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Luisa Gaa, Thomas Grimm und Selina Müller
Wie beurteilen Sie die Einzelhandelsentwicklung in Weingarten?
Thomas Grimm: Die Einzelhandelsentwicklung in Weingarten steht vor Herausforderungen. Der bestehende Leerstand ist noch moderat. Es ist wichtig, gemeinsam Strategien zu entwickeln, um die Frequenz zu erhöhen und das Einkaufserlebnis zu verbessern.
Luisa Gaa: Die Weingartener Innenstadt kann vor allem mit kurzen Wegen punkten. Auch wenn der Online-Handel und Ultra Fast Fashion die Wege der Kundinnen und Kunden von der Haustür in die Wohnung noch kürzer halten, ist für unseren Einzelhandel die kompakte Innenstadt von Vorteil. Kundinnen und Kunden können auf kurzer Distanz sowohl Erledigungen des täglichen Bedarfs tätigen wie auch in den überwiegend inhabergeführten Geschäften bummeln, einkaufen und in den zentral gelegenen Cafés und Restaurants einkehren. Auch der innerstädtische Leerstand bewegt sich auf dauerhaft niedrig-moderatem Niveau. Für die einzelnen Branchen fällt die Beurteilung der Umsatzentwicklung durchaus gemischt aus, aber wir blicken positiv in die Zukunft, dass sich auch künftig viele unserer inhabergeführten Geschäfte unter der Regie der nächsten Generation weiterentwickeln und wachsen werden.
Selina Müller: In Weingarten gibt es aktuell eine starke Basis aus Tradition und Erfahrung. Wenn wir diese langfristig mit Innovation, Mut und multimodalen Ansätzen kombinieren, sehe ich darin ein potenzielles Erfolgsrezept für den Erhalt und die Weiterentwicklung unserer Innenstadt. Der moderate Leerstand bietet Raum für neue Konzepte und kreative Geschäftsideen, auch wenn die Umsetzung dieser Ideen oft zunächst eine Herausforderung darstellt. Die Zusammenarbeit zwischen Einzelhändlern, Gastronomen und der Stadtverwaltung wird dabei zunehmend stärker und vertrauensvoller. Diese enge Kooperation ermöglicht es uns, gemeinsam erfolgreiche Veranstaltungen und Aktionen zu entwickeln, die sowohl die Frequenz erhöhen als auch die Attraktivität unseres Standorts steigern. Ich bin überzeugt, dass wir durch diese Synergien Weingarten als lebendigen Einkaufsort weiter stärken können.
Welche Rolle spielen dabei Tagestouristen und Urlauber?
Grimm: Tagestouristen können zu einer wertvollen Zielgruppe für Weingarten werden. Es gilt, gezielte Marketingmaßnahmen zu entwickeln, um diese Besucher anzuziehen und ihre Bedeutung für den lokalen Einzelhandel zu steigern.
Müller: Die Rolle von Tagestouristen ist maßgeblich von der Definition des Begriffs abhängig. Mein Verständnis von Tagestouristensind Personen, die ihr Wohnumfeld verlassen, um einen Reiseanlass wahrzunehmen, der nicht beruflicher oder bildungsbezogener Natur ist und auch nicht der Besorgung alltäglicher Bedürfnisse dient – Kleidung beispielsweise fällt nicht in diese Kategorie. In diesem Kontext erkenne ich durchaus eine wesentliche Bedeutung für unsere Stadt. Die touristische Zielgruppe orientiert sich an dem Ergebnis, das im Masterplan 2022 der Oberschwaben Tourismus GmbH festgelegt wurde: dem sogenannten postmateriellen Milieu. Diese Gruppe legt großen Wert auf persönlichen Kontakt und sucht bewusst nach Individualität und Authentizität, anstatt sich auf Schnäppchenangebote zu konzentrieren. Diese Werte sind in Weingarten stark ausgeprägt, und es ist unser Bestreben, sie nachhaltig zu fördern und kontinuierlich hervorzuheben.
Welche Branchen profitieren von Tagesgästen und Urlaubern in Weingarten besonders stark?
Grimm: Die Gastronomie und Hotellerie profitieren bereits von den Besuchern, was zeigt, dass Weingarten über ein attraktives Angebot verfügt. Eine stärkere Vernetzung zwischen diesen Betrieben und dem Einzelhandel könnte Synergien schaffen und das Gesamtangebot für Touristen verbessern.
Müller: Gastronomie, Einzelhandel und Beherbergungsbetriebe profitieren in Weingarte direkt von der Nachfrage nach kulinarischen Erlebnissen, Einkaufsmöglichkeiten und Unterkünften. Darüber hinaus ziehen auch Kultur- und Freizeitangebote zahlreiche Besucher an. Ergänzend dazu tragen Wellness- und Gesundheitsangebote, einschließlich des städtischen Hallenbads und des Freibads, zur Attraktivität Weingartens bei. Diese Aufzählung ist jedoch nicht abschließend, da Weingarten noch viele weitere Attraktionen bietet, angefangen bei der Fasnet bis hin zum bekannten Blutritt. Insgesamt sind diese Wirtschaftszweige entscheidend für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Förderung des regionalen Wachstums und verdeutlichen, dass der Tourismussektor weit über den „typischen“ Urlauber hinaus betrachtet werden sollte.
Mit der Basilika steht in Weingarten die größte Barockkirche nördlich der Alpen. Gelingt es, deren Besucher auch zum Bummeln in die Innenstadt zu lotsen?
Grimm: Es besteht die Möglichkeit, durch gezielte Maßnahmen wie Beschilderungen oder Informationsstände an der Basilika mehr Besucher in die Innenstadt zu lenken. Die Herausforderung der Treppe könnte durch alternative Zugänge oder Shuttle-Services gemildert werden.
Müller: Die Basilika-Besucher auch in die Innenstadt zu holen, ist für mich touristisch gesehen eine der größten Aufgaben. Eine wichtige Rolle spielen dabei das neue Max Café auf dem Münsterplatz sowie das Café-Restaurant Martinus auf dem Basilika-Vorplatz oder der Stelen Rundgang, der eine Führung durch die Innenstadt ermöglicht und der 2026 noch durch eine audiovisuelle Stadtführung ergänzt wird. Es ist mir jedoch auch bewusst, dass Weingarten häufig einer der ersten Stopps bei Busreisen in die Bodenseeregion ist und daher oft kein längerer Aufenthalt eingeplant wird. In diesem Zusammenhang bemühen wir uns kontinuierlich, den Busunternehmen die Welfenstadt als attraktiven Ausgangspunkt für die Erkundung der Region Oberschwaben-Allgäu-Weingarten zu präsentieren.
Welche Auswirkungen hat der jährliche Blutritt als größte Reiterprozession Europas auf Hotellerie, Gastronomie und Einzelhandel in Weingarten?
Grimm: Der Blutfreitag zieht viele Besucher an und hat das Potenzial, die Innenstadt lebendig zu machen. Allerdings könnten wir mit einer besseren Planung der Verkehrsführung sowohl den Anwohnern als auch den Besuchern ein noch positiveres Erlebnis bieten.
Müller: Auch wenn bei dieser Veranstaltung die Kirche als Hauptveranstalter fungiert und die traditionelle und historische Bedeutung im Vordergrund steht, hat der Blutritt gerade für die Hotellerie einen großen wirtschaftlichen Nutzen. Die Zahl der Übernachtungen steigt in diesen Tagen signifikant. Viele Besucher, die von weiter her anreisen, bleiben länger, um auch die kulturellenund touristischen Angebote der Region zu erkunden. Darüber hinaus profitiert die Gastronomie, weil die erhöhte Gästezahl zu einer gesteigerten Nachfrage in Restaurants und Cafés führt. Allerdings schränken die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen an diesem Tag die Erreichbarkeit der Innenstadt stark ein, was zu Umsatzeinbußen beim Einzelhandel führen kann. Andererseits sind lokale Produkte wie Käse, Wein und Backwaren oder Souvenirs am Blutfreitag bei den Besuchern durchaus gefragt.
Wie könnte Weingartens touristisches Potenzial noch besser gehoben werden?
Grimm: Um das touristische Potenzial stärker auszuschöpfen, sollten wir gemeinsam mit Reiseveranstaltern daran arbeiten, die Verweildauer der Gäste zu erhöhen. Ein Reiseführer mit Informationen über Gastronomie und Einzelhandel könnte dabei helfen, den Besuchern einen umfassenden Überblick über das Angebot in Weingarten zu geben.
Müller: Ein vielversprechendes Projekt ist die audiovisuelle Stadtführung Lauschtour, die 2026 anlässlich des 60 jährigen Jubiläums der Oberschwäbischen Barockstraße starten wird. Zudem sollte die Beschilderung in der Innenstadt weiterentwickelt werden, um Touristen eine bessere Orientierung von der Basilika hinab in die Innenstadt und zu den lokalen Geschäften zu ermöglichen. Sinnvoll wären auch Kombitickets für kulturelle Einrichtungen. Das 2024 eingeführte „Weingartener Gutscheinkärtle“ fördert den Einkauf im lokalen Einzelhandel und ermöglicht es, im Vergleich zu den früheren Print-Geschenkgutscheinen auch Teilbeträge einzulösen. Attraktiv für Innenstadtbesucher ist auch das kostenfreie Parken am Samstag. Kurzum: Das Zusammenspiel von Kultur, Natur und Barock sowie inhabergeführte Geschäfte und ein starkes Vereinsleben sollte weiter verstärkt werden.
Interview: Bernhard Nattermann, Gudrun Hölz