose Zeit der unternehmerfeindlichen Politik von Rot- Rot-Grün erlebt.“ Das habe es in der Geschichte Deutschlands bisher nicht gegeben. Jörg Stroedter verteidigte die Senats-Politik: „Der Bundeswirtschaftsminister ist doch Sinnbild dieser Krise.“ Die CDU bringe keine konkreten Vorschläge, nur Ankündigungen. Silke Gebel machte die Gewerbemieten zum Thema, die „ein eklatantes Problem sind“. Mit den Corona-Hilfen würden die übertriebenen Renditeerwartungen von Vermietern finanziert werden: „Das ist ein Skandal.“ Georg Pazderski monierte: „In der Bildungspolitik wurde in den letzten 25 Jahren Erhebliches falsch gemacht. Uns fehlen etwa 100.000 Fachkräfte. Jeder zehnte Schüler hat keinen Abschluss. Wir unterrichten Orchideenfächer, anstatt MINTFächer auszubilden.“

Zurückhaltung bei der Koalitionsfrage

„Neue Wege im Superwahljahr 2021“ war der zweite Themenblock übertitelt. Auf den Mietendeckel und das Volksbegehren zur Enteignung angesprochen, entgegnete Anne Helm, dass vor allem die bedrohliche Stimmungsmache zur Verunsicherung beitrage. Sebastian Czaja betonte, dass die FDP nach Errungenschaften wie dem Stufenplan und Taxigutscheinen weiterhin auf konstruktive Lösungsvorschläge setze. „Michael Müller hat in der Krise einen sehr guten Job gemacht“, war Jörg Stroedter überzeugt und schob nach: „Die Berliner wollen eine Bürgermeisterin wie Franziska Giffey.“ Georg Pazderski sieht die AfD nach wie vor als „die Alternative in Berlin“ und möchte als Opposition weiterhin relevante Themen aufgreifen. Burkard Dregger sagte ambitioniert: „Wir wollen, dass sich die Menschen unternehmerisch und wissenschaftlich frei entfalten können und dass Berlin die liberale Metropole der Welt ist.“
Danach stellte Jan Eder die Koalitionsfrage. „Die AfD kann in Berlin mittelfristig Koalitionspartner werden, und wir scheuen uns nicht vor der Verantwortung“, machte Pazderski den Anfang. Silke Gebel betonte die großen Schnittmengen in der aktuellen Koalition und erteilte einer Kiwi-Koalition eine Absage. Die CDU, so Dregger, wolle in erster Linie den Berlinern dienen: „Ich sehe überhaupt keine Veranlassung, jemandem hinterherzulaufen.“ Czaja sieht eine große Chance für einen Regierungswechsel: „Es sind andere Modelle als Rot-Rot-Grün möglich.“ Und Anne Helm würde ein „richtig rotes Rathaus“ sehr gut gefallen. Eins würde jedoch nicht passieren: eine Regierungsbeteiligung der AfD, „denn Berlin war schon immer eine weltoffene und progressive Stadt“. Auf die im Chat gestellte Frage, was genau unter der von Anne Helm zuvor genannten, von der Linken angedachten „Industrieholding“ zu verstehen sei, erklärte sie: „Die Idee dahinter ist, eine Ansiedlung von Industrie im Großraum Berlin in den Bereichen Medizin, Verkehr und Energie zu unterstützen.“

Stroedters „Wahlhilfe“ für die FDP

Mit der Schlussfrage versuchte Jan Eder, seine Gäste aus der Reserve zu locken: Welche andere Partei würden die Abgeordneten einem Nicht-Wähler empfehlen? Während sich kein anderer zu einer parteifremden Wahlempfehlung durchringen konnte, traute sich einzig Jörg Stroedter und bot der FDP pfiffig Wahlhilfe an, da es Czaja schwer habe, ohne Tegel über die Fünf- Prozent-Hürde zu kommen: „Vielleicht hilft’s.“ Diesen Mut honorierte Eder schmunzelnd mit den Worten: „Auf solche Antworten hatte ich gehofft.“ Nach der zweistündigen Diskussion bedankte sich der IHK-Hauptgeschäftsführer für den „sehr wohltuenden, inhaltsstarken und disziplinierten Austausch“. Im bevorstehenden Wahlkampf würde dies sicherlich noch anders werden, aber man habe schon sehen können, wohin die parteipolitischen Linien laufen: „Es wird ein spannendes Wahljahr.“
von Melanie Schindler