Handel und Tourismus – eine Win-win Situation

Martin Reinschmidt liebt Zahlen. Anhand seines CRM-Systems – die Abkürzung steht für Customer Relationship Management – kann er ziemlich genau sehen, woher seine Kunden kommen, was sie wann kaufen und wie viel sie dafür ausgeben.
Die Daten stammen von den 15.000 aktiven Partnercard- Nutzern, die das Modehaus Reischmann in Ulm, dessen Geschäftsleiter Reinschmidt seit 2016 ist, zu seinen Stammkunden zählt. „Rund 80 Prozent unseres Gesamtumsatzes erzielen wir mit Partnercard-Kunden“, sagt der Modemanager. Das allein ist eine stolze Zahl. Doch Reinschmidt kann auch genau sehen, welche Wege seine Kunden für den Besuch bei Reischmann auf sich nehmen. Und das ist eine weitere stolze Zahl: Denn knapp jeder Vierte nimmt dafür eine mindestens 45-minütige Autofahrt in Kauf – etwa aus Heidenheim, Memmingen oder Bad Waldsee. Allein in Augsburg zähle man 100 Stammkunden, sagt Reinschmidt, 30 in München und 65 in der Schweiz. Die weitgereisten Kunden kommen „im Schnitt zweimal im Jahr zu uns“, so der Geschäftsleiter, „und kaufen dann 20 Prozent mehr als der Durchschnitt“. Sie sind für ihn „typische Tagestouristen“, denn „sie bummeln auch durch weitere Läden, trinken einen Kaffee oder gönnen sich einen Restaurantbesuch“. „Wir haben Stammkunden, die regelmäßig im Allgäu Urlaub machen und dann für einen Tag zu uns kommen“, sagt Reinschmidt, „oder andere, die abends ins Theater gehen und vorher zum Einkaufen.“
Die Rolle des exklusiven Modehauses im Zusammenspiel von Handel und Tourismus sieht der Geschäftsleiter durchaus selbstbewusst: „Ich glaube schon, dass wir mit unserem Angebot und unserem Service Tagestouristen anziehen, die hauptsächlich wegen uns nach Ulm kommen.“ Das wisse er auch persönlich von Kunden. Die Gäste von weiter her suchten vor allem Dinge, die sie zu Hause nicht bekämen, etwa für besondere Anlässe, oder besondere Marken.

Dezember erfolgreicher durch Weihnachtsmarkt

Dass Reischmann umgekehrt auch von touristischen Besuchern profitiert, zeigt sich etwa im Dezember. Der werde als Verkaufsmonat „immer erfolgreicher“ – was Reinschmidt vor allem auf den florierenden Weihnachtsmarkt zurückführt. Auch die geplante Weiterentwicklung der Innenstadt zahle darauf ein: „Aufenthaltsqualität, Sauberkeit, Erreichbarkeit, das sind wichtige Themen auch für uns.“
Kurzum: „Ein Geschäft allein hat nicht die Strahlkraft, einen Gast zu bewegen“, ist Reinschmidt überzeugt. Deshalb müsse der Handelsmix stimmen. Andere Modehäuser sieht der Manager daher nicht als Konkurrenz, sondern als Teil eines breiten Handelsmixes. Und wenn in dieser „schlagkräftigen Einheit“ die Gastronomie künftig eine noch stärkere Rolle spielen werde, wie es Experten prognostizieren, sei dies absolut positiv zu bewerten. Denn ein Teil der Kunden shoppe mittlerweile eh von zu Hause aus. Und wer in die Stadt komme, der suche ein Freizeiterlebnis, zu dem auch Gastronomie, Kultur und Events gehörten.
Derlei Erlebnisse will das Modehaus Reischmann seinen Kundinnen und Kunden auch selbst bieten. Dazu gehören etwa Beauty Days, Modeschauen, eine Winterwundernacht oder Weihnachtsaktionen mit Live Musik am Flügel. Und für die besten Kunden gibt es auch schon mal ein Austern-Essen oder einen edlen Lunch vom Ulmer Sternerestaurant.

Center Parcs Park Allgäu rettet Spielwarengeschäft in Leutkirch

Jemand, der eindrucksvoll erlebt hat, wie der Tourismus den Handel befruchten kann, ist Burkhard Zorn. In mittlerweile fünfter Generation betreibt der 62-Jährige sein gleichnamiges, 178 Jahre altes Spielwarengeschäft in Leutkirch und hatte schon schwere Jahre hinter sich. Doch das änderte sich schlagartig, als im Herbst 2018 unweit der Stadt der Center Parcs Park Allgäu eröffnete. „Der Ferienpark hat uns ein Stück weit gerettet“, ist Zorn heute überzeugt. Seither habe man – „Corona einmal außen vor gelassen“ – den Umsatz um 50 Prozent gesteigert, ein Drittel komme heute von Feriengästen. „Das sind 1.000 Unterkünfte im Center Parcs Park Allgäu, belegt mit jeweils zwei bis vier Gästen“, sagt Zorn. „Da kann man sich ausrechnen, wie viele Menschen zusätzlich in der Stadt sind.“ Um den Urlaubern den Weg in die sechs Kilometer entfernte Innenstadt des 24.000-Einwohner-Örtchens so leicht wie möglich zu machen, wurden eigens zwei Fahrradwege angelegt. Im vergangenen Sommer hatte man zudem eine Touristen-Bimmelbahn organisiert – „ein bisschen wie im Disneyland“, sagt Zorn. Die könnte, sofern der Gemeinderat zustimmt, ab Ostern wieder fahren.
Der Ferienpark Center Parcs Park Allgäu hat uns ein Stück weit gerettet.
- Burkhard Zorn
Zorns neue Kunden kommen mal aus der Schweiz, aber auch aus den Niederlanden oder aus Ostdeutschland. Vor allem die Schweizer seien „extrem ausgabefreudig“. Die typische Situation: „Die Kinder kriegen 30 Euro Urlaubsgeld von der Oma, die sie dann bei uns verklopfen.“ Doch – „damit hatten wir gar nicht gerechnet“ – auch manch großes Weihnachtsgeschenk wird bei Zorn gekauft. Die neue Zielgruppe wirkt sich auch aufs Sortiment aus. Hier finden sich nun Kinderregenschirme und mützen, Ohrenschützer und Kuhglocken – klassische Mitnahmeartikel eben. Gesellschaftsspiele seien vermehrt gefragt, sagt Zorn. Und wegen des Center-Parcs-Spaßbades führe man jetzt ganzjährig Taucherbrillen und Schwimmflügel.
Allerdings ist auch für Zorn klar, dass, nur weil er Spielwaren verkauft und im Center Parcs Park Allgäu viele Familien mit Kindern urlauben, dies längst keine Garantie für gute Geschäfte ist: „Ein Spielzeugladen allein bringt nichts, das ganze Umfeld muss stimmen.“ Erst kürzlich habe die Stadt Leutkirch für sein Quartier ein Gutachten erstellt: Die bisherige Einbahnstraße soll zur Fußgängerzone werden. Geplant sind Bäume, Sitzgelegenheiten und mehr Gastronomie.
Zorn ist zwiegespalten: Eine höhere Aufenthaltsqualität bringe natürlich mehr Urlauber, die benachbarten „Frequenzbringer“ dagegen, Metzgerei und Apotheke, bräuchten die Straße und die Parkplätze. „Wenn die einknicken, dann wird es auch für mich eng“, befürchtet er. Man ahnt: Die Innenstadt ist ein sensibles Gefüge.
Blaubeuren ohne Blautopf mag ich mir als Händler gar nicht vorstellen.
- Martin Gaiser

Touristische Anzugspunkte sind für viele Händler essenziell

Das weiß auch Martin Gaiser in Blaubeuren. Der 59-Jährige betreibt hier seit 2013 die Buchhandlung Bücherpunkt und macht sich gerade etwas Sorgen um die Großbaustelle am Blautopf – Blaubeurens Besuchermagnet. Seit Herbst 2024 wird das Areal rund um die imposante Karstquelle der Blau, die im Jahr mehr als 300.000 Besucher anzieht, grundlegend saniert. Auch wenn längst nicht jeder Blautopf- Besucher in die Innenstadt kommt, kann Gaiser die Auswirkungen der bis 2028 geplanten Großbaustelle nicht wirklich abschätzen. Für den Buchhändler ist indes klar: „Blaubeuren ohne Blautopf mag ich mir als Händler gar nicht vorstellen.“ Denn Urlaubsgäste sorgten „für ein Viertel bis ein Drittel“ seines Geschäfts. Und ohne die bekannte Attraktion würden sich nicht nur Tages-, sondern auch einige Übernachtungsgäste, etwa Wanderer oder Mountainbiker, „vielleicht ein anderes Revier suchen“, denkt er. „Dass der Blautopf trotz Sanierung offen ist, ist für uns daher eine gute Nachricht.“ Deshalb erzählt er dies auch jedem und schreibt es auf seine Website.
Auch Gaiser hat sein Sortiment an die wichtige Zielgruppe angepasst: Blautopf-Kühlschrankmagnete, Teetassen, Müslischalen oder Regenschirme mit Äffle-und-Pferdle-Motiv, hübsch verpackter Tee, klassische regionale Souvenirs eben. Über die Jahre ist das sogenannte Non- Book-Sortiment im Bücherpunkt stetig gewachsen. „Ohne das kommt heute kaum noch jemand aus“, sagt Gaiser. Vorsichtig versucht er immer wieder Neues zu etablieren. Ein Wein mit dem Label „Kein Wein den Faschisten“ etwa – sein politisches Statement – läuft „gar nicht schlecht“. Gerade erst kam eine „Kaffeeröstung gegen Rechts“ hinzu.
Wertvoll für Gaiser sind vor allem die Übernachtungsgäste in den Hotels, Ferienwohnungen oder auf dem nahen Camper-Stellplatz. Eine typische Situation schildert er so: „Vierköpfige Familie, Dauerregen draußen, Fluchtort Buchhandlung.“ Nachdem sich dann alle „trockengeschüttelt“ hätten, finde dort meist jeder etwas, einen Krimi, einen Rätselblock oder ein Kartenspiel.

Tourist kauft das ganze Schaufenster leer

Weniger alltägliche Situationen gibt es auch: Einmal habe ein Urlauber das komplette Schaufenster leergekauft, berichtet Gaiser. Er hatte dort sämtliche Bücher der aktuellen Krimi- Bestenliste ausgestellt. Der Gast ließ sich diese komplett einpacken, mit der Bemerkung: „Die lese ich jetzt alle.“ In solchen Momenten dürfe man sich kurz freuen, aber „nicht erwarten, dass dies nächsten Monat nochmal passiert“. Denn der Kunde, vor allem wenn er Tourist sei, bleibe „das unbekannte Wesen“. Profitieren konnte Gaiser auch vom Kulturfestival „Sommerbühne am Blautopf“. Vergangenes Jahr hatte er dort einen passenden Büchertisch zur Krimi-Lesung.
Um Urlauber, die abends oder am Wochenende durch den Ort bummeln, noch besser zu erreichen, denkt der Unternehmer aktuell über einen Automaten nach – „wie am Bahnhof“. Nur dass es hier statt Wasser und Schokoriegel aktuelle Bestseller und Souvenirs geben soll. „Ich kenne niemanden, der so etwas hat“, sagt Gaiser. Und falls es mit Büchern nicht funktioniere, könne er immer noch „regionale Wurst rein tun oder die Fächer an andere Händler vermieten“. Ein Experiment, gibt er zu. Doch wer von den Urlaubern profitieren wolle, „muss auch mal etwas wagen“.

Friedrichshafen legt Tourismus- und Stadtmarketing zusammen

Dass Handel und Tourismus zusammengehören, spüren nicht nur die Händler in ihrem Alltagsgeschäft. Auch in den Städten und Kommunen hat man die Synergien erkannt. In Friedrichshafen etwa kümmert sich bislang die ausgegliederte Stadtmarketing GmbH um Handel und Tagestourismus; die Tourist-Information als Stabsstelle der Stadt ist für die Übernachtungsgäste zuständig. „Diese Trennung macht keinen Sinn mehr“, sagt Stadtmarketing- Chef Thomas Goldschmidt. „Wer woanders übernachtet, ist trotzdem Tourist bei uns. Und wer hier übernachtet, ist genauso potenzieller Einzelhandelskunde wie Besucher aus dem Umland.“ Deshalb sollen die beiden Bereiche nicht nur kooperieren, sondern auch organisatorisch zusammengelegt werden, um künftig „Marketing aus einem Guss“ zu machen.
Wer in Friedrichshafen übernachtet, ist genauso potenzieller Einzelhandelskunde wie Besucher aus dem Umland.
- Thomas Goldschmidt
So empfiehlt es auch das in Auftrag gegebene Tourismuskonzept 2030, das die Stadt jüngst veröffentlicht hat. Einer der vier Eckpfeiler neben Bodensee oder Kultur lautet: „Einkaufen, Gastronomie, Bummeln“. Eine attraktive Innenstadt wird somit zum zentralen Element eines attraktiven Tourismusstandortes. Und umgekehrt: „Wir zählen gut 900.000 Übernachtungen im Jahr und vier Millionen Tagesgäste“, sagt Goldschmidt. „Damit sind auch entsprechende Umsätze im Handel verbunden.“ Profitieren könnten davon fast alle Branchen, glaubt der Stadtförderer, ob Textilien, Schuhe, Schmuck, Märkte oder Direktvermarkter. Schweizer Gäste, die in den Geschäften für sieben bis neun Prozent des Umsatzes sorgten, beflügelten vor allem das höherpreisige Segment.
Die Bedeutung der Messe und der Museen sei dabei nicht zu unterschätzen. „Das Zeppelin Museum, inmitten der Innenstadt, ist mit über 200.000 Gästen pro Jahr eines der bestbesuchten Museen Baden Württembergs“, so Goldschmidt. Und auch der Fährhafen direkt in der City trage zur Verbindung von Handel und Tourismus bei.

Saisonverlängerung soll Handel und Tourismus stärken

Um diese Verbindung weiter zu stärken, arbeitet man am Bodensee unter anderem an der Saisonverlängerung. So sollen gleichmäßigere Besucherzahlen übers Jahr erreicht werden. „Im Januar zählt die Innenstadt bislang 35 Prozent weniger Besucher als im August“, sagt Goldschmidt. „Das ist für viele Händler eine Durststrecke.“ Die Saisonausweitung klappe immer besser. Im Dezember beispielsweise sorge dafür der Weihnachtsmarkt.

Neues wagen – zum Beispiel mit Pop-up-Gastronomie

Auch er glaubt, dass die Innenstädte künftig stärker von Gastronomie und Kultur getrieben sein werden. Um hier mehr bieten zu können, startet Friedrichshafen im kommenden Sommer verschiedene Pop-up Gastronomien. Sie sollen an bis zu fünf Standorten in der City die kulinarische Vielfalt bereichern. „Das ist einmalig in der Region“, ist Goldschmidt überzeugt.
Insgesamt sei die Handelswelt in Friedrichshafen aber noch gut aufgestellt, glaubt der Stadtförderer. Die Leerstandsquote liege nach wie vor unter 5 Prozent, freiwerdende Flächen seien meist schnell wieder belegt. Zwar nicht von Filialisten, dafür aber oft „von innovativen Unternehmern, die etwas Neues wagen“. Und diese wolle man nach Kräften unterstützen – nicht zuletzt durch eine engere Verzahnung mit dem Tourismus.
Jürgen Baltes lebt und arbeitet als freier Journalist in Überlingen