„Mehr Geld für weniger Leistung ist kein nachhaltiges Geschäftsmodell“

Mehr als 360 Gäste bedanken sich mit anhaltendem Beifall bei scheidendem IHK Präsident Dr. Christian Gastl

24. Januar 2024 – Das Ende ausnahmsweise einmal vorweggenommen: Mit anhaltendem und respektvollem Applaus im Stehen wurde kurz vor Beendigung des offiziellen Teils des Neujahrsempfangs der Industrie- und Handelskammer Wiesbaden dem scheidenden IHK-Präsidenten Dr. Christian Gastl für seine zehnjährige Amtszeit gedankt. Die neue IHK-Vollversammlung – die digitale Wahl hat begonnen und findet bis 20. Februar statt – wird eine neue Präsidentin oder Präsidenten wählen. Die Tatsache, dass Gastl in seiner mehrfach von spontanem Beifall unterbrochenen Rede nicht gerade sanft mit der Politik ins Gericht ging und ein eher von Skepsis geprägtes Stimmungsbild der Unternehmen im Kammerbezirk wiedergab, tat der guten Stimmung der mehr als 360 Gäste aus der Politik des Landes Hessen wie der Kommunen und der Wirtschaft keinen Abbruch. Sie waren „At Home“, wie es Gastl nannte, im Veranstaltungssaal der IHK, nach Unterbrechungen durch die Pandemie und der Brandschutzsanierung im Erbprinzenpalais.
An der Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements in der Vollversammlung ließ der Präsident, der erneut für eine Mitgliedschaft kandidiert, ebenso wenig Zweifel aufkommen wie Sabine Meder, Hauptgeschäftsführerin der IHK Wiesbaden. „Es geht um sehr viel, denn die Unternehmerinnen und Unternehmer geben den Belangen der Wirtschaft mit ihrer Stimme mehr Gewicht und uns mehr Schlagkraft. Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Ihnen etwas zu bewegen“, sagte sie in einer Talk-Runde mit Christian Gastl und IHK-Pressesprecher Roland Boros, der als Moderator durch den Abend führte. Meder freut sich, dass unter den 106 Kandidatinnen und Kandidaten 44 Newcomer sind, und der Anteil der Kandidatinnen immerhin von 19 auf 23 habe gesteigert werden können. „Das Engagement lohnt sich doppelt“, so Gastls Erfahrung, denn es bestehe die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, und durch die konstruktiven Gespräche entstehe ein großer Mehrwert. Kurz an der Bar, an der alkoholfreie Drinks nach Wunsch zubereitet wurden, und dann ab ins auf der Bühne platzierte Wohnzimmer oder die Sitzbank im Garten: In abwechslungs- und temporeichen Gesprächsrunden kamen neben Landtagspräsidentin Astrid Wallmann (CDU) auch Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD) und Sandro Zehner (CDU), Landrat des Rheingau-Taunus-Kreises, zu Wort – und bezogen Stellung unter anderem auch zu den Defiziten, die IHK-Präsident Gastl in seiner Rede etwa in puncto Bürokratisierung, Digitalisierung, Fachkräftemangel und Infrastruktur ausgemacht hatte.
Landtagspräsidentin Wallmann war es bei der Veranstaltung wichtig, trotz der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, einen hoffnungsvollen Blick auf das neue Jahr zu richten: „Es gibt zwar weder wirtschaftlich noch politisch in unserem Land Anlass, selbstzufrieden zu sein und sich auf dem Status quo auszuruhen – aber ein gesunder Optimismus, der auch die Stärken unseres Wirtschaftsstandorts und unseres politischen Systems nicht verkennt, ist dennoch angebracht. Wenn wir diesen Optimismus sowohl mit dem Mut und dem Willen zur Veränderung als auch mit der nötigen Umsicht und einem Gespür für Maß und Mitte in wirtschaftliches und politisches Handeln umsetzen, werden wir auch in Zukunft in unserem Land erfolgreich sein.“ Bei einem Ausblick auf die Arbeit im Landtag sagte sie, dass sie sich eine „noch stärkere Digitalisierung“ des Hauses vorgenommen habe. Auch die Art der Debattenkultur während der Plenarsitzungen sei ihr ein großes Anliegen. Wer hier mit Redebeiträgen die „Würde des Hauses“ verletze, könne künftig auch mit einem Ordnungsgeld belangt werden, so die Politikerin.
Der Umgang der Menschen miteinander, vor allem jedoch das Einstehen für die Demokratie, bewegt Politik und Wirtschaft: Es sei ein wichtiges Zeichen, dass in diesen Tagen Tausende von Menschen in ganz Deutschland auf die Straße gingen, um „für unsere Demokratie einzustehen“, so IHK-Präsident Gastl unter dem Beifall der Gäste. Applaus gab´s auch für seine Kritik an den Beschlüssen der Landeshauptstadt Wiesbaden, Gebühren, Abgaben und die Gewerbesteuer anzuheben, „die uns Gewerbetreibende mit rund 3,5 Millionen Euro pro Jahr belasten wird“. Dass gleichzeitig die Leistungen des öffentlichen Nahverkehrs reduziert werden, stellt nach den Worten Gastls einen eklatanten Widerspruch dar: „Aus unternehmerischer Sicht kann ich klar sagen, dass mehr Geld für weniger Leistung kein nachhaltiges Geschäftsmodell ist.“
Ob Nachhaltigkeitsabgabe für Trinkwasser, höhere Gebühren für Abwasser und Straßenreinigung oder die Erhöhung des Kurbeitrags auf künftig fünf Euro pro Gast und Übernachtung – nur einige wenige Beispiele, die laut Gastl als Belastung auf Unternehmen, aber auch die Gastronomie, den Einzelhandel und kulturelle Einrichtungen zukommen. Der IHK-Präsident führte ferner die „stark angespannte konjunkturelle Lage“ ins Feld, der „IHK-Geschäftsklimaindex fällt von 101 auf 96 Punkte“, sagte er. Im Gegensatz zu einer Handabstimmung, mit der die Gäste zu Beginn des Abends ihre Erwartung an eine im Jahr 2024 „bessere Lage“ signalisiert hatten, bezeichnete der IHK-Präsident die aktuelle Geschäftslage als schlecht – und der Ausblick der Unternehmen falle noch schlechter aus. An die Adresse der anwesenden hessischen Ministerinnen und Minister sowie Landtagsabgeordneten richtete sich sein Appell zur Entlastung der Unternehmen bei Bürokratie, Dokumentations- und Berichtspflichten: Beschleunigung der Genehmigungsverfahren, Vereinfachung bei Förderprogrammen und Schaffung eines digitalen Portals für Verwaltungsprozesse – „schnelle, digitale und bürgerfreundliche Verwaltungsleistungen helfen auch beim Fachkräftemangel“, von dem jedes zweite Unternehmen in RheinMain betroffen sei, erklärte Gastl. Die Fachkräftesicherung bleibe eines der Kernthemen der IHK, sicherte er zu; die Industrie- und Handelskammer initiiere viele verschiedene Aktionen und Maßnahmen auch über die digitalen Medien, um Nachwuchs für die duale Berufsausbildung zu gewinnen.
Neben dringendem Handlungsbedarf zur Bekämpfung des Leerstands in den Innenstädten und einer Agenda für mehr Unternehmertum und mehr Start-Ups, hat Gastl die angestrebte Reaktivierung der Aartalbahn als „enormen Gewinn für unseren Wirtschaftsstandort und gerade für den Untertaunus“ ausgemacht. Dem vermochte Landrat Sandro Zehner nur zuzustimmen. Nach einer Einschätzung befragt, äußerte er die Hoffnung, in zehn, „vielleicht sogar in sieben Jahren“ mit der Aartalbahn fahren zu können – den Abbau der „Pförtnerampel“ wünscht er sich, wie zahlreiche der applaudierenden Gäste, „schon früher“. Der CDU-Politiker sieht die Migration wie den Zusammenhalt in der Gesellschaft als große Herausforderungen der Zeit an, und macht die Bundespolitik als Verursacher aktueller Defizite wie einer strukturellen Unterdeckung aus. Sein Appell um Unterstützung richtet sich an das Land und die Bundesregierung, „denn die Gesellschaft steht an einem Kipp-Punkt“. „Als Staat müssen wir weniger statisch denken“, meint Zehner, der dafür plädiert, „auch mal Abkürzungen zu nehmen“. Applaus auch für seine Feststellung, dass „wir das Land nicht besser meckern, sondern nur besser machen können.“
„Es gibt keine Alternative zum Optimismus, und Optimismus hat nichts mit Naivität zu tun“, macht Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende deutlich, der die Lebensfreude hochhält, die Hoffnung darauf, „etwas verändern zu können“, verteidigt, und die Beobachtung gemacht hat, „dass wir häufig unsere Resilienz unterschätzen“. Den Anwürfen des IHK-Präsidenten, der die veränderten Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Ostfeldes, nämlich den Wegfall der für das Gewerbe relevanten südlichen B2-Fläche, bemängelt hatte, begegnete Mende gelassen: „Der Prozess läuft“, sagte er mit Hinweis darauf, dass es für das Bundeskriminalamt, das die nördliche Gewerbefläche des Ostfeldes vollständig benötigt, keinerlei Zweifel am Standort Wiesbaden geben dürfe. „Der Haushalt ist ein Gesamtkunstwerk“, erwiderte er auf den von Gastl ausgemachten Widerspruch zwischen Abgabenerhöhungen und Leistungskürzungen. Man könne, so Mende, jede getroffene Entscheidung hinterfragen, es geht jedoch darum, die Last auf viele unterschiedliche Schultern zu verteilen. Die Gewerbeansiedlung sei und bleibe ein „großes Thema“. Das neue Jahr wird nach seinen Worten erneut von Baustellen geprägt sein: Zur Umsetzung der Energiewende sei der Ausbau von Fernwärme unverzichtbar. „Diese Infrastrukturmaßnahmen machen keinen Spaß, müssen aber sein“, sagte der Oberbürgermeister. Die Gäste des Neujahrsempfangs ließen sich von dieser Aussicht nicht den Abend verderben, der neben kulinarischen Leckereien und Getränken auch Musik der Band „Neelah“ sowie angeregte und anregende Gespräche bereithielt.